Tja, wahrscheinlich wäre es besser gewesen mit Lupus weiter über die Welt und das eigene Schicksal zu philosophieren und vielleicht hätte Prisca ihren Cousin auf diesem Weg eher dazu gebracht, ihr einen Wunsch zu erfüllen ohne darum betteln zu müssen. Aber nein! Stattdessen musste ich die verführerische Göttin mimen, die mit ihren Reizen lockt und denkt 'schupps', damit habe ich ihn in meine Falle gelockt und er frisst mir aus der Hand… Was hab ich mir eigentlich dabei gedacht?!, schalt sich Prisca für ihre eigene Dummheit. Offensichtlich nicht viel! Wenn sie ehrlich war, wäre dieser Weg auf alle Fälle tabu, egal wie Lupus auf ihre Verführungskünste reagiert hätte. Unabhängig davon war dies natürlich nur ein Spiel, nicht mehr und nicht weniger. Eines, wie sie es bereits im Stadium gespielt hatten, nur, wer hatte eigentlich die Regeln festgelegt? ...
Zumindest schien es kein Verbot zu geben die eigenen Cousine zu küssen und genau das hatte Prisca nicht erwartet, obwohl sie es augenscheinlich provoziert hatte. Und als Quittung bekam Prisca nun zu spüren was es hieß, den Wolf zu reizen. Seinen Griff um ihr Handgelenk hatte die Aurelia noch gelassen gesehen, sozusagen als versuchte Abwehr einer Ohrfeige. Als Lupus sie jedoch nicht mehr los ließ, sondern plötzlich im Nacken packte und er sie stürmisch gegen die nächstbeste Hauswand presste, bekam es Prisca doch etwas mit der Angst zu tun. Nicht wegen Lupus und das er ihr absichtlich weh tun könnte, sondern vielmehr wegen der Erkenntnis, dass er es eventuell ungewollt täte, weil sie definitiv zu weit gegangen war. Was sollte sie jetzt tun? Mich wehren, ihn wegstoßen? Viel hätte sie ihrem Cousin sicher nicht entgegensetzen können, allerdings versuchte es Prisca auch gar nicht erst. Ihr ganzer Körper bebte zwar und ihre Hände waren zu Fäusten geballt, doch das definitive "Nein!" ging völlig unter, in einem erstickten Seufzer den Lupus ihr, zusammen mit ihrem Atem raubte.
Ein wenig Praxis im küssen hatte Prisca ja nun schon gesammelt: Angefangen bei der Reihe gebräuchlicher "Alltags-Küsse", wie dem Handkuss, dem Begrüßungsbussi, dem Gute-Nacht-Kuss, Den Kuss als Trostpflaster, -als Dankeschön, -als Ausdruck familiärer Zuneigung usw. ..… bis hin zu den emotional gesteigerten Küssen, die Ausdruck der Sinnlichkeit, Liebe, Leidenschaft und Lust waren. Wo genau wäre also jener Kuss, den Lupus ihr gab, am besten einzuordnen? Zweifellos versprühte die Berührung seiner Lippen und die Nähe seines Körpers ein gewisses Verlangen, sich dem hinzugeben, wonach es ihnen beiden gelüsten mochte. Oder war dieser Kuss am Ende nur gestellt und völlig bedeutungslos, weil er das Ergebnis eines Schauspiels war - und verboten obendrein.
Prisca konnte es am Ende nicht einmal mit Gewissheit sagen, warum sie es hatte geschehen lassen und welche Gefühle und Gedanken sie in dem Moment für ihren Cousin hegte, als sich ihre Lippen wieder trennten und er den Griff etwas lockerte. Sollte sie ihn nun fort stoßen, ihn anbrüllen oder das Spiel weiter auf die Spitze treiben und riskieren, dass eine Dummheit geschähe? Die Aurelia tat nichts dergleichen, sie starrte ihren Cousin lediglich aus großen Augen an, während sie schwer atmend zwischen ihm und der Hauswand verharrte. Ich könnte mich wenigstens darüber ärgern, dass mein Onkel ausgerechnet diesen Kuss nicht bekommen hat, überlegte Prisca resignierend, was zweifellos für sie aber besonders für Lupus ein übles Nachspiel gegebenen hätte. Am besten wäre es, froh zu sein, dass nicht mehr passiert war!
Prisca stieß einen ergebenen Seufzer aus, denn sie wusste einfach nicht mehr weiter. Alles erschien ihr ausweglos, ihr Cousin war der einzige Hoffnungsschimmer und mit seinem Kuss hatte er ihr nun nicht nur den Atem, sondern auch noch den letzten klaren Gedanken für heute geraubt. Es war einfach zu viel war an diesem einen Abend passiert, als das sie wirklich überzeugend hätte die Göttin weiter spielen können. So schwer es auch fiel sich das einzugestehen: Sie war die Verliererin. Zum Zeichen ihrer Niederlage ließ Prisca deshalb müde die Arme sinken, ihre Hände legten sich auf seine Brust und mit sanftem Druck versuchte sie Lupus von sich fort zu schieben. "Wenn du selbst sagst, dass die Götter derlei Wünsche den Sterblichen nicht gewähren, wie könnte ich sie dir dann jemals erfüllen … ?", erwiderte Prisca verbittert und resigniert klingend zugleich. Bewusst vermied sie es ihm in die Augen zu sehen, denn sie wollte nicht sehen wie er triumphieren würde über den Sieg, den zweifellos über sie errungen hatte. "Wenn es etwas gibt, dass dich bewegen mag mir und Piso zu helfen so sag es mir einfach … jetzt! … Oder bring mich einfach nur sicher nach Hause" und tu, was immer du tun musst!" Nein, nicht einmal jetzt konnte Prisca ihren Cousin wirklich um Hilfe "bitten", sie wollte nur definitiv Klarheit, woran sie bei ihm wäre ...