Am nächsten Tag fanden sich wieder alle pünktlich ein, wie Ursus erfreut feststellte. Dann war sein Vortrag hoffentlich nicht zu schlecht gewesen. Oder sie waren auf den Abschluß angewiesen, das konnte natürlich auch sein. Aber er wollte dann doch lieber die erste Möglichkeit annehmen.
"Salvete", grüßte er die Anwesenden in freundlichem Ton. "Heute folgt nun der zweite Teil des Vortrages. Ich hoffe, ihr seid alle gut ausgeruht und bereit für eine weitere Vielzahl von Jahreszahlen und Namen." Er lächelte. Bei einem reinen Überblick, wie er ihn bot, war es eben normal, daß es vor Jahreszahlen und Namen nur so strotzte.
"Herrschaftsübernahme
An Tiberius als Nachfolger von Augustus schien es nicht den geringsten Zweifel zu geben. Er übernahm noch im August 14 den Prinzipat. Die Consuln zögerten nicht, ihm den Gefolgschaftseid zu leisten und ebenso der praefectus praetorio L. Seius Strabo. Die Ermordung des Agrippa Postumus, die kurz nach der Regierungsübernahme des Tiberius erfolgte, führte zu Spekulationen, Tiberius hätte dahinter gesteckt, was jedoch kaum als sicher angesehen werden kann. Die Provinzen leisteten den Huldigungseid auf Tiberius. Trotzdem brach eine Meuterei der Legionen in Pannonien und Untergermanien aus. Tiberius blieb dennoch in Rom, er schickte seine Söhne Drusus und Germanicus, um diese Probleme zu lösen.
Tiberius widmete sich derweil den Regierungsgeschäften. Er beachtete dabei streng die Normen der Nobilitätsherrschaft und bezeichnete sich selbst als Diener des Senates und der Gesamtbürgerschaft. Er war konservativ und bemühte sich darum, den von Augustus vorgezeichneten Weg einzuhalten. Sein Hauptaugenmerk lag darauf, die Finanzen im Rahmen zu halten, was ihm den Ruf übertriebener Sparsamkeit einbrachte. Gute Statthalter behielt er lange in den Provinzen. Außenpolitisch versuchte er, das Reich so zu erhalten, wie es war. Es weiter auszudehnen, lag nicht in seiner Absicht. Auch Germanicus, der in den Jahren 15 und 16 verlustreiche Feldzüge in Germanien durchführte – und dies ohne endgültige Erfolge verbuchen zu können, wurde schließlich von Tiberius zurückgerufen. Er gewährte ihm zwar einen Triumph, schickte ihn dann aber im Jahr 17 in den Osten, um dort die Verhältnisse zu ordnen und Kappadokien als Provinz dem Reich anzugliedern. Im Jahr 18 war Tiberius Consul, gemeinsam mit Germanicus.
Als dieser im Jahr 19 infolge einer Krankheit in Syrien starb, nachdem er ohne Erlaubnis des Kaisers Ägypten bereist hatte, wurde dem Statthalter von Syrien, Cnaeus Calpurnius Piso, aufgrund der schweren Anschuldigungen, ihn vergiftet zu haben, die Germanicus noch auf dem Sterbebett gegen ihn erhoben hatte, der Prozess gemacht. Dieser entzog sich dem Urteil durch Selbstmord, um seine Familie zu schützen. Die Unparteilichkeit des Tiberius während des Prozesses gegen Piso wurde besonders hervorgehoben.
Im Jahr 21 war Tiberius Consul, gemeinsam mit seinem Sohn Drusus. Tiberius zog sich, mit der Begründung seine Gesundheit festigen zu müssen, nach Campanien zurück, wodurch sein Sohn Drusus praktisch allein das Consulat ausführte. Von Campanien aus traf Tiberius die Maßnahmen zur Niederschlagung eines Aufstandes in Gallien, der in Rom große Wellen geschlagen hatte.
Aufstieg und Fall des Seianus
Lucius Aelius Seianus, Sohn des Lucius Seius Strabo, adoptiert von Lucius Aelius Gallus, war zunächst Praetorianerpraefekt neben seinem Vater Strabo. Als dieser jedoch zum Preafectus Aegypti ernannt wurde, blieb Seianus allein auf dem Posten des Praetorianerpraefekten. Er schaffte es, immer größeren Einfluß auf Tiberius zu gewinnen und unterhielt, natürlich ohne Wissen des Kaisers, eine ehebrecherische Beziehung zu Livia (auch Livilla genannt), der Ehefrau des Drusus. Im Jahr 23 starb Drusus, der Sohn des Tiberius, infolge eines Giftanschlages. Dieser war von Seianus angestiftet und von Livilla ausgeführt worden, was natürlich erst viel später bekannt wurde. Tiberius versagte es dem Seianus im Jahr 25, Livilla zu ehelichen.
Tiberius verließ Rom im Jahr 26, wohl auf Betreiben des Seianus hin, und ging über Spelunca und Tarracina nach Capri, das er im Jahr 27 erreichte. Auf dem Weg gerieten sie während einer Rast in einen Steinschlag, wo Tiberius von Seianus vor herabstürzendem Gestein beschützt wurde, was sein großes Vertrauen in diesen Mann mit erklären mag. Tiberius blieb auf Capri. Auch als 28 Livia starb, verließ er es nicht. In Rom baute Seianus derweil seine Macht immer weiter aus und wandte sich vor allem gegen die Familie des Germanicus, Agrippina und ihre Söhne Nero und Drusus, die verbannt oder inhaftiert wurden.
Wohl plante Seianus auch eine Verschwörung, um selbst zum Prinzipat zu gelangen, doch Tiberius erfuhr davon. Auf welchem Wege, ist nicht vollständig bekannt, doch wird vermutet, dass Antonia, die Witwe von Tiberius’ Bruder Drusus, ihm davon berichtete. Tiberius ernannte daraufhin Naevius Sertorius Macro zum Praetorianerpraefecten und verfasste eine Anklage gegen Seianus, die er an den Senat sandte. Seianus wurde verhaftet und vom Senat zum Tode verurteilt. Noch am gleichen Tag wurde er hingerichtet. Das gleiche Schicksal erlitten seine Kinder. Seine Ehefrau, von der er sich schon Jahre vorher getrennt hatte, wurde verschont. Sie berichtete Tiberius in einem Brief von dem Giftmord des Seianus und der Livia (Livilla) an Drusus und nahm sich selbst daraufhin das Leben. Viele Vertraute des Seianus verloren kurz darauf noch ihr Leben, unter ihnen auch Livia (Livilla). Dies geschah im Jahr 31 n. Chr.
Die letzten Jahre und Tod des Tiberius
Tiberius betrat Rom nicht mehr. Doch half er mit großzügigen Mitteln bei einer Wirtschaftskrise im Jahr 33 und bei einer schweren Feuersbrunst im Jahre 36. Im Jahr 35 griff er energisch in Thronstreitigkeiten im Partherkrieg ein. Er machte Tiridates II. zum König von Armenien und setzte Lucius Vitellius als Statthalter in Syrien ein. Dieser zwang den Partherkönig Artabanos zur Anerkennung dieser Maßnahme. Dies war aber nicht von langer Dauer, denn Artabanos verbündete sich mit den Skyten und trieb seinen Rivalen ohne große Mühe wieder aus dem Land.
Im Jahr 37 begab sich Tiberius wieder in die Nähe Roms, betrat die Stadt aber nicht. Auf der Rückreise kam er nur bis zum Kap Misenum, wo er, bereits sehr krank, starb. Trotz seiner Krankheit gab es Spekulationen, ob seinem Tod nicht etwas nachgeholfen wurde, zumal sein Nachfolger Gaius Iulius Caesar Germanicus (Caligula) anwesend war. Doch bewiesen werden konnte dies nicht.
Der Leichnam des Tiberius wurde in Rom auf dem Marsfeld verbrannt und die Asche im Mausoleum Augusti beigesetzt.
Allgemeines zur Person des Tiberius
Die Quellen sprechen sich unterschiedlich über Tiberius aus. Sicher scheint zu sein, dass es sich um einen ausgesprochen verschlossenen, am Ende seines Lebens sogar menschenscheuen Mann gehandelt hat, der seine Gefühle und Absichten niemals zu erkennen gab. Dem Augustus gegenüber war er treu und gehorsam, er gab dem Reich Stabilität durch gezielte militärische Maßnahmen und durch sparsamen Umgang mit den Staatsfinanzen. Doch es wird auch berichtet über eine Vielzahl von Prozessen, die aufgrund unbewiesener Anschuldigungen geführt wurden. Sogar von hohen Belohnungen für Ankläger wird berichtet. Selbst die Nachkommen der Angeklagten wurden demnach in vielen Fällen nicht verschont, sondern auf grausame Weise ums Leben gebracht. Vor allem für die letzten Jahre seines Lebens wird von Tyrannei, Ausschweifungen, Grausamkeiten und Schändlichkeiten berichtet. Inwieweit diese Anschuldigungen zutreffend sind, beziehungsweise jene Prozesse tatsächlich auf Tiberius zurückzuführen sind, ist allerdings ungewiß.
Es ist bekannt, daß er kein Vergnügen an Schauspielen oder gar Gladiatorenspielen hatte, besuchte sie nur ausgesprochen selten und veranstaltete selbst keine. Er war nichtrömischen Religionen gegenüber tolerant, wenn sie sich in erträglichen Grenzen hielten und nicht zu öffentlichen Skandalen führten. Zweifelsohne war er ein hervorragender Feldherr. Einige Quellen sprechen davon, dass er den Prinzipat nicht angestrebt hat, andere, dass er dies nur vorgetäuscht habe.
Die Persönlichkeit Tiberius bleibt somit für die Nachwelt im Dunkeln, da kaum festgestellt werden kann, welche der Beurteilungen übertriebener Bewunderung oder übler Nachrede zuzuschreiben sind. Doch immerhin regierte er Rom dreiundzwanzig Jahre lang und ist dabei sicherlich erfolgreich zu nennen." Damit endete der heutige Vortrag. Wieder griff Ursus als erstes nach dem Wasserglas, um seine Kehle anzufeuchten. Und auch, damit sich bei den Zuhörerern das Gehörte erst einmal setzen konnte.
Sim-Off:Quellen:
Der kleine Pauly, Lexikon der Antike; Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München; März 1979
Publius Cornelius Tacitus; Sämtliche erhaltene Werke; Unter Zugrundelegung der Übertragung von Wilhem Bötticher neu bearbeitet von Andreas Schäfer; Magnus Verlag, Essen 2006
Cassius Dio; Römische Geschichte Band IV (Bücher 51 – 60), übersetzt von Otto Veh; 2007 Patmos Verlag GmbH & Co. KG Artemis und Winkler Verlag, Düsseldorf
C. Suetionius Tranquilius; Sämtliche erhaltene Werke; Unter Zugrundelegung der Übertragung von Adolf Stahr, neu bearbeitet von Franz Schön und Gerhard Waldherr; Magnus Verlag 2004
Ingemar König; Kleine römische Geschichte; 2001, 2004 Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart
Geschichte 9/07; Roms Kaiser von Tiberius bis Nero; Johann Michael Sailer Verlag GmbH & Co. KG, Nürnberg