Ich möchte ihn besser kennenlernen war kein wir sollten ihn besser kennenlernen. Von daher verstand Ursus das keinesfalls als Aufforderung, an dem Abendessen teilzunehmen. Dies war nicht mal eine kindische Aufmüpfigkeit, sondern er fühlte sich tatsächlich schlicht nicht angesprochen. Dennoch überlegte er, ob er die Teilnahme einrichten könnte. Allein, um seine Neugierde auf diesen Vielleicht-Vetter zu stillen.
"Ich bin sehr gespannt, wie Du ihn prüfen willst, Marcus." Ursus konnte sich nicht vorstellen, wie das vonstatten gehen sollte. Was konnte dieser Vetter denn schon über die Familie wissen? Im Grunde gar nichts. Und über seinen Vater? Vielleicht kannte er ihn ganz anders, als Corvinus ihn gekannt hatte. "Wie gut hat er seinen Vater gekannt? Warum hat der die Existenz seines Sohnes geheim gehalten? Hat er ihn am Ende gar nicht anerkannt?" Das war kein leichtes Problem, wahrhaftig nicht.
Ja, Ursus merkte, wie unangenehm Corvinus das Thema war. Das konnte er sogar verstehen. Aber er konnte nicht verstehen, wie jemand, der derartig auf Verantwortungsgefühl und Reife pochte, nun nicht den Mumm fand, seine Entscheidung bei den betreffenden Personen vorzutragen und zu verteidigen. "Findest Du nicht, daß Du besser nicht noch einen Tag verstreichen lassen solltest? Mal abgesehen von Deinen Gefühlen, geht es bei einer Verlobung und deren Auflösung ja noch um ein bißchen mehr." Um die Familie beispielsweise. Um beide Familien. Die bisher ein gutes Verhältnis zueinander hatten. "Mach es nicht noch schlimmer, Marcus."
Die nächste Äußerung allerdings war so unfaßbar, daß die bisher halbwegs unbewegte Miene von Ursus sich in offene Überraschung wandelte. "Ich soll was? Wie das auf einmal?" Das rutschte ihm schneller raus, als er es hätte zurückhalten können.
"Und wie stellst Du Dir das vor, Marcus? Unter die Hellseher bin ich noch nicht gegangen. Erst läßt Du Dir nicht im Geringsten in die Karten gucken und dann soll ich auf einmal die Geschäfte übernehmen, von denen ich nicht den blassesten Schimmer habe? Wenn es auch nur für ein paar Tage ist?"
Er schluckte und atmete tief durch. "Es ist nicht so, daß ich mich über einen derartigen Vertrauensbeweis nicht freuen würde. Und auch nicht so, daß ich es nicht tun möchte und werde. Aber ein Wurf ins kalte Wasser ist da nichts gegen, das sollte Dir klar sein. Warum tust Du so etwas, Marcus? Warum?" Gerade jetzt, wo er voll mit der Amtsübernahme beschäftigt war, sollte er sich also auch in die Familiengeschäfte einarbeiten? Falls Corvinus das überhaupt zulassen würde. Und wenn es doch seine Absicht war, daß Ursus versagte?
"Wirst Du mir wenigstens vorher die entsprechenden Unterlagen zur Verfügung stellen, damit ich mich einarbeiten kann, bevor niemand zum Fragen mehr da ist? Wenigstens das?" Wann sollte er eigentlich noch schlafen? "Wirst Du es mir erklären, Corvinus, oder wirst Du mich weiterhin hängen lassen?" Es war der ungüngstigste Zeitpunkt überhaupt. Monatelang hatte sich Ursus vor Langeweile die Fingernägel abgekaut und nun kam alles auf einmal!