Ursus hörte sich ruhig an, was Corvinus da alles sagte. Auch wenn der wieder mal um den heißen Brei herumredete und von Dingen sprach, die mit dem bisherigen Gespräch kaum etwas zu tun hatten, hörte er dennoch aufmerksam zu und ließ sich dabei nicht anmerken, was er dachte.
Er unterdrückte seinen ersten Impuls, unterdrückte die vorschnelle Antwort, die ihm schon auf den Lippen gelegen hatte. Statt dessen erinnerte er sich an die vielen Lektionen, die er in Griechenland gelernt hatte und wandte sie nun gezielt an, damit Corvinus endlich zuhörte. Vielleicht ging es bei diesem Ignoranten einfach nicht anders, - wenn es denn überhaupt funktionierte.
Vor allem aber wechselte er die Sprache. Als er – nach einer ganzen Weile des Schweigens, während der er über das von Corvinus gesagte nachgedacht hatte – schließlich zu sprechen begann, waren es griechische Worte, langsam, deutlich und ruhig gesprochen, die Corvinus zu hören bekam.
"Du wirst Dich wundern, warum ich nun griechisch spreche und nicht mehr Latein. Ich tue dies, weil ich zum wiederholten Male den Eindruck habe, dass wir auf Latein offenbar eine zu unterschiedliche Sprache sprechen und uns vielleicht deswegen nicht verstehen. Vielleicht haben unsere Worte eher die gleiche Bedeutung für uns beide, wenn wir uns einer Fremdsprache bedienen." Er blickte sein Gegenüber ernst an, um keine Regung in dessen Miene zu verpassen. "Du hast da sehr schöne Ausführungen von Dir gegeben. Und ich stimme diesen Ausführungen unumwunden zu. Sowohl, was das Lernen angeht, als auch was die Familie angeht. Es entspricht meiner festen Überzeugung. Und dies wahrhaftig nicht erst seit heute."
Er machte eine Pause, denn er wollte, dass Corvinus diese Worte auch wirklich aufnahm und begriff.
"Ja, ich habe noch viel zu lernen. Sehr viel sogar. Und ich möchte lernen, Marcus. Genau das ist es doch, was ich von Dir erbeten habe: Von Dir lernen zu dürfen. Nicht erst heute, sondern schon die ganze Zeit. Ich will lernen. Und ich wiederhole es noch einmal, um sicher zu gehen, dass Du diese Worte hörst, wahrnimmst und aufnimmst. Ich will lernen." Er wechselte zu Latein und sagte es noch einmal. "Ich will lernen, Marcus."
Dann aber wechselte er abermals zur griechischen Sprache. "Ich gehe davon aus, dass Du dies nun zumindest akustisch verstanden hast. Kommen wir also zum nächsten Punkt. Du sagst, wir sind eine Familie. Keine Einwände. Du sagst, wir sollten gemeinsam an einem Strang ziehen. Keine Einwände, ganz im Gegenteil. Doch ich frage Dich: Warum stößt Du meine nach diesem Strang ausgestreckten Hände dann immer wieder weg? Du sagst, wir sollen uns nach bestem Können gegenseitig unterstützen. Keine Einwände, ganz und gar nicht. Doch weder unterstützt Du meinen Willen zu lernen, noch lässt Du zu, dass ich Dich unterstütze, indem ich Dir einen Teil Deiner Arbeit abnehme."
Wieder machte er eine Pause. Es schien eben so, dass Marcus nicht in der Lage war, mehr als eine Frage auf einmal zu erfassen und zu beantworten. Seine Frage danach, ob Corvinus wollte, dass Ursus ging, - vermutlich war sie zu unbequem gewesen und kam zu nahe an die Wahrheit heran, - hatte der ach so wohlwollende, liebende Onkel ja gerade erst mal wieder unter den Tisch fallen lassen. Es war schon erstaunlich, dass überhaupt einmal eine seiner Fragen beantwortet worden war.
"Und nun zu Deinem Wunsch, mein Misstrauen Dir gegenüber abzulegen. - Nichts tue ich lieber als das! - Du sagst, dieses Misstrauen sei unbegründet. Wie schön, dass Du mir das endlich mal auf ordentliche Weise mitteilst. Bei unserem letzten Gespräch, nein, es war kein Gespräch, wahrhaftig nicht. Sagen wir lieber: Zusammentreffen. Bei unserem letzten Zusammentreffen also, gestand ich Dir zu, dass mein Bild von Dir, das ja nicht vollständig sein kann, vielleicht falsch ist. Und ich sagte Dir, dass nur Du allein das beurteilen kannst. Ich bat Dich für den Fall, dass es falsch ist, darüber nachzudenken, ob vielleicht auch Dein Bild von mir auf gleiche Weise unvollständig und dadurch falsch ist. - Du hast es vorgezogen, nochmals zu bekräftigen, für wie unreif Du mich hältst, das Gespräch abzubrechen und davonzulaufen." Eine ungeheuer beeindruckende Demonstration reifen und erwachsenen Verhaltens. Doch das zu sagen, verkniff sich Ursus, da Corvinus sich nur wieder wie ein Geier darauf stürzen würde, statt die wirklich wichtigen Dinge zu hören. "Du hast an jenem Tag nichts gehört als die Vorwürfe, die ich Dir machte. Keine meiner für mich sehr wichtigen Fragen hast Du auch nur wahrgenommen, - wovon ich zumindest ausgehen muss, da Du keine davon beantwortet hast. - Auf dieser Grundlage sollte ich etwas anders tun, als mein Misstrauen Dir gegenüber als begründet zu betrachten?"
Vermutlich würde Corvinus sich auch jetzt nur auf diesen einen Punkt stürzen und alles andere ignorieren. Wie bisher jedes mal. Es war ungeheuer ermüdend, gegen diese sture, von Eigensucht, Selbstbeweihräucherung und Selbstüberschätzung zerfressene Wand anzukämpfen.
Als Ursus nun weitersprach, klang seine Stimme auf ruhige Weise entschlossen. "Gut, vergessen wir diese alten Geschichten. Ich bin bereit dazu, jetzt und hier einen Schlussstrich unter all das zu ziehen. Vergessen wir beide Gespräche. Das von neulich und das von heute, bis zu diesem, jetzigen Punkt." Das war doch wirklich ein faires Angebot, fand Ursus.
Er blickte Corvinus fest in die Augen, er meinte es in diesem Moment ehrlich, wollte tatsächlich versuchen, den Onkel als das zu sehen, als das er sich darstellte. Daher klangen seine Worte auch nicht sarkastisch oder zynisch, sondern eher versöhnlich. "Ich gehe also davon aus, dass Du mein wohlwollender Onkel bist, der mich doch eigentlich nur fördern und unterstützen möchte. Und ich stelle auf dieser Grundlage die Fragen, die mir seit Monaten auf der Seele brennen, einfach noch einmal:
Wirst Du mir die Einarbeitung in die Familiengeschäfte gewähren?
Wirst Du mich an den Aufgaben, die es für die Familie zu erledigen gilt, beteiligen?
Darf ich endlich einen Beitrag für die Familie leisten und mit der Familie an einem Strang ziehen, was von jeher mein Wunsch gewesen ist, und Dich damit entlasten?
Und bist Du ebenfalls bereit, Dein bisheriges Bild von mir zu überdenken?"
Jede einzelne Frage war deutlich betont. Nach jeder machte er eine Pause. Und nun wartete er wieder einen Moment und fügte dann doch noch etwas hinzu, bevor Corvinus antworten konnte.
"Ich bitte Dich um klare und eindeutige Antworten, Marcus. Bitte verzichte auf rhetorisch geschickte Gegenfragen, um den heißen Brei herumreden und allgemeinen Vorträge, so gut und richtig sie auch sein mögen. Sondern gib mir direkte, schlichte Antworten, die von vornherein keine falsche Interpretation zulassen. Einfach, um wenigstens dieses eine mal weitere Missverständnisse zu vermeiden. Ich bitte Dich darum." Es war weiterhin kein Sarkasmus in seiner Stimme, kein Spott, keine Anklage. Dafür tiefer Ernst, der auch aus seinem Blick sprach, mit dem er nun seinerseits Corvinus musterte.
Jetzt blieb nur noch zu hoffen, dass Corvinus ihm auch gut zugehört und ihn wirklich verstanden hatte, und nicht wieder nach Ameisenknochen suchte und sich nur auf die – dieses mal wirklich kaum vorhandenen – Vorwürfe zu stürzen, statt die für Ursus wahrhaft wichtigen Fragen zu beantworten. - Und dass er nicht wieder begann, ausschweifend über irgendwelches Zeug zu dozieren, das eh schon klar war.