Beiträge von Paullus Aurelius Pegasus

    Uh... da hatte Pegasus doch tatsächlich die falsche Seite der Münze gewählt. Narcissa und Flora sahen sich allerdings auch furchtbar ähnlich, vor allem, wenn man die bisherige Zeit in der villa nicht unbedingt damit verbracht hatte, sich jede Einzelheit der eigenen Verwandten einzuprägen. Zugeben, das war nicht wirklich rühmlich, allerdings auch nicht mehr zu ändern. Eines seiner zukünftigen Vorhaben war es nun, verstärkt auf eben solche Dinge zu achten. Wie er das Problem mit Flora und Narcissa lösen konnte – schließlich wusste er ja während dem Beobachten trotzdem nicht, wen von beiden er vor sich hatte - … da musste er wohl tatsächlich einfach dem kleinen Lucius vertrauen, auch wenn das ein leichtes Unbehagen in ihm auslöste. Der Blick des Aureliers löste sich von ihren Augen und wanderte hinab zu der goldenen Kette an Floras Handgelenk. Was es damit genau auf sich hatte, vermochte er in diesem Moment nicht zu sagen, da er nichts ungewöhnliches an ihr erkennen konnte. Zu einem späteren Zeitpunkt würde er sie darauf ansprechen. Nun galt es erst einmal, von diesem Präsentierteller von Örtlichkeit zu verschwinden, wenn seine verstohlene Verwandte weiter unentdeckt bleiben wollte. Das wohin würde sich bestimmt gleich auflösen.


    Ihr beinahe prüfend anmutender Blick zu Lucius bemerkte er ebenfalls und in Gedanken malte er sich bereits aus, was er mit seinen Sklaven anstellen sollte. Es war sicherlich eine gute Idee, dass sie schon einmal sein cubiculum herrichten sollten, während er... Moment... was erzählte sie da? Pegasus konnte durchaus zuhören und gleichzeitig über etwas nicht ganz so entferntes nachdenken. Das brachte es so mit sich, wenn der größte Einfluss auf einem die eigene Mutter war, die ihn tagtäglich mit nicht ganz so interessanten Fakten immer wieder aufs Neue zu langweilen versuchte, aber gerade in diesem Moment war er sich nicht wirklich sicher, ob er wirklich richtig verstand. In Gedanken wiederholte er noch einmal Floras Worte... „Stallungen der Factio Purpurea“... „auf seinem Wagen mitgenommen“. Ein... zwei aurelische Mädchen machten sich heimlich auf den Weg zu einem solch abenteuerlichen Zeitvertreib? Abenteuerlich und gefährlich! Pegasus musste nicht lange nachdenken, um die ganze Sache nicht gut zu finden, er hatte allerdings ein Versprechen gegeben, niemandem von diesem Geheimnis zu erzählen und dieses Versprechen wog in seinen Augen schwerer. “Ihr seid auf einem Wagen mitgefahren? Alleine... mit... einem Fahrer?“, fragte er skeptisch. Und sie wollte dies anscheinend ein weiteres Mal machen. Jetzt. Der Patrizier atmete hörbar aus, schloss kurz die Augen und wandte sich kurz seinen beiden Sklaven zu. “Geht ihr rein und bereitet mein Zimmer vor. Wenn ich zurück bin, ist das erledigt.“ Ohne auf eine Antwort oder irgendeine andere Art von Reaktion zu warten, schaute er wieder Flora an, musterte sie kurz – soweit es aus dieser nicht besonders großen Entfernung aus ging – und beugte sich leicht über sie. Ein wissendes Grinsen umspielte seine Lippen und er verharrte einen Augenblick in dieser Position, bevor er weitersprach: “Also ein Ausflug zur Factio Purpurea?“ Wenn Pegasus sie begleitete, konnte er wenigstens gleichzeitig auf sie aufpassen. Zusätzlich musste er sich eingestehen, selbst ein wenig neugierig zu sein, was hinter den Kulissen der berühmten Pferderennen so vor sich ging...

    Da sie nicht weiter auf den genannten Namen einging, ging Pegasus davon aus, tatsächlich den richtigen getroffen zu haben. Welch ein Glück, das wäre ansonsten natürlich ziemlich peinlich gewesen. Was gab es auch gerade bei ihm in der Familie Zwillinge, die sich so vollkommen ähnlich sahen. War es überhaupt möglich, sie auseinander zu halten? Mit Sicherheit gab es da einen Trick, ein bestimmtes Merkmal... er würde einen seiner Sklaven darauf ansetzen müssen. Das war subtil und hoffentlich unauffällig. Lucius würde sich da gut eignen: Wenn ein kleiner Junge durch das Anwesen streift und mit seinen neugierigen Augen alles taktiert, würde niemand auf eine solch abwegige Idee kommen!


    Ihre Worten ließen allerdings vermuten, dass sie sich ebenfalls in der Geheimniskrämerei verstand. Ob Pegasus in der Lage war ein Geheimnis für sich zu behalten? Nun, er hat schließlich jahrelang als Aurelier gelebt ohne dass es groß publik war. Zugegeben, das war nun nicht unbedingt Absicht gewesen und im Nachhinein ärgerte er sich sogar darüber, so lange abgeschottet gelebt zu haben. Zumindest konnte man aber nicht von ihm behaupten, ein Tratschmaul zu sein, was eben an seinem häuslichen Umfeld der letzten Jahre zu tun hatte. Es war schwer, Geheimnisse zu verraten, wenn man relativ wenig Kontakt zu Menschen hatte, denen man solche erzählen könnte. Sein Stirnrunzeln lichtete sich unmerklich, wurde aber durch ein beruhigendes Lächeln ergänzt. “Ein Geheimnis? Es könnte nirgendwo sicherer sein!“ Das Lächeln wandelte sich zu einem aufrichtigen Grinsen und Pegasus legte seinen Kopf leicht schräg... vielleicht wurde nun das Rätsel doch gelöst, obwohl es gar nicht darauf angelegt hatte – neugierig war er ja schon.

    Die Verwirrung schien sich nicht wirklich zu lichten. Zwar wusste Pegasus jetzt, was Flora... es war doch Flora, oder? nun im Schilde führte, aber so wirklich verstehen konnte er das nicht. Frische Luft schnappen konnte man auch im hauseigenen Garten... und wenn man dann doch einmal die Villa verließ... warum sollte man das still und heimlich und vor allem ohne Sklaven tun, deren Anwesenheit sie ja ausdrücklich nicht wünschte? Großartiges Rätsel! Der Aurelier war schon seit je her Liebhaber solcher gewesen und doch war er gerade weder in der Stimmung, noch in der Lage, seine Geisteskraft auf die Lösung zu richten.


    “Also...“, begann Paullus seinen Satz, hielt aber inne, als er merkte, dass er keinerlei Ahnung hatte, was er eigentlich sagen sollte. Zudem schien er ein wenig verunsichert darüber, welche der beiden Zwillingsschwestern er nun vor sich hatte. Der kleine Lucius konnte ihm anscheinend auch nicht helfen, denn Pegasus' hilfesuchender Blick erntete einen nichtssagenden Ausdruck der Ratlosigkeit. Nunja... irgendeinen Namen musste er ja verwenden und die Chancen standen ja nicht so schlecht, dass er zufällig den richtigen nannte. Flora, Narcissa, Flora, Narcissa... Narcissa... Innerlich verfluchte er sein damaliges Verhalten, sich nicht intensiver mit den anderen Familienmitgliedern beschäftigt zu haben, eher er sich räusperte und fortfuhr: “... eh... Narcissa... wie wäre es, wenn... ich dich begleite?“ Pegasus witterte die Chance, mit einem kleinen Ausflug die Ankunft in die fremde Heimat noch ein wenig hinauszuzögern. Ganz abseits der erdrückenden Räumlichkeiten durch ein Gespräch mit einer Verwandten wieder Fuß in der gens zu fassen, schien ihm ein guter Kompromiss. Nur hoffte er, die richtige der Schwestern angesprochen zu haben – wenn er sich mit seinem Vorschlag schon so weit aus dem Fenster lehnte, sollte wenigstens alles andere stimmen!

    Es dauerte ein Weilchen, bis sich die Tür öffnete, was Pegasus nicht sonderlich störte, denn irgendwo war er sich seiner Sache nicht sicher. Er spielte sogar mit dem Gedanken, wieder von dannen zu ziehen, die villa aurelia hinter sich zu lassen und anderweitig Trost zu finden. Würde man ihm – aus welchen Gründen auch immer – den Zugang verwehren, konnte er dies ja nur als Zeichen der Götter deuten und wer wäre er, würde er sich einem solchen verweigern? Ebenso schnell wie dieser Gedanke aufkam, verdrängte der Aurelier ihn auch wieder. Selbstmitleid war eine Eigenschaft, die einem Patrizier nicht sonderlich stand und davon abgesehen hatte er in letzter Zeit davon freilich genug gekostet. Gebannt starrte er auf die Tür und wartete weiter.


    Nervös zog er seine Tunika zurecht, er wollte einen guten Eindruck hinterlassen und nicht wie ein dahergelaufener Plebejer wirken. Der Schein war alles. Pegasus wollte nicht so wirken, als sei seine Rückkehr die einzige Alternative, die ihm geblieben war – ganz gleich wie das in der Realität aussah. Für wen er sich allerdings zurecht machte, konnte er sich auch nicht beantworten. Dem ianitor konnte es herzlich egal sein, wie er aussah... umso erleichterter war er, als – entgegen seiner Erwartung – Aurelia Flora die Tür öffnete, ihn mit einem Hauch von Stimmgewalt begrüßte, heraustrat und die Tür wieder schloss. Als würde er etwas sagen wollen, öffnete Paullus leicht dümmlich wirkend den Mund und runzelte die Stirn ob ihrer Worte. Lucius drehte sich verwirrt zu seinem Herrn und wartete anscheinend auf... irgendetwas, dem Aurelier fiel dies nicht auf.


    “Ehm... Salve!?“, antwortete er sichtlich irritiert. “Dich... nicht gesehen? Warum... was... ?“ Ein großes Fragezeichen bildete sich auf Pegasus' Stirn. Was, bei den Göttern, ging denn hier vor sich? Er hatte wohl ein Händchen dafür, in merkwürdige Situationen zu geraten.

    Der wolkenverhangene Himmel schien Pegasus' Stimmung widerspiegeln zu wollen. Trostlos und stumpfsinnig fühlte er sich, ganz ungewohnt für einen sonst so selbstsicheren und lebensfrohen Patrizier, wie er es war. Die letzten Wochen... oder waren es schon Monate? waren nicht spurlos am Aurelier vorbeigezogen. Was genau überhaupt geschah, konnte er nicht mit absoluter Sicherheit sagen. Es verlief alles nach seinen Vorstellungen: Zwar kein herzlicher, sondern eher ein reservierter und skeptischer Empfang der Familie, doch immerhin ein Empfang. Sein Name wurde akzeptiert, er wurde aufgenommen, es gab Beweise, die dies alles belegten, die davon zeugten, dass sein Name der eines wahren Aureliers war! Nicht zu vergessen der Brief, den seine Schwester Prisca Corvinus und ihm offenbarte. Bei dem Gedanken kam er nicht umhin, schmerzverzerrt in sich hinein zu grinsen. Unbewusst spielte er mit dem Siegelring seines Vaters, der wie Blei an seinem Finger wog.


    Ihm war kalt... innerlich. Der Gedanke, dass sein Vater im Elysium wandelte war selten schmerzlicher als in diesen Tagen und er vermisste Personen, denen er sich anvertrauen konnte. Warum ihm aber das, was er sich so sehnlichst wünschte, ihn gleichzeitig so verschreckte, konnte er sich selbst nicht erklären. Kaum war es dem Aurelier gelungen, als Mitglied der gens akzeptiert zu werden, ergriff er panikartig die Flucht. Wortlos und ohne viel Aufsehen zu erregen, verließ er die Villa, vor dessen Eingang er mittlerweile wieder stand und machte sie auf den Weg in vertraute Umgebung. Eine Art persönliches Exil, sein alleiniger Rückzugsort auf dem Landgut in Capua. Natürlich war er dort nicht alleine, aber es wäre in seinen Augen vermessen gewesen, Sklaven als seine Gesellschaft zu bezeichnen. Deshalb fühlte er sich auch in diesem Moment allein. Nicht unweit von ihm standen zwei seiner tüchtigsten Sklaven bereit, warteten auf seine Anweisungen, warteten auf eine Regung ihres Herrn und doch war ihm das nicht ansatzweise ein Trost. Sklaven konnten nunmal niemals ein vollwertiger Ersatz für Menschen sein.


    Reumütig streifte sein Blick noch einmal über das vor ihm liegende Anwesen, ehe er mit einem kleinen Nicken in Richtung seiner Sklaven diesen verdeutlichte, dass der passende Augenblick gekommen sei. Eilig trat der kleine Lucius an ihm vorbei in Richtung porta und klopfte mehrmals.

    Schöne Idee und die Saalburg ist sogar angenehm nah *g*


    Die nächsten zwei Wochen sind bei mir dank Theateraufführungen auch geblockt, aber ehrlich gesagt finde ich die "nächsten zwei Wochen" eh auch arg kurzfristig. Da würde ich schon Juni-Juli vorschlagen.

    “Natürlich trägt Corvinus eine große Verantwortung, aber…ach, ich weiß auch nicht. Diese ganze Situation ist einfach frustrierend. Mich ärgert diese Untätigkeit!“. Tatsächlich war wohl das schlimmste an der ganzen Geschichte das sinnlos erscheinende Warten auf irgendeine Nachricht. Natürlich, Capua war nicht um die Ecke, aber regungslos in der villa zu hocken, war für Pegasus auch keine Lösung auf Dauer. Zumindest war er froh, mit Ursus einen Gesprächspartner vor sich zu haben, der ihm anscheinend wohlwollend gegenüber stand. Die Skepsis war zwar zu spüren, doch nichts im Vergleich zu Corvinus’ abwehrenden Verhalten.


    Schweigend ging er neben dem Senator her. Den Trubel unweit von ihm bemerkte Pegasus noch nicht – dafür war er noch immer zu sehr in seinen Gedanken gefangen. Ursus Bemerkung über das Muttermal auf seinem Gesäß ließ ihn kurz auflachen, obwohl er dem Ganzen nur wenig lustiges abgewinnen konnte. “Die Sache ist… mein Vater verließ mich wohl schon kurz nach meiner Geburt. Ich habe ihn also nie kennengelernt und kann dir nicht sagen, ob ich irgendein äußerliches Merkmal meines Vaters mit mir trage… Mutter hielt sich zu diesem gesamten Thema immer recht verdeckt.“


    Ratlos blickte Pegasus seinen Vetter an. Er erwartete keine Hilfe, denn er wusste, dass alles von Corvinus und seinem Boten abhing. Niemand hier könnte Einfluss darauf nehmen. Ein leises Seufzen war zu vernehmen und abrupt blieb er stehen. Als er hätte er eine plötzliche Eingebung blickte er seitlich in die Säulenreihe und entdeckte ein obskures Schauspiel: Marei, das kleine Sklavenmädchen stand mit ihrer Puppe vor zwei Frauen, die sich merkwürdig verstohlen an eine der Säulen pressten… sie wurden doch nicht bei… einer heimlichen Liebelei gestört? Skeptisch musterte er Prisca und Septima und wartete auf eine weitere… ‚Eingebung’, die ihm helfen würde.

    Ungeduldig rutschte Pegasus auf seinem Sessel hin und her. Er war noch immer leicht aufgebracht und konnte nur den Eindruck erwecken, seriös und ruhig zu sein. Innerlich kämpfte er dagegen noch immer gegen den Drang an, wutentbrannt auf den Tisch zu springen und seinem Ärger freien Lauf zu lassen. Die villa war wie ein Kerker für ihn – ein prächtiger – aber eben ein Kerker. Sich und seinen Namen verstecken zu müssen, kränkte ihn in seinem Stolz, seiner Ehre. Es besudelte das Andenken seines Vaters! Schließlich war er, Paullus Aurelius Pegasus der leibhaftige Sohn von Marius Aurelius Iustus, Corvinus’ Bruder. Er hatte sich damit abgefunden, nicht mit offenen Armen empfangen worden zu sein, doch zwei Wochen waren einfach zu viel des Guten… da konnten auch gute Argumente und reine Tatsachen nichts ändern.
    “Ich bin kein dahergelaufener Plebejer!“, meinte er mit einem leicht aggressiven Unterton. Zu gerne hätte er diesen unterdrückt, aber es hatte so etwas herrlich befreiendes. “Du hast keinerlei Ahnung, wie ich mich gerade fühle! Du redest davon, dass die Situation für euch nicht leichter sei? Soll ich lachen? Seid ihr denn hier die Leidtragenden oder bin ich das?“, fuhr der Aurelier fort und redete sich fast schon in Rage. Er hatte gewusst, dass sein Zorn schnell wieder entfacht werden konnte. Die weibliche Stimme hinter ihm nahm er erst wahr, als die dazugehörige Frau auch schon mitten im Raum stand und einen der beiden ansprach. Völlig perplex hielt Pegasus inne… Prisca...?


    Das nun herrschende Schweigen bildete einen gekonnten Kontrast zu Pegasus’ vorherigen Ausbruch. Wortlos taxierte er seine Halbschwester und bemerkte die Schriftrolle in ihrer Hand. Völlig unvorbereitet blickte er zu Corvinus und suchte erneut Rat… bekam allerdings keinen. Die stockenden Worte der Aurelia erregten wieder Pegasus’ Aufmerksamkeit und in dem Moment, wo er sich ihr wieder widmete, hielt sie ihm auch schon die besagte Schriftrolle entgegen. Unschlüssig schaute er zu ihr hoch und nahm schweigend das Schriftstück entgegen. Das Siegel war bereits gebrochen, doch er erkannte es trotzdem. Es passte zu dem Ring, der nur ein kleines Stück entfernt an seinem Finger ruhte. Respektvoll doch überaus neugierig öffnete er den Brief und begann zu lesen.


    Die Zeilen flogen nur so an ihm vorbei und als er unten angekommen war, las er den Brief noch ein zweites mal, ohne auch nur Priscas Bitte zu beachten. Das war der Beweis… das würde seine Identität bezeugen! Bei den Göttern, er hatte es geschafft! Die Freude war nur innerlich, seine Mimik blieb völlig versteinert… geschockt über diese überraschende Wendung dieser Geschichte. Warum hatte sie ihm diesen Brief vorenthalten... seine... Halbschwester. Warum tat sie das? Noch einmal blickte er empor, fragend... vorwurfsvoll. Er hatte völlig umsonst die schlimmsten zwei Wochen seines Lebens hinter sich und das auch noch in und durch die unmittelbare Nähe seiner Familie! Wie konnte sie ihm das antun? Hatte er ihr jemals etwas getan? Bestürzt schüttelte er den Kopf und reichte Corvinus den Brief.

    Noch einmal ließ er die letzten Augenblicke Revue passieren. War das alles tatsächlich geschehen? Hatte diese unsittliche und doch notwendige Berührung wirklich stattgefunden? Waren die beiden nun wirklich… ‚alleine’? Ihm war klar, dass so etwas nicht alltäglich war, dass ihre Begegnung eine schicksalhafte, von den Göttern geplante, sein musste. Aus diesem Grund war er sich nicht sicher, wie er sich im Folgenden verhalten sollte. Auf so etwas hatte man ihn logischerweise nie vorbereitet, es gab keinen gesellschaftlichen Leitfaden, der einen durch diese Situation führte und die Wahrung der sittlichen Norm garantierte. Sie waren im Grunde völlig fremd, auch wenn er das Gefühl hatte, dass es kaum möglich war, jemanden auf eine intensivere und vollkommenere Art kennenzulernen. Das änderte oberflächlich aber nichts an der Tatsache, dass sie bisher nur ihre Namen ausgetauscht hatten und für jegliche Ansprache das nomen gentile gebraucht wurde. Eine symbolische Distanz, wie ihm schien, die es trotzdem zu wahren galt. Welchen Eindruck mochte es machen, wenn zwei sich unbekannte Patrizier ohne Begleitung durch die Straßen Roms flanierten und sich wohlwollende Blicke zuwarfen?


    Ihre Augen rissen ihn aus seiner Gedankenwelt. Augen, die ihn wahrscheinlich nie mehr verlassen würden, die er unter hunderten… tausenden wiedererkennen würde. Niemals hatte er sich so tief in einem Blau verloren und war gleichzeitig so konzentriert, dass er jede Facette dieser Tiefe wahrnahm und jeden Anflug einer Änderung registrierte. Es dauerte einen Moment, bis ihre Worte zu ihm durchdrangen und noch einen weiteren, bis er deren Sinn verstand. Das vorhergehende Gespräch war so von Zweideutigkeiten gezeichnet, dass er ihre Art der Konversation nun auf Anhieb zu verstehen glaubte – was er heraushörte stimmte ihn gleichzeitig freudig wie nachdenklich.
    Er war sich bewusst, dass er gerade völlig ungeschützt vor ihr stand. Zwar war er kein offenes Buch, doch würde sie mit ihrer aufgeweckten Natur und ein wenig ihrer Konzentration erkennen können, was in ihm vorging. Das merkwürdigste war, dass dies dem Aurelier herzlich wenig störte. Er war sich bewusst, dass ihn ein Tiefschlag erster Güte erwischen könnte und doch ließ er sich auf dieses Abenteuer ein.


    Livilla setzte sich in Bewegung. Mit einer leichten Verzögerung folgte Pegasus ihr, brauchte aufgrund des Größenunterschieds aber nur ein Schritt, um ihre zurückgelegte ‚Strecke’ aufzuholen und auf gleicher Höhe wie sie durch die Straßen zu schlendern. Nie hätte er es für möglich gehalten, dass die Abwesenheit von Sklaven einen so großen Unterschied ausmachen konnte. Die Atmosphäre, in der sich die beiden nun befanden war eine gänzlich neue, einerseits geprägt von Leichtigkeit und doch wieder einer merkwürdigen Spannung. Pegasus war immer davon ausgegangen, dass man Sklaven eh nicht bemerken würde, brauchte man sie gerade nicht. Nun aber wusste er wirklich, dass sie alleine waren.


    Gar nicht langte dauerte es, bis die Claudia wieder ihre helle Stimme erhob und laut über das eben Geschehene grübelte. Ein Disput, dem er sich gern anschließen würde: “Nicht auszumalen, was hätte passieren können… man müsste den Besitzer zur Rechenschaft ziehen! Ein solches Verhalten wäre bei meinen Sklaven völlig undenkbar…“ … und doch war die Konsequenz dieses Unfalls keine schlechte und es fiel Pegasus wirklich schwer, das Verhalten des Hünen zu beurteilen. Rein aus Prinzip, aus Gründen der Menschlichkeit hätte er den Germanen für seinen Frevel am liebsten die Finger abhacken lassen doch ohne ihn könnte der Aurelier auch nicht diese reizvolle Zweisamkeit genießen. Obgleich ernicht viel gesagt hatte, ließ Paullus trotzdem ein kurzes Schweigen entstehen. Um den Worten mehr Gewicht zu verleihen, um ihr die Möglichkeit zu geben, seinen Gedankengang zu erkennen. Auf die Straße achtend blickte er flüchtig zu ihr - kein Zeichen von Verlegenheit, eher eines der Besorgnis. Sie hatte wirklich Glück, dass nichts schlimmeres passiert war und in den Straßen Roms lungerten zwielichtige Gestalten, vor denen er sie nun behüten musste. Sein wohlwollendes Lächeln blieb dagegen unverändert. "Der Tag birgt doch einiges an Überraschung. Erstaunlich, wie schnell eine kleine schwarze Wolke in stahlenden Sonnenschein mündet.. war diese schwarze Wolke vielleicht aber... notwendig?" fuhr er zweideutig fort. Ihm gefiel der Vorwand, ganz unbefangen über das Wetter zu reden.

    Gedanklich war der Aurelier bereits zuhause, alleine, in Gedanken und voller Zorn über seine ungeschickte und völlig deplatzierte Frage. Wie kam er auf den Gedanken, so etwas zu fragen? Natürlich, das war leicht zu beantworten… aber wieso sprach sie auch noch laut aus? Er hätte es doch besser wissen müssen! Das vielversprechende Zusammentreffen zweier fremder Patrizier mündete in einer intimen Berührung… endete aber in einer einzigen Katastrophe. Enttäuscht fuhr er sich durch die Haare, blickte nach unten. Er konnte den grauen Kies erkennen, wie er so regungslos und unbedeutend da lag und seinen Dienst verrichtete. Keiner scherte sich um ihn und doch erfüllte er ungefragt seinen Zweck.
    Er wartete Livillas Antwort gar nicht erst ab und war bereits im Begriff, sich der vermeintlichen Position seines Sklaven Lucius zuzuwenden, als er inne hielt. Woho… was? Skeptisch blickte er in die Leere. Was hatte sie gerade gesagt? Sie war… Würde sie das noch einmal wiederholen? ... einverstanden? Er musste wie ein Trottel aussehen, wie er sprachlos auf dem riesigen Marktplatz stand und ungläubig die Augen zusammenkniff. War das ein… Trick von ihr? Sie wollte ihn testen… wissen, wie er nun darauf reagiert, oder? Verzweifelt suchte er Hilfe, wusste aber auch sofort, dass er diese nicht bekommen würde, nicht hier, nicht jetzt. Er war auf sich allein gestellt und das beunruhigte ihn überraschenderweise ziemlich. Was war los? Es war… nur eine Frau, zugegeben, eine hübsche Patrizierin… doch immer noch nur eine Frau!


    Pegasus versuchte, sich zu konzentrieren. Sein Atem war unregelmäßig, der Puls war noch immer viel zu schnell. Seine Mimik schien alle Gesichtszüge einmal ausprobieren zu wollen und doch blieb sein Gesicht starr vor Verwunderung. Langsam neigte er sich ihr wieder entgegen. Sein Blick ruhte auf ihrem langen, schwarzen Haar - was ihn ein wenig entspannte. Schien ihr diese Situation gar nichts auszumachen? Er konnte es wirklich nicht erkennen.


    “Nein nein! Ich würde dich gern begleiten!“, versicherte er, die eben noch herrschende Skepsis völlig verdrängend. Was sollte er mit seinen Händen tun? Er verspürte den Drang, sie… ‚zufällig’ berühren zu wollen, konnte sich aber gerade noch im Zaum halten. Er hatte wahrlich Glück, dass sie so reagierte, wie sie es tat und wollte ihre Grenzen nicht ausreizen. Mit einer fast ruckartigen Bewegung umklammerte er den Saum seiner Toga. Sein Lächeln wirkte ratlos und war auch die Antwort auf ihren fragenden Blick. Weiß sie selbst nicht… was sie… denkt, hier vorgeht?, schoss es ihm durch den Kopf und eine Spur von Erleichterung machte sich in ihm bemerkbar. Seine Gesichtszüge wurden lockerer, doch seine azurblauen Augen wirkten noch immer nachdenklich.


    Er folgte ihrem Blick, als sie sich kurz den Sklaven widmete und diese zu seiner Überraschung wegschickte. Der vorherige Augenblick war furchtbar intim und das, obwohl die Sklaven anwesend waren. Wie würde das nun aussehen? Wieso war sie bereit, diese Intimität noch einmal zuzulassen? Kurz rief er sich seinen ersten Eindruck der – nicht mehr ganz so - Fremden in Erinnerung und musste sich damit konfrontiert sehen, dass er ihr anfangs jegliche Emotionalität abgesprochen hatte. Welch Irrtum...
    Automatisiert tat Pegasus es ihr gleich und schickte den kleinen Lucius weg, der mit erstaunt dreinblickender Miene das ganze Geschehen anscheinend beobachtet hatte. Die Auktion war abgeschlossen und die Sklavin würde im Laufe des Tages noch zur villa Aurelia gebracht werden, wo er sie bezahlen müsste. Das war zumindest das, was Paullus annahm und der Gedanke daran war eine willkommene Ablenkung, die er zugleich wieder missbilligte. Eigentlich wollte er sich mit gar nichts anderem als Claudia beschäftigen, ihr seine gesamte Aufmerksamkeit schenken. Er schaute dem grüngekleideten Sklaven noch kurz hinterher und wandte sich dann mit einem erwartungsvollen Lächeln wieder Livilla zu. “Also…?"

    Schnell wurde er hereingebeten. Pegasus atmete noch einmal tief durch. Er war sich gar nicht sicher, was er nun erwartete… er wollte einfach irgendetwas hören. Versöhnliche Worte, Neuigkeiten, einfach die Bestätigung, dass es voran ging. Er zupfte seine Tunika noch einmal zurecht als würde Corvinus auf diese winzige Kleinigkeit enormes Gewicht legen, dann trat er ein.


    Er musterte seinen Onkel kurz, konnte aber nicht feststellen, ob er ihn gerade bei etwas wichtigem störte. Corvinus legte einige papyri beiseite und Paullus konnte einen kurzen, neugierigen Blick auf diese erhaschen, als er sich auf den ihm dargebotenen Sessel niederließ. Zu seiner Enttäuschung konnte er aber nichts erkennen. Da er nicht forsch erscheinen wollte, beließ er es auch dabei. Bedächtig legte seine Arme auf die Stuhllehne. Noch einmal taxierte Pegasus den pater familias und schwieg noch einen kurzen Augenblick. Dann begann er zu sprechen: “Du kannst Dir sicher vorstellen, weshalb ich Dich aufsuche.“, meinte er schließlich, fügte dann allerdings die Erklärung noch hinzu: “Gibt es denn Fortschritte in Sachen… bei… also, mit meiner… ‚Geschichte’?“ Seine linke Hand fuhr nachdenklich über sein Kinn, seine Augen fixierten erwartungsvoll die seines Verwandten.

    Bei Fortuna und Venus! Nur dieser kurze Moment, als ihr schlanker Körper fast regungslos in seinen Armen lag und ihre leicht zittrige Stimme sich erhob, nur dieser winzige Augenblick war es wert, die beschwerliche Reise von Capua aus angetreten zu sein, sich dem Getümmel der Stadt und dem Gestank des Marktes zu stellen. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie sich wieder aus seinen Armen löste und doch war es viel zu schnell vorbei. Er konnte und wollte die römischen Tugenden in Perfektion ausüben, doch gerade jetzt hatte er deutliche Schwierigkeiten… oh, wie musste er sich beherrschen: Ein innerer Kampf zwischen Ehrgefühl und Lust bahnte sich an, doch noch ehe dieser ausgetragen wurde, fing sich die Claudia wieder. Es war alles in Ordnung… natürlich war alles in Ordnung, er hatte sie aufgefangen, vor einem Sturz bewahrt, beinahe das Leben gerettet! Sein Puls schoss in die Höhe. Was sollte er tun?


    Langsam half er ihr hoch, sodass sie wieder ein wenig mehr Kontrolle über ihren Körper erhielt. Ihm machte ihre Situation des „ausgeliefert seins“ keine Probleme. Im Gegenteil: Er genoss es, er hätte ewig weitermachen können, doch er war sich nicht sicher, was sie davon hielt. Noch immer schaute der Aurelier sie besorgt an, noch immer hielt er sie in den Armen. Er wirkte ruhig, seriös – eben wie jene Helden, von den die alten Mythen berichteten, doch innerlich tobte ein Orkan, er war aufgewühlt, ratlos und hegte unheilvolle Gedanken: Zwar machte Livilla nicht den Eindruck, dass ihr die Situation… unangenehm war, doch wollte er sich in der aktuellen Lage nur ungern auf sein Urteilsvermögen verlassen. Letztendlich war es auch möglich, dass ihn die Konsequenzen seines Handelns erst sehr viel später treffen würden. Die Claudier waren eine bedeutende gens mit namhaften und einflussreichen Familienmitgliedern. Das schlimmste war jedoch Livilla selbst: Würde er sie denn noch einmal wiedersehen können?


    “Fortuna sei Dank!”, meinte er erleichtert, obwohl ihm nicht so zumute war und als könnte er in die Zukunft schauen, riss sich die Patrizierin wieder aus seinem Griff, die Berührung war beendet. Was würde nun geschehen? Wie würde sie reagieren? Beruhig dich, Paullus, beruhig dich! wiederholte er den Gedanken immer und immer wieder, doch der hämmernde Puls legte sich nur langsam. Eingehend beobachtete er sie und hoffte, dass ihr Anblick ihn wieder zur Besinnung bringen würde, wie er das während dieser Begegnung schon so oft getan hatte. Er hoffte auf ein gutes Zeichen…


    … und rechntete ihren Versprecher zu ihnen. Röte stieg in ihr auf, welche sich durch ihre vornehme, patrizische Blässe unheimlich schnell und intensiv bemerkbar machte. Sein Kopf glühte ebenfalls, doch war sein Teint bei weitem nicht so hell und es fiel nicht so schnell auf… vor allem wohl ihr nicht, wie er hoffte. Pegasus wusste nicht so recht, was er vermitteln sollte und hätte er dies gewusst, wäre er damit ziemlich überfordert gewesen. Die beherrschte Körperkontrolle suchte er vergebens wiederherzustellen und so war ihm deutlich anzusehen, dass ihm die körperliche Trennung von ihr missfiel. Er fürchtete sich, dass sie daraus Lüsternheit lesen und daraufhin Hals über Kopf fliehen würde, allerdings schien auch sie nicht ganz bei der Sache zu sein.
    Pegasus hielt es allerdings unklug, in der jetztigen Situation auf ihren sprachlichen Fehltritt einzugehen, daraus einen Scherz zu machen... auf die Aussage überhaupt einzugehen. Eine solch stolzen Person musste er nun mit Samthandschuhen anfassen. Das bewies ihr Ausbruch gegenüber den Sklaven, der ihn völlig aus seiner hysterischen Gedankenwelt riss. Sein Puls verlangsamte sich – war aber noch immer schnell - sein Blick schärfte sich wieder. Ob er sich jetzt auf sein Urteilsvermögen verlassen konnte, wusste er allerdings nicht. Bei den Göttern… könnte er diesen Augenblick nicht noch einmal erleben? Er müsste diesen Germanen kaufen, der ihm einen solch schönen Moment beschert hatte.


    “Bist Du sicher, dass… alles in Ordnung ist?“, fragte er vorsichtshalber noch einmal nach. Sein Blick verriet ehrliche Besorgnis… er wollte Informationen, er wollte eine Rückmeldung, aber seine Frage bezog sich nicht zwangsläufig auf ihre körperliche Verfassung. “Soll ich Dich nicht lieber nach Hause begleiten?“. Er hatte die Worte nicht einmal fertig ausgesprochen, als eine innere Stimme ein lautes ‚NEEEIN’ rief. Verdammt! Was hatte er sich denn nun dabei gedacht… wie würde das denn nun wirken…? 'Auf dem Marktplatz sind schließlich zu viele Zuschauer, verlagern wir den Ort des Geschehens einfach!'? Wie dämlich...

    Tatsächlich nahm auch Pegasus die anwachsende Unruhe unweit von ihnen nicht war. Es war schließlich ein Marktplatz, ein großer noch dazu. Das Geschrei der Händler, die lautstarke Feilscherei der Kunden, das Gemurmel und Geschlurfe der Menschenmasse, die sich um sie herum über den Platz schoben und von den beiden unberührten Patriziern geteilt wurde. Es war erstaunlich, wie sehr sich die beiden auf ihr jeweiliges Gegenüber konzentrierten. Jede kleinste Regung wurde erkannt, analysiert und daraus entsprechende Rückschlüsse gezogen. Ob der Atem ruhig oder unruhig war, das letzte Blinzeln zu früh kam oder eben auch das Kinn ein wenig geneigt wurde: Nichts blieb den beiden Patriziern verborgen. Ihre Körpersprache war deutlich informativer als alles, was über ihre Lippen kam. Ihre Worte schienen mehr eine begleitende Unterstreichung dessen zu sein, was sie ohnehin bereits ausgetauscht hatten… als müsste man der Umwelt den aktuellen Stand der Dinge vermitteln.


    Romantische Träumereien waren dem Aurelier nicht fremd. Er schätzte sie, vor allem in der Literatur, doch er wusste auch, dass die Realität meistens anders aussah. Hochzeiten, vor allem unter Patriziern, basierten oft auf politischen Abwägungen, die die Machterweiterung oder –sicherung der entsprechenden gentes zum Ziel hatten. Natürlich spielte auch die Liebe eine Rolle und mehr als nur ein Ehepaar fand sich dann doch trotz mehr oder weniger arrangierter Hochzeit als liebendes Paar in den Armen wieder – die Romantik hatte anfangs allerdings nicht viel zu sagen.


    Er hätte den wachsenden Aufruhr registrieren müssen, Lucius hätte es tun müssen. Er war zwar noch jung, aber nicht dumm. Er hätte bemerken müssen, dass sich sein dominus in einer Gefahrenzone befand, er hätte ihn warnen müssen… oder… versuchte er es? Die Worte der Claudia nahmen Pegasus völlig in seinen Bann. Hatte er Warnungen seines Sklaven überhört und verdrängt, genauso wie den Aufruhr selbst? Doch waren ihre Worte so… wohltuend, betörend, faszinierend. Er konnte gar nicht anders! So wäre das kommende wohlmöglich nicht passiert…


    Völlig überraschend wurde Claudia gestoßen und aus ihrer ‚Traumwelt’ gerissen, genauso wie Pegasus. Der Hüne von einem Germanen hatte sich anscheinend – erwartungsgemäß – nicht mehr unter Kontrolle und so torkelte die Patrizierin nach dessen Stoß nach rechts – seinem rechts – weg vom Aurelier. Sie war ihm Begriff zu fallen und streckte ihre Hand in seine Richtung. Ohne groß darüber nachzudenken - bei einer Plebejerin hätte er wohl erst einmal inne gehalten – ergriff er ihre Hand, trat mit seinem linken Fuß einen Schritt vor und fuhr mit einer halben Körperdrehung seinen Arm unter ihre Hüfte…
    Eine prekäre Situation: Noch vor wenigen Minuten machte er sich Gedanken um die Wahrung des Anstands und plötzlich fand er sich in einer dilemmatischen Situation wieder. Er hätte sie nicht einfach fallen lassen können, dass er sie nun aber unerlaubt berührte und dann auch noch auf seine solch intime Art und Weise, war dagegen völlig unsittlich. Er hoffte die richtige Entscheidung getroffen zu haben.


    Gar nicht wirklich darauf vorbereitet, Livilla halten zu müssen, zog sie ihn noch ein Stück gen Boden. Bevor einer von beiden in eine – zumindest körperlich – unangenehme Position kam, hatte er allerdings einen festen Stand. “Ist Dir… etwas passiert… Claudia?“, fragte er, wohlwissend, dass ihm die Situation nicht so unangenehm war, wie sie es sein sollte. Er leistete sich gerade einen sittlichen Fehltritt erster Klasse - auch, wenn er gar keine andere Wahl hatte. Diese Nähe zu ihr... sie lag wortwörtlich in seinen Armen... war allerdings unwiderstehlich! Livilla hatte das gute Recht, ihm eine Ohrfeige zu verpassen und erhobenen Hauptes den Platz zu verlassen und das wären nur die unmittelbaren konsequenzen gewesen... Seine Mimik spiegelte genau das wieder: Einerseits irritiert, noch immer geschockt, blieb er selbstsicher. Ein aufrichtig besorgtes Lächeln zeigte sich.

    Bisher verlief noch alles im Rahmen des Anstandes. Pegasus war sicher, dass die Claudia diesen Rahmen nicht sprengen würde. Das machte sie durch ihr kontrolliertes Verhalten deutlich. Sie erweckte nicht den Eindruck, dass ihr die römischen Tugenden, Traditionen und Sitten egal waren, im Gegenteil: Livilla war eine jener Patrizierinnen, die der Aurelier zu schätzen wusste, leider aber immer seltener wurden. Zu oft musste man mit Ansehen, wie die überaus wichtigen Regeln römischen Lebens aufgeweicht wurden. Da wurde dem Ehemann nicht mehr genügen Respekt entgegengebracht, hier beriet man mit den Sklaven die Zusammenstellung der cena und woanders meinte man, dass die Götter auch einmal ohne Opfergaben klarkommen würden. Paullus vermutete mit einer nicht zu unterschätzenden Gewissheit, dass sein Gegenüber diese Problematik ähnlich sah. Sie wusste um ihren Rahmen der Möglichkeiten und dass sie diesen voll ausnutzte, war ihm mehr als Recht. Eine gewisse – wenn auch… ‚subtile’ - Widerspenstigkeit hatte immer etwas erregendes an sich. Zu dieser Erkenntnis kam er bereits früh. Dies mag wohl auch einer der Gründe sein, weshalb diese Konversation so faszinierend und fesselnd war.


    Ein weiteres Mal erklang ihre zarte Stimme, langsam, betonend, aufwühlend. Er mochte es, wie sie seinen Namen noch einmal wiederholte, etwas, an das er sich gewöhnen könnte. Der Gedanke amüsierte und erschreckte ihn zugleich. Mit Freuden nahm er auch ihre weiteren Worte auf. Der Inhalt war nicht wirklich überraschend, denn diese ‚Zweisamkeit’ wäre niemals soweit gegangen, wären die beiden Patrizier nicht über die Bekanntschaft des jeweilig anderen erfreut gewesen. Die Art und Weise wie sie es sagte, verblüffte ihn dagegen schon ein wenig: Der beiläufig Zuhörende hätte darin nichts weiter als die Floskel gehört, doch innerhalb dieser Situation klang soviel Gewicht mit diesen Worten mit, dass man die wahre Natur jener Aussage hinter deren floskelhaften Fassade gar nicht überhören konnte. Dass sie sich also praktisch seiner Zweideutigkeit bediente, war vorhersehbar - tat sie es schon einmal - sorgte aber trotz allem für leichte Verwunderung.


    Gleichwohl er sich ebenfalls in Gedanken mit der gens Claudia näher hätte beschäftigen sollte, ließ er keine Ablenkung zu. In dieser Situation übte die Stellung, die Geschichte der Familie und die Namen anderer Claudier sowieso keinen großen Einfluss aus. Das waren Dinge, die bei Geschäften, Liebschaften und Hochzeiten von Wichtigkeit waren, doch trafen sich diese beiden, jungen Patrizier lediglich rein zufällig auf einem der Märkte Roms. Das passierte tagtäglich – wie das passierte… war vielleicht nicht ganz so alltäglich, aber das war wohl auch nur den beiden bewusst. Dass sie eine Patrizierin war, war das einzige an Information, die er in diesem Moment wusste und für ihn wichtig war. Man stelle sich nur einmal vor, Livilla wäre eine Iunia, Octavia oder Decima. Er würde ohne mit der Wimper zu zucken das Gespräch beenden müssen… das würde er freiwillig und gerne tun.


    Ein weiteres Mal überraschten ihn Livillas Worte. Seine Taktik ging nicht auf. Sie ließ die Sklavin unerwähnt, ging mit keiner Silbe auf den Kauf ein, keine subtilen Andeutungen über irgendetwas zum Thema ‚Sklave’. Dem Aurelier wurde klar, dass er eine schwierige Aufgabe zu erfüllen hatte, sie zur offenen Bekundung ihres Sklaveninteresses zu bewegen. Er war allerdings auch der Meinung, dass es unklug war, seinerseits die Ware wieder ins Spiel zu bringen. Er wollte nicht sein Spielziel verraten, denn das würde sie wiederum in eine gestärkte Position verschieben, die er ihr nicht zusprechen wollte.


    Fast unschuldig legte er die Hände zusammen. Sie waren warm, doch nicht schwitzig. Die Ringe blieben matt und zogen keinerlei Aufmerksamkeit auf sich, da seine Hände vollständig von seinem Schatten überzogen waren und die Sonnenstrahlen ihren Dienst verwehrten. Nervös anmutend drehte er an einem seiner Ringe, doch er war nur nachdenklich. Er ließ ihre Worte mehrmals durch seinen Kopf wandern. Ihre Aussage hatte wieder diesen Floskelcharakter… war zudem nicht einmal wirklich korrekt, weshalb es deutlich für ihn war, dass sie eine Konversation der Zweideutigkeiten zu pflegen schien. Wieder einmal huschte ein Grinsen über sein Gesicht und er beugte sich minimal herunter. Nicht, um seine Größe zu demonstrieren, sondern um der Atmosphäre eine weitere Dimension der Intimität zu verleihen. “Ich habe lange keinen so schönen und warmen Tag erlebt… hoffentlich bleibt er so.“, schloss er sich ihrer Zweideutigkeit an. Er wollte noch irgendeine Anmerkung über die Vorzüge einer milden und von der Abendsonne durchfluteten Nachmittagsstunde machen, doch das fand er in diesem Augenblick doch eher platt und unpassend.

    Verärgert machte sich Pegasus auf zum cubiculum seines Onkels Corvinus. Wenn er denn überhaupt mein Onkel war!, dachte er zynisch und steigerte sich noch mehr in seinen Zorn hinein. Er war ja nicht einmal zornig auf Corvinus selbst, ihn ärgerte nur die Wartezeit, die er hier verbrachte und dadurch so in den Seilen hing, maßlos. Er hätte schon fast angefangen die hora und vigila zu zählen, doch so depressiv war er dann auch nicht.


    Entschlossen, aber auch nervös stand er vor der Zimmertür des pater familias. Pegasus war sich nicht sicher, ob er in der richtigen Verfassung war, um ein klärendes Gespräch mit Corvinus zu führen. Letztendlich musste es aber irgendwann einmal geschehen und er hatte es satt, zu warten. Er schloss die Augen und versuchte, sich zu beruhigen. Langsam atmete er tief ein und aus, sein Bauch wölbte sich gleichmäßig auf und ab und sein Puls fuhr langsam wieder herunter. Obgleich er ruhiger wurde, wusste Pegasus, dass das Potential weiterer Rage noch in ihm steckte und durch einen kleinen Funken wieder vollständig entfacht werden konnte. Er musste vorsichtig sein und durfte sich nicht in Fahrt reden. Das würde garantiert kein gutes Licht auf ihn werfen. Warnend rief er sich selbst noch einmal seine Situation in den Kopf: Du bist nur geduldet, Paullus, nur geduldet!.


    Einen letzten Atemzug war er vom Klopen entfernt. Seine rote Tunika wurde durch das spärliche Licht der letzten Nachmittagsstunde in ein dunkles Blutrot verfärbt. Ein schlechtes Omen? Zögerlich hob er die Hand, noch einmal schloss er kurz seine Augen, atmete ein… atmete wieder aus und ein bestimmendes Klopfen ertönte im Gang, die durch “Corvinus? Ich bin’s… Pegasus. Hast Du einen Augenblick Zeit?“ ergänzt wurden.

    Pegasus wartete, bis sein Vetter auf gleicher Höhe mit ihm war und ging dann weiter zur exedra. “Warum Mar… Corvinus an meiner Verwandtschaft zweifelt, ist einfach: Anscheinend wusste er nichts von meiner Existenz und auch nichts von der meiner Mutter, Noctua. Sein Bruder… mein Vater war wohl zum Zeitpunkt meiner Geburt einer anderen versprochen und Corvinus kann sich nicht vorstellen, dass Marius eine zweite Frau in seinem Leben hatte, eine Frau, von der er nichts wusste.“ Völlig in Gedanken passierten sie die Säulenreihe im atrium, doch völlig vertieft ins Gespräch bemerkte zumindest Pegasus die Anwesenheit der beiden hübschen, patrizischen Damen nicht, die im Halbschatten nur wenige Schritte von ihnen entfernt sich an die Säule drückten und ihn stumm beobachteten.


    “An diesem Denken konnte auch der Siegelring meines Vaters nichts ändern.", meinte er mit einem Hauch Enttäuschung in der Stimme, während er seine Hand nach oben hielt und Ursus den Ring präsentierte. Nachdenklich blieb er stehen und blickte dem Senator in die Augen, ehe er den Mund öffnete, um fortzufahren – allerdings kamen keine Worte heraus: Pegasus’ Atem stockte und er wandte seinen Blick wieder von Ursus ab, seine bittere Erkenntnis aus dieser Situation zusammenfassend: “Und nun sind meine Hände gefesselt… ich kann nichts tun, um etwas an meiner Position hier zu ändern. Ich komme mir vor wie so ein Plebejer, abhängig vom Wohlwollen seiner Mitmenschen und Unfähigkeit, durch sein eigenes Tun etwas zu verändern!“ Den letzten Worten konnte man deutlich die Aggression heraushören, die langsam in dem Aurelier aufstieg. Er war zornig… wütend auf sich selbst und auf diese Misere. Er hatte sich seine Ankunft wesentlich glanzvoller und willkommener vorgestellt, doch von allen Seiten herrschte mal mehr, mal weniger Skepsis und Missmut.