Beiträge von Aureliana Siv

    "Jaaah…" Am liebsten hätte Siv noch viel mehr gejammert, aber sie riss sich zusammen, und so kam nur eine etwas langgezogene Bestätigung auf die Fragen der Claudia aus ihrem Mund. Sie wollte gerade dazu ansetzen, die Botschaft auszurichten, als Epicharis auf eine Bank deutete. Der Leibwächter fing sich eine flink ausgestreckte Zunge ein, als die Römerin sich umgewandt hatte, dann folgte die Germanin ihr brav, nicht ohne einen gewissen Sicherheitsabstand zu dem Mann zu halten. Siv wusste, wann sie aufpassen musste – aber die Zunge hätte sie dem Leibwächter so oder so noch rausgestreckt. Es ging lediglich darum, dass die Römerin es nicht sah, nicht dass sie Corvinus davon erzählte, wie ungezogen Siv sich verhielt.


    Bei der Bank hielt sie einen Augenblick inne und bewunderte die Eleganz, mit der Epicharis sich niederließ, dann setzte sie sich ebenfalls hin, etwas zögerlich. Ihre Hand zuckte schon wieder zur Nase, gehörte Siv doch zu jenen Menschen mit der schrecklichen Angewohnheit, ständig an etwaigen Verletzungen herumzufingern – Schorf, auf ihrer Haut gebildet, hatte nur eine geringe Lebenserwartung, Wunden dagegen eine umso höhere, verheilten sie doch schlechter, wenn sie ständig befingert und aufgekratzt wurden. Auch auf blauen Flecken tastete Siv öfters herum. Es war unklar, woher dieser Trieb stammte – ob es einfach nur eine schlechte Angewohnheit war oder möglicherweise aus einem tiefergehenden, beinahe wissenschaftlichen Interesse heraus geschah, die eigenen Grenzen zu testen und herauszufinden, was passieren würde wenn man diese winzige bisschen Schorf nun auch noch löste… Den Göttern sei Dank tat Siv sich selten etwas. "Ja, meggen dea Hohseid." Täuschte sie sich, oder klang sie noch schlimmer als zuvor? Schwoll ihre Nase etwa an? Jetzt konnte sie sich nicht mehr beherrschen und tastete doch wieder darüber, und sie knirschte kurz mit den Zähnen, als sie tatsächlich eine gewisse Schwellung spürte. Ein leises Seufzen hob ihre Brust, dann fuhr sie fort. "Ih soll sagn, er gommt. Su Hohseid von dia. Und dange, füa die Einladungg."

    Als Siv das Schmunzeln des Arztes sah, reagierte sie so, wie sie immer reagierte, wenn sie das Gefühl hatte nicht ernst genommen zu werden: verärgert. Um nicht zu sagen eingeschnappt. "Sehr witzig, das alles", fauchte sie, aber dem forschenden Blick des Griechen konnte sie anschließend nur wenige Augenblicke standhalten. Dann jedoch riss sie ihren Kopf wieder hoch, so heftig, dass ihre Haare flogen. Fassungslos starrte sie ihn an, war so fassungslos, dass sie sogar ihre abwehrende Haltung aufgab und ihre Arme sinken ließ. "Woher weißt du…?" Er hatte sie noch nicht untersucht, er hatte sie noch nicht mal angefasst, woher konnte er da wissen, dass sie schwanger war, oder besser: dass sie überzeugt war, sie war schwanger? Siv schwankte zwischen dieser Fassungslosigkeit und plötzlich aufkeimendem Respekt. Und sagte zunächst nichts, war sie doch sprachlos, so konfrontiert zu werden. Erst als Aracus davon sprach, es wieder loszuwerden, fand sie wieder Worte. "Nein!" Wie ein Pfeil, der von der Sehne gelassen wurde, schnellte dieses Wort hervor. "Nein", wiederholte Siv, etwas ruhiger. "Das heißt… Also…" Das Blut wich ihr etwas aus den Wangen, als ihr der Gedanke kam, dass Corvinus das womöglich wollen würde. Sie glaubte es nicht, sie glaubte ihn gut genug zu kennen, dass er ihr das nicht antun würde, nicht, wenn sie das nicht auch wollte, aber wenn er es wollte, dann hatte sie kaum eine Wahl. Dann schob sie diese Gedanken fort. Nein, dachte sie kategorisch. Corvinus würde sie niemals dazu zwingen. "Corv… Aurelius Corvinus, mein, der Dominus… er weiß nicht. Noch nicht. Er muss sagen, was er will." Sie musterte den Arzt kurz und ging dann auf seine erste Frage ein, die sie indirekt schon beantwortet hatte, und jetzt endlich ließ sie sich langsam sinken und setzte sich auf ihr Bett. "Ich bin sicher. Also… Ich meine, das, was kann sein sonst, wenn nicht schwanger sein?"

    Siv sah sich die verschiedenen Organe durch. Dann noch mal. Und noch ein drittes Mal. Sie fand nichts. Mit einem erleichterten Aufatmen schloss sie die Augen. Nichts. Kein Makel. Jedenfalls nicht, so weit sie erkennen konnte, und sie hatte schon mehr als einmal ein Tier ausgenommen und zerlegt, und auf Mängel musste man da auch achten, immerhin war der behaftete Teil dann selten genießbar. Iuno hatte das Opfer angenommen. "Danke. Oooh, danke, danke, vielen Dank!" Tränen sammelten sich in ihren Augen, und Siv wischte sie weg, mit dem Handrücken, um sich nicht das Gesicht voll mit Blut zu beschmieren. Auf einmal war die Aufregung wie weggefegt. Ein wohliges Gefühl breitete sich in ihr aus, das Gefühl, dass alles irgendwie gut werden würde. Siv atmete ein paar Mal tief durch. Es war gleichgültig, dass sie Germanin war und keine Römerin. Jedenfalls in ihrer Situation, offenbar. Oder vielleicht hatte Iuno es gerade gerührt, dass sie sie anflehte und ihr ein Opfer darbrachte, obwohl sie Germanin war – diesen Schritt zu tun, hatte ihr einiges abverlangt, waren für Siv die römischen Götter doch schlicht andere als ihre eigenen. Vielleicht hatte auch einfach nur gezählt, dass sie sich bemüht hatte, das Opfer so korrekt wie möglich darzubringen, auf alles zu achten, was Caecus ihr gesagt hatte. Vielleicht war es auch eine Mischung aus allem. Der Grund war letztlich egal, die Hauptsache war, dass Iuno das Opfer, ihr Opfer, angenommen hatte, und dass sie ihr damit auch ihre Bitte gewährt hatte. Siv begann, ganz leicht zu lächeln, während sie zuerst die Eingeweide und dann nach und nach, nachdem das Feuer die Organe verzehrt hatte, den Rest des Kaninchens den Flammen übergab. Mit einem versonnenen Lächeln auf den Lippen blieb Siv stehen, bis auch das letzte bisschen verbrannt war, und nahm sich gleichzeitig vor, wieder herzukommen, irgendwann in der Zukunft, und Iuno einfach nur zu danken, dass sie sich ihr heute wohlgesonnen erwiesen hatte. Dann wusch sie sich die Hände und packte anschließend ihre Sachen zusammen, und während sie das tat, stand da auf einmal ein Gedanke in ihrem Kopf, wie aus dem Nichts hergezaubert. Ich sollte wirklich Cassim fragen, ob er mir auch mal Einzelunterricht gibt. In Griechisch. Und in Latein. Sie hatte sich schon länger mit dem Gedanken getragen, den Parther, der sie bei den Flaviern unterrichtete, zu fragen, aber sie hatte es immer wieder aufgeschoben – sie wollte zwar lernen, aber irgendetwas war stets dazwischen gekommen, und überhaupt war sie sich nicht so sicher, ob sie Cassim wirklich darum bitten konnte. Jetzt allerdings war ihr Bedürfnis, ihr Latein zu verbessern, so stark, dass sie sich vornahm, ihn bei nächster Gelegenheit zu fragen. Etwas verwirrt über diesen plötzlichen Entschluss, verschnürte sie ihren Beutel und verließ dann den Tempel, um sich auf den Heimweg zu machen.

    Siv hörte Brix’ Worte noch, aber sie drehte sich nicht mehr um. Sein Tonfall klang in ihren Ohren seltsam, und sie wollte seinen Gesichtsausdruck dazu nicht sehen. Sie hoffte nur, dass er ihr verzeihen konnte, dass sie ihm die Wahrheit verschwiegen hatte, dass sie ihn, seine Gutmütigkeit, und die offensichtliche Tatsache, dass er sie mochte, ausgenutzt hatte. Sie hoffte es so sehr.


    Drinnen im Zimmer drehte sie sich vor ihrem Bett um, mit verschränkten Armen, und musterte den Arzt, der ihr gefolgt war. "Salve", grüßte sie ihn schließlich auf seine Vorstellung ihn, wenn auch etwas widerwillig. "Ich bin Siv." Sie hatte keine Ahnung, was jetzt kommen würde. Sie war noch nie von einem Arzt untersucht worden, keinem römischen – oder griechischen, in dem Fall – jedenfalls, und auch zu Hause war sie selten von irgendjemandem untersucht worden, war sie doch so gut wie nie krank. Und selbst wenn, hatte sie sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, von einem Heiler untersucht zu werden. Sie mochte es nicht, hilflos zu sein. Ihre Arme schlangen sich noch etwas enger um ihren Oberkörper, und ihre Haltung war nun eindeutig defensiv, da überraschte Aracus sie mit einer simplen Frage. "Was?" entgegnete sie ungläubig. "Herbst? Was soll das?"

    Siv biss sich heftig auf die Unterlippe, als sie Brix’ Antwort hörte. Oooh, Götter, sie hätte Corvinus sofort sagen sollen, was los war. Das hatte sie jetzt davon. Entweder sie ließ sich von dem Arzt untersuchen, oder sie sagte Brix endlich Bescheid – bevor Corvinus es erfuhr. Ihre Hände ballten sich unwillkürlich zu Fäusten. Die Worte des Germanen trafen. Und wie sie das taten. Ich bin nicht auf den Kopf gefallen… Du hattest deine Chance… Ich kann nicht ständig für dich in die Bresche springen. Für Siv klangen diese Worte so, als ob Brix vermutete, sie wäre in schlechte Gesellschaft geraten, hätte Schwierigkeiten gekriegt, weil sie sich mit den falschen Leuten eingelassen hatte, irgendwo in der Halbwelt Roms. Einen kurzen Augenblick empörte sie das, aber darum ging es gar nicht – es stimmte, was er sagte. Er war oft genug für sie in die Bresche gesprungen. Und dieses Mal hatte sie sich sogar geweigert, ihm irgendetwas zu sagen. Das war einfach nicht richtig. "Nein", fauchte sie in Richtung des Arztes, als Brix sagte, sie würde gleich kommen. "Brix, bitte", flehte sie. "Hör zu, ich weiß, was du alles für mich getan hast. Und es tut mir leid, ehrlich! Ich…" Siv sah kurz weg, in die entgegensetzte Richtung des Arztes. Ihre Kehle arbeitete, und sie schluckte mühsam, dann sah sie den Germanen wieder an. "Ich bin schwanger." Ohne innezuhalten, redete sie weiter, erklärte in einem Schwall ihr Verhalten. "In der Nacht, da war ich draußen, und hab geopfert, und das Geld, das hab ich gebraucht für das Opfer für Iuno, weißt du, Corvinus ist doch der Vater, und dann kann ich doch nicht einfach die römischen Götter missachten, nicht wenn mein Kind zur Hälfte Römer ist, das geht doch nicht… Aber ich hätte nie gedacht, wie teuer so ein weißes Kaninchen ist, und…" Ihre Stimme erstarb, und hilflos hob sie die Schultern. "Ich will doch nur, dass Corvinus das von mir erfährt. Nicht von dir. Oder von einem Arzt." Brix musterte sie einen Moment lang mit einem undeutbaren Gesichtsausdruck, und Siv wurde klar, dass sie ihm eher die Wahrheit hätte sagen sollen. "Du wirst dich untersuchen lassen, Siv." Wieder biss sie sich auf die Unterlippe und trat einen kleinen Schritt zurück. "Kannst du… kann ich dann wenigstens danach mit Corvinus reden? Bevor der Arzt das tut?" Denn das Corvinus mit dem Arzt würde reden wollen, war ihr klar. Brix allerdings schien augenblicklich nicht gewillt, ihr auch nur das kleinste Zugeständnis zu machen. "Ich kann dir nichts versprechen", war das einzige, wozu er sich hinreißen ließ, und nach einem letzten Blick auf seine unbewegte Miene wandte Siv sich ab, ging grußlos an dem Arzt vorbei und öffnete die Tür zu ihrer Kammer. Bevor sie eintrat, wandte sie sich noch einmal zu dem Germanen um. "Es tut mir leid, Brix. Ehrlich", sagte sie, seltsam geknickt – Brix war wie ein Bruder für sie geworden, und um nichts in der Welt hatte sie ihn enttäuschen wollen. Und sie wollte auch nicht sehen, wie er jetzt reagierte, also drehte sie sich schnell um und verschwand in der Kammer.

    Als Siv Brix kommen sah, biss sie nur die Zähne zusammen und arbeitete erst recht weiter. Wenn sie so unbedingt wollten, dass die Germanin sich ausruhte, würden sie sie schon hineintragen müssen. Sie war nicht krank! Sie hörte, wie Sofia sich verteidigte, und begann demonstrativ, das Laub wieder einzusammeln, das die Griechin hatte fallen lassen, und auch, als Brix das Wort ergriff, reagierte sie zuerst nicht. Aber der Tonfall, den der Germane anschlug, war deutlich. Und Siv wusste, wann sie Chancen hatte und wann nicht. Diesmal würde Brix nicht mit sich verhandeln lassen. Siv packte das Laub, das sie gerade in den Händen hielt, in einen der Körbe, und richtete sich dann auf. Einen Moment musterte sie den Maiordomus, suchte nach einem Anzeichen in seinem Gesicht, dass er doch mit sich reden lassen würde, aber da war nichts. Sie schloss die Augen, strich sich ein paar Strähnen aus dem Gesicht und seufzte. "Ja." Sie folgte Brix durch den Garten hindurch, während Sofia nach einem kurzen Moment weiter arbeitete, und sagte kein Wort. Sie vermutete, dass der Germane einfach dafür sorgen sollte, dass sie sich endlich ausruhte – was sie mitnichten vorhatte. Wenn es denn sein musste, dann legte sie sich eben hin. Aber sobald Brix fort war, würde sie wieder aufstehen. Irgendwo würde sich schon etwas finden lassen, was sie tun konnte, ohne dass sie sofort irgendwem auffiel. Corvinus würde Brix ja wohl kaum die Anweisung gegeben haben, jedem Bescheid zu sagen.


    Als sie dann jedoch vor der Tür zu ihrer kleinen Kammer ankamen und sie dort einen fremden Mann mit einer alten Tasche in der Hand stehen sah, blieb sie abrupt stehen. "Brix, was soll das? Wer ist das? Ein Medicus?" Siv musste seine Antwort gar nicht abwarten, sie erkannte an seiner Reaktion, dass sie richtig lag. "Brix!" rief sie dann empört aus. "Ich bin nicht krank, warum glaubt mir das denn keiner?" Sie warf dem Arzt einen kurzen Blick zu, der zu ihnen herüber sah, und presste dann ihre Lippen aufeinander. Jetzt hatte sie keine Wahl mehr. Der Arzt würde sicherlich herausfinden, was los war, und sie würde kaum verhindern können, dass er sie untersuchte – scheinbar hatten sich alle gegen sie verschworen, und wenn Corvinus und Brix nicht mit sich reden ließen, hatte sie kaum eine Chance. Sie wollte aber nicht, dass Corvinus von jemand anderem erfuhr, was los war. Und sie wollte nicht, dass er es nach jemand anderem erfuhr. Ein Blick noch zu dem Arzt, dann wandte sie sich wieder Brix zu, ihre Stimme diesmal etwas gedämpft. "Hör zu Brix, ich bin nicht krank und ich brauch keinen Arzt. Ich muss mit Corvinus reden." Sie gestikulierte zu der Tür, die zu seinem Cubiculum führte. "Ist er dort? Oder im Officium?"

    Siv nahm – inzwischen schweigend – den Becher entgegen und trank etwas, spülte die Flüssigkeit ein wenig im Mund hin und her und nahm dann noch einen Schluck. Unterdessen rasten ihre Gedanken. Jetzt wäre die perfekte Gelegenheit, ihm zu sagen, was los war. Warum ihr übel war. Aber gerade, als sie dazu ansetzen wollte, schickte Corvinus sie weg mit der Anweisung, sich auszuruhen. Ihr Mund öffnete sich schon, um zu protestieren, um einzuwenden, dass sie nicht krank war, und dass sie nicht so verweichlicht war jetzt Ruhe zu brauchen, nur weil ihr ein bisschen übel war, da kam Sofia schon wieder herein. Sprachlos blieb Siv stehen, wo sie war, den Becher in einer Hand, während Corvinus zu dem Tisch ging und Sofia anfing, den Boden sauber zu machen. Das kurze Gespräch zwischen den beiden flog an ihr vorbei, ohne dass sie es im ersten Augenblick wirklich realisierte. "Mo… Moment mal! Ich bin nicht krank! Ich muss nicht ausruhen!" Aber irgendwie schien es keiner für nötig zu halten, sie zu beachten, geschweige denn auf sie zu hören. Und Siv glaubte sich plötzlich in einem Theaterstück. Das war doch ihr Körper, sie kannte sich selbst, sie wusste, wann sie Hilfe brauchte und wann nicht – waren die zwei plötzlich verrückt geworden? Sie wussten nicht, was los war, aber das war doch kein Grund, der Meinung zu sein besser wissen zu können als sie, was gut für sie war!


    Aber auch ihr weiterer Protest verhallte, ohne dass Corvinus darauf einging, und als Sofia fertig war – Siv stellte mit einem Anflug schlechten Gewissens fest, dass sie ihr kein bisschen dabei geholfen hatte, sondern nur fassungslos herum gestanden war –, fasste die Griechin sie am Arm und führte sie mit erstaunlichem Nachdruck aus Corvinus’ Arbeitszimmer. Weiter ging es, ohne dass Siv sich wehrte, zu den Waschräumen der Sklaven, wo Sofia den Eimer entleerte und ausspülte. Dann drehte sie sich zu ihr um. "So. Magst du was essen?" Siv starrte sie noch fassungsloser an als zuvor. "Essen? Jetzt? Bist du wahnsinnig?" Obwohl Sofia den letzten Satz nicht verstanden hatte, sagte der Tonfall der Germanin doch genug aus, und sie zuckte nur mit den Achseln. "Was denn? Du musst was essen, sonst verhungerst du irgendwann noch. Irgendwas muss ja mal drin bleiben." Siv winkte nur ab. Allein schon beim Gedanken an Essen schien ihr Magen wieder einen Satz nach oben zu machen. Spätestens gegen Abend würde sich das ändern, dann konnte sie immer noch essen. Einen Moment sah Sofia sie noch an, auf eine Antwort wartend – dann, als ihr klar wurde, dass keine kommen würde, fasste sie Siv wieder am Arm und zog sie mit sich. "Dann wirst du dich jetzt wenigstens schön hinlegen – und du wirst was trinken! Wenn du schon nichts essen willst…" Das war Siv zu viel. Sie befreite ihren Arm aus Sofias Griff. "Moment. Ich bin kein Kind! Ich muss nicht hinlegen!" Siv ließ die Griechin gar nicht mehr zu Wort kommen. "Du willst passen auf? Gut. Dann komm!" Mit diesen Worten drehte Siv sich um und marschierte zur Küche, wo sie sich zunächst etwas zu trinken holte, und dann in den Garten. Und Sofia, nach einem Schreckmoment, stürmte hinter ihr her und redete auf sie ein, bemüht, sie doch zu überreden vernünftig zu sein – auf dem Weg zur Küche, in der Küche, auf dem Weg zum Garten und dort, als Siv begann ihrer Arbeit nachzugehen, weiter. Irgendwann begriff auch Sofia, dass es keinen Sinn hatte, aber ihre Tiraden nahmen erst ab, als Siv sich deutlich zurücknahm und zuließ, dass die Griechin ihr wenigstens half.

    "Lang", erwiderte Sofia im Brustton der Überzeugung. "Tage. Fast zwei Wochen schon!" Siv verdrehte wieder die Augen, was allerdings keiner der beiden sehen konnte, da sie sich gerade auf dem Weg zur Tür befand. Bevor sie sie aber erreichen konnte, hielt Corvinus’ Stimme sie zurück. Sie sollte hier bleiben. Sie hatte es geahnt. Einen Moment blieb sie einfach nur stehen, dann drehte sie sich langsam um und ging zurück, wich der Pfütze aus und blieb dann irgendwo in der Mitte des Raumes stehen. Ihr Blick fixierte den Fußboden, wurde dann auf Sofia gelenkt, als diese Corvinus’ halb unausgesprochenen Befehl befolgte und, nach einem kurzen Blick zu Siv, verschwand. Danach irrte Sivs Blick kurz im Raum umher, schweifte über den Tisch am Fenster mit dem Essen – ihr Magen grummelte schon wieder gefährlich –, glitt weiter, über Corvinus, und blieb schließlich an seinem Schreibtisch hängen. Bei seiner Frage sah sie ihn wieder kurz an, aber als sie die Besorgnis in seinem Gesicht sah und auch meinte, so etwas wie Vorwurf in seinen Augen erkennen zu können, schlossen sich ihre Lider für einen Augenblick, und als sie sie wieder öffnete, hatte sich ihr Kopf um eine Winzigkeit gesenkt, und nun sah sie auf den Boden. Was sollte sie ihm sagen? Was sollte sie ihm sagen? Sie konnte ihm doch nicht einfach sagen, dass sie schwanger war, wie sollte sie das denn tun – salve, mir geht’s gut, ach übrigens, ich erwarte dein Kind. Oh ja, hervorragende Idee. Ihr Kopf dröhnte unter dieser ironischen Stimme, die in ihr laut wurde. Ganz toll. Sag’s ihm. Lass es beilläufig fallen. Und dann? Drehst du dich um und gehst? Sivs Brust hob sich, als sie tief einatmete und die Luft in einem Seufzer wieder entließ. Wieder wanderte ihr Blick zu ihm, begegnete kurz dem seinen und saugte sich dann irgendwo an seiner Brust fest. "Ich bin nicht krank", erwiderte sie. Suuuper, höhnte die Stimme. Das war die Wahrheit, verteidigte sie sich selbst. Sie war nicht krank. "Ich sage nicht, weil ich nicht bin krank. Übel sein, das ist alles. Geht vorbei." Auch das war das nicht gelogen. Siv hoffte zwar nicht, dass es so lange dauern würde – auch wenn sie gehört hatte, dass es, wenn auch selten, vorkommen konnte bei manchen Frauen –, aber spätestens in rund acht Monaten würde es vorbei sein. Nur: sie kam gerade ins Plappern. Und das war ganz und gar nicht gut, verriet sie doch im Grunde genau dadurch, dass doch etwas los war. Sie konnte nicht einmal die Wahrheit verschweigen, ohne dass es auffiel. Und sie wusste es sogar selbst, sie wusste, dass sie besser den Mund halten sollte jetzt, aber sie konnte sich nicht zurückhalten. "Ich bin nicht krank, nur übel."

    Sivs Körper wurde erbärmlich von Krämpfen geschüttelt, und es dauerte ein bisschen, bis das Würgen nachließ. Sofia hatte inzwischen von dem kleinen Tisch am Fenster einen Becher voll Wasser und ein Tuch geholt, das sie vorher angefeuchtet hatte. Damit wischte sie nun vorsichtig über Sivs kalkweißes Gesicht. Anschließend hielt sie ihr den Wasserbecher hin, den Siv dankbar annahm und zur Hälfte in einem Zug leerte. "Danke", murmelte Siv. Sie wich Corvinus’ Blick aus und sagte kein Wort, teils, weil sie sich noch nicht sicher war, ob sie sich wirklich unter Kontrolle hatte, teils, weil sie nicht gewusst hätte, wie sie seinem Blick begegnen sollte. Sofia hatte aber keine Scheu. Sie strich über das Haar der Germanin, die sich immer noch auf dem Möbelstück abstützte – ein schmaler, aber hoher Tisch, wie sie nun feststellte – und sich das feuchte Tuch auf den Mund presste, das das Soffchen ihr gegeben hatte, dann drehte sich die Griechin zu Corvinus um und zuckte hilflos mit den Schultern. "Sie sagt, dass sie nicht krank ist. Sie macht auch keinen kranken Eindruck. Aber in der letzten Zeit ist ihr jeden Tag schlecht, vor allem Vormittags, auch wenn sie das nicht zugeben will, ich merk das trotzdem, Dominus!" Siv verdrehte die Augen. Sofia hatte ja keine Ahnung, wie oft ihr tatsächlich speiübel war – obwohl die Übelkeit beinahe sprunghaft angestiegen war und immer plötzlicher und schneller zuschlug, schaffte sie es immer noch ab und zu, sich zurückzuhalten, und in zwei von drei Fällen, wenn sie es nicht konnte, war sie ohnehin allein oder konnte sich rechtzeitig verkriechen, so dass niemand etwas merkte. Bildete sie sich jedenfalls ein. "Übel. Mir ist übel. Das ist alles." Sie trank noch einen ein paar Schluck Wasser, um den säuerlichen Geschmack aus ihrem Mund zu bekommen, dann faltete sie das feuchte Tuch einmal zusammen und wischte sich erneut über das Gesicht. "Dir ist doch nicht nur übel, Siv, wem willst du das erzählen? Ein- oder zweimal, aber so lange schon?" Siv winkte nur ab. "Alles gut. Alles in Ordnung. Tut mir leid, das, entschuldige. Ich hole was, für sauber machen." Damit drehte sie sich ganz um und ging zur Tür.

    Das Opfer für ihre Götter und das für Iuno war inzwischen einige Tage her – sie hatte das Geld von Brix bekommen, allerdings hatte er diesmal nicht so schnell aufgegeben herauszufinden, wofür sie so viel brauchte. Siv hatte sich jedoch geweigert, etwas zu verraten, hatte nur gemeint, er solle ihr helfen oder es lassen, und irgendwann hatte Brix eingesehen, dass es ihr ernst war damit. Er hatte ihr wortlos die nötigen Münzen in die Hand gedrückt, und Siv hatte mit einem leise gemurmelten Danke entgegen genommen – aber seinen Blick hatte sie nicht vergessen. Irgendwann würde sie ihm erzählen müssen, wofür sie es gebraucht hatte, das war sie ihm schuldig. Aber es war ja nicht so, dass er es sich in nicht allzu ferner Zukunft selbst würde denken können. Und sie war fest entschlossen, ihm vorher noch davon zu erzählen, bevor er etwas würde sehen können. Nur, sie musste es Corvinus zuerst sagen. Er hatte ein Recht darauf, und das nicht, weil sie Sklavin war und er ihr Herr, sondern weil er der Vater war. Siv seufzte leise, während sie in der Küche die Sachen für Corvinus’ Mittagessen zusammenstellte. Sie hatte es ihm bis jetzt nicht gesagt, sie hatte nicht einmal Andeutungen gemacht, und sie hatte sich alle Mühe gegeben, sämtliche Anzeichen vor ihm zu verbergen – was auch nicht allzu schwer gewesen war, immerhin hatte er gerade vormittags genug zu tun. Es wurde allerdings langsam kompliziert, ihren Zustand vor den anderen Sklaven zu verschleiern. Siv hatte gewusst, dass manchen Frauen schlecht wurde und manchen nicht, sie hatte auch gewusst, dass es Frauen gab, denen sehr schlecht wurde, aber dass sie zur letzten Kategorie gehören würde und vor allem, dass es ihr so schlecht gehen würde, das hatte sie nicht geahnt. Auch jetzt führte der Essensgeruch, der ihre Nase umwehte, wieder dazu, dass ihr Magen revoltierte.


    Die Germanin stellte die letzten Sachen auf das Tablett und nickte Sofia zu, die bereits fertig war mit ihrem, auf dem sich eine Auswahl an Getränken befand. Gemeinsam verließen sie die Küche und steuerten Corvinus’ Arbeitszimmer an, und Siv begann sich zu wünschen, sie hätte das Tablett mit dem Wasser und den Säften. Sie hatte sich heute schon einmal übergeben, aber das hatte bei ihr nichts zu sagen, ganz und gar nicht. Allein von ihrer Figur her hätte man auch noch nicht ahnen können, dass sie schwanger war, weil ihr dafür viel zu oft schlecht war. Sofia ging vor ihr, und Siv schob jeden Gedanken an Übelkeit weg und setzte dazu an, die Griechin zu überholen, damit sie selbst die Tür öffnen konnte – aber schon waren sie bei Corvinus’ Arbeitszimmer angelangt, und, oh Wunder, das Soffchen brachte es fertig, die Tür nach dem Klopfen zu öffnen, ohne etwas zu verschütten. Stolz strahlte die Griechin sie an und wäre beinahe gegen den Pfosten gestoßen, aber Siv warnte sie noch rechtzeitig mit einem leisen Laut, und gemeinsam gingen sie hinein und stellten die Tabletts ab. Und Sivs Übelkeit wurde von einem Moment zum nächsten schier übermächtig. Einen winzigen Moment stand sie nur da wie festgefroren, dann schlug sie ihre Hand vor den Mund und machte sich mit einem Satz auf den Weg nach draußen, während sie schon anfing zu würgen. Sie schaffte es noch nicht einmal bis zur Tür. Ihr Magen schien zu explodieren, und würgend erbrach sie sich neben einem Möbelstück. Was für eins es war, dafür hatte sie keinen Blick übrig, aber es musste dafür erhalten, dass Siv sich an ihm festklammerte, während sie mit der anderen Hand ihre Haare zurückhielt und ihr Körper sich schüttelte. Sie bemerkte kaum, wie Sofia auf einmal neben ihr stand und besorgt über ihren Rücken strich. "Oh Siiiv", rief sie bekümmert aus. "Du musst wirklich mal was dagegen tun, das geht doch schon die ganze Zeit so, du solltest Brix sagen er soll einen Medicus rufen. Irgendwas stimmt da doch nicht!" Hätte Siv nicht so viel damit zu tun gehabt, endlich ihren revoltierenden Magen unter Kontrolle zu bekommen, hätte sie Sofia nun wütend angefaucht – aber auch so reichte es noch, dass sie der Griechin einen Blick zuwarf, der jene tot hätte umfallen lassen, wenn Blicke denn töten könnten. Sofia war naiv genug, um nicht eins und eins zusammenzuzählen und die richtigen Schlüsse zu ziehen, aber Corvinus war bei weitem nicht so dumm – und selbst wenn er nicht sofort den richtigen Schluss zog, würde er nun fragen, was los war. Und Siv konnte sich, nach Sofias besorgter Ansprache, kaum mit einer vorübergehenden Übelkeit herausreden. Im nächsten Moment beugte sich die Germanin schon wieder vornüber und erbrach sich erneut, obwohl in ihrem Magen schon lange nichts mehr war.

    Corvinus’ Schmunzeln ließ Siv einen wohligen Schauer über den Rücken laufen, und es verführte sie beinahe dazu, ihn erneut zu küssen, aber sie beherrschte sich und zog sich stattdessen die simple weiße Tunika über, die sie zum Schlafen trug, wenn sie im Servitricuum schlief, gemeinsam mit den anderen Sklavinnen. "Beides?" Sie streifte die Tunika über ihren Kopf und griff nach ihren Haaren, um sie unter dem Stoff hervorzuziehen, und grinste ihn schelmisch an. Bei seinen weiteren Worten zog sie eine Augenbraue hoch. Sie wusste, dass Corvinus in der Regel gar nichts frühstückte, sondern höchstens etwas Milch trank, aber jedes Mal, wenn sie dafür zuständig gewesen war, ihn in der Früh zu versorgen, hatte sie einfach etwas gebracht, und versucht ihn zu überreden auch etwas davon zu essen. "In Ordnung. Obst, Honigfladen." Sie lächelte und sah ihm nach, wie er den Raum verließ, und auch danach rührte sie sich einen Moment lang nicht. Sie dachte nicht großartig an irgendetwas – aber sie genoss das Gefühl, sich einfach… wohl zu fühlen. Ein Lächeln spielte um ihre Mundwinkel und tanzte in ihren Augen, bevor sie sich den leeren Becher griff und das Cubiculum ebenfalls verließ, in Richtung Küche.


    ~ finis ~

    Siv glaubte ihren Ohren nicht zu trauen, als Fhionn antwortete. Sie verstand nicht ganz, was die Keltin sagte, sie hatte das irgendwie falsch verstanden, sie musste es falsch verstanden haben, denn ganz sicher fing Fhionn jetzt nicht an, sich lustig zu machen über das, was sie getan hatte, oder was ihr bevorstand. Aber Corvinus’ Reaktion und die der anderen machte deutlich, dass Siv die Keltin offenbar doch richtig verstanden hatte. Ihr blieb die Luft weg bei dem, was Corvinus von Brix forderte, und nicht nur Schreck, sondern zu einem winzigen Teil auch Stolz erfüllte sie, als der Germane seinem Herrn die Stirn bot und sich weigerte. Brix mochte falsch finden, was Fhionn getan hatte, aber er wusste es einzuordnen. Vermutlich war es gut, dass sie sprachlos war, dass sie keine Worte mehr fand, sonst hätte sie sich möglicherweise ebenfalls eingemischt – und das hätte vermutlich das Fass zum Überlaufen gebracht. Allerdings besorgte Fhionn das. Sie platzte mit all dem heraus, was sie in der Nacht schon hätte sagen sollen – und Corvinus brüllte los. Siv starrte ihn erschrocken an und sagte immer noch nichts, beobachtete wie Alexandros schnell hinter Corvinus hereilte, wie Brix mit Fhionn verschwand, und anschließend auch Dina und Tilla. Und Siv war allein. Verstört sah sie sich im Atrium um. Die Öllampen brannten immer noch, obwohl inzwischen genug Sonnenlicht hereinfiel, und wieder entstanden vor ihrem inneren Auge Bilder, unheilvolle Bilder. Momente lang stand sie wie erstarrt da, dann riss sie sich los und verschwand ebenfalls aus dem Atrium. Sie sah Brix etwas weiter den Gang entlang an einer geöffneten Tür stehen und zögerte einen Augenblick lang, dann öffnete sie die nächstbeste Tür und verzog sich in das Gästezimmer dahinter. Leise schloss sie die Tür hinter sich und ließ sich dann an dem Holz entlang zu Boden sinken. Jetzt, endlich, wo sie allein war, wo niemand da war, der sie sehen konnte, niemand, für den sie da sein musste, niemand, dem sie noch hätte helfen können, und es nichts mehr gab, was sie noch für Fhionn hätte tun können in diesem Augenblick, brach der Schrecken ungehindert hervor. Sie begann haltlos zu zittern, schlang die Arme um ihren Oberkörper und fing an zu schluchzen, aber es war ein seltsames Schluchzen, tonlos und ohne Tränen. Sie starrte blicklos vor sich hin, und ihr Oberkörper begann, ohne dass sie es merkte, sich vor und zurück zu wiegen.

    Siv zuckte die Achseln, als Nuala scheinbar etwas verunsichert nachfragte. "Keine Ahnung. Ich kenn Orestes kaum. Ich kann nur mit… Kithara…", das fremde Wort wollte so gar nicht in die germanische Sprache passen, fand Siv, "… und Rezitation und so wenig anfangen. Aber wenn du so was kannst und Orestes das hören will…" Wollte Corvinus so was auch hören? Siv grübelte weiter, reichlich unentschlossen. Aber eigentlich war es vorerst auch egal, erst mal musste sie überhaupt lesen lernen, und davor vernünftig Latein, also wirklich vernünftig, und überhaupt… Sie hatte Fortschritte gemacht, recht schnell anfangs sogar, aber jetzt kam es irgendwie ins Stocken. Und das ärgerte sie. Vielleicht sollte sie Cassim mal bitten, sich mit ihr in seiner Freizeit zu treffen und mit ihr zu üben. Sie wusste, dass Freizeit etwas war, was für Sklaven oft sehr spärlich bemessen wurde, aber sie hatte das Gefühl der Parther mochte sie. Vielleicht ließ er sich ja überreden.


    In der Küche musterte sie Tilla kurz verwirrt. "Ein Geschenk? Eh, nein. Nein, sie ist Sklavin. Er hat gekaufen, Nuala, heute. Sie ist… seins." Siv nahm von Niki eine Schüssel mit Milchbrei entgegen und bedankte sich bei ihr, dann sah sie der Köchin kurz nach und wandte sich anschließend wieder den anderen beiden zu. "Ich weiß nicht. Nuala, du schlafst wo, weißt du das?"

    Siv musterte Tilla einen Moment lang und schüttelte andeutungsweise den Kopf. Sie verstand nicht ganz, was das Mädchen meinte. Siv arbeitete derzeit nur im Haus und im Garten, mit Corvinus direkt hatte sie gar nichts zu tun, und so wie er sie behandelte – oder besser ignorierte – war sie sich gar nicht mal so sicher, ob es nicht gut so war, dass sie ihm kaum begegnete, auch wenn sich ein Teil von ihr nach ihm sehnte. Und diesem Teil war es egal, wie abfällig er sich gab. Diesem Teil war es egal, wie sehr sie sich dadurch selbst reduzierte, wie erbärmlich und klein sie sich dadurch fühlte. Siv presste die Zähne aufeinander und ließ sich nur zu gern von Tilla ablenken. "Sag nicht den Namen mehr. Nicht Praenomen. Sag Cognomen. Sie alle haben Cognomen verschieden, Corvinus, und Ursus, und Orestes…" Siv lächelte ihr kurz zu, dann wandte sie sich dem Papyrus zu.


    Den sie nicht lesen konnte. Es ärgerte sie etwas, und sie beschloss, noch mehr zu lernen, um es so schnell wie möglich zu können, aber im Moment half ihr dieser Entschluss wenig. Sie sah Tilla an und bemühte sich, anhand ihrer Lippenbewegungen die Worte zu erkennen, die sie von sich gab, aber sie verstand nur die Hälfte. "Avi…" Wen meinte Tilla damit? In letzter Zeit waren einige neue Aurelier in die Villa eingezogen, da Siv aber so weit unten in der Hackordnung stand derzeit, dass sie noch nicht einmal dazu herangezogen wurde, Zimmer herzurichten oder beim Essen zu servieren, so hatte sie die Neuen auch nie wirklich kennen gelernt, sondern war ihnen nur zufällig mal über den Weg gelaufen. Aber sie begriff, dass es um einen Mord ging, dass der Mann offenbar Vater von irgendwem war und dass er etwas mit Gesetzen zu tun hatte. Etwas hilflos konzentrierte Siv sich noch mehr und verstand von den letzten Sätzen etwas mehr. Aber sie hatte keine Ahnung, welcher von den Neuen dieser Avianus war, geschweige denn wie alt er sein mochte. "Ich… ich weiß nicht. Eltern sind… verschieden alt. Mein Vater ist viel mehr alt gesein als Corvinus." Was kein Wunder war, immerhin war Siv die Jüngste gewesen, mit einer Menge älterer Brüder. "Eltern sind… ich weiß nicht. Manchmal da. Manchmal nein. Das ist normal." Bei ihr war es jedenfalls normal gewesen. Das raue Leben in Germanien forderte seinen Preis, von allen – es war keine Seltenheit, dass ein Kind ohne Vater oder Mutter aufwuchs, oder sogar ohne beide, und von der Familie, von Brüdern und Schwestern der Eltern oder den Großeltern großgezogen wurde. Sie selbst war auch ohne Mutter aufgewachsen, und abgesehen von der Tatsache, dass sie damit das einzige weibliche Familienmitglied gewesen war, war das nichts Ungewöhnliches gewesen, und Siv hatte nie sonderlich viele Gedanken daran verschwendet.

    <-- boarisch :D Aba wann ana Allgairisch schwätze dued (odr Gealfiaslarisch), verschteh i's au.


    Meine Aussprache ist "gefärbt", wie man so schön sagt, mit einem Mix aus beidem... Das kommt davon, wenn man in Bayern geboren ist und aufwächst, die Mutter aus dem Oberallgäu kommt und der Vater von ganz woanders her... :]

    Die Flammen begannen, nach den Früchten und Keksen zu lecken, und die begannen zu verbrennen, nicht besonders schnell, nicht besonders langsam. Siv bemühte sich um ein regungsloses Gesicht, aber ein leichtes Stirnrunzeln konnte sie nicht verhindern. Was bedeutete das? Caecus hatte gesagt, an der Geschwindigkeit, in der das Feuer das Opfer annahm, konnte man erkennen, wie gewogen die Götter waren… Aber Siv hatte keine Ahnung, was nun schnell oder langsam war. Sie hätte Caecus mehr ausfragen sollen. Oder vielleicht hier jemanden bitten sollen, ihr zu helfen… Sie kräuselte die Nase etwas und beugte sich vor, näher an die Opferschale heran, und betrachtete die Flammen und die kleiner werdenden Reste des Voropfers. Ihre Nase kräuselte sich erneut, diesmal wegen des Geruchs von dem Verbrannten, der hochstieg, während sie versuchte irgendetwas zu entdecken, was ihr einen Hinweis darauf geben könnte, was Iuno davon hielt. Aber sie konnte es beim besten Willen nicht sagen. Sie blieb sitzen und starrte in die Flammen, bis auch der Rest verbrannt war, dann machte sie Anstalten, sich zu erheben – und hielt inne. Im letzten Augenblick war ihr eingefallen, dass sie sich ja nach rechts wenden musste. Also tat sie das, dann stand sie langsam auf. Zwei Schritte machte sie zurück und betrachtete noch einmal das Kultbild, dann wandte sie sich endgültig um und ging mit dem nun leeren Beutel in der einen und dem kleinen Tragekorb, in dem das Kaninchen saß, hinaus in den Tempelvorhof. Einen Augenblick blieb sie unschlüssig stehen auf den wenigen Stufen, die hinunter führten, dann bewegte sie sich auf den Altar zu, und auf dem Weg dorthin ging sie in Gedanken erneut den Ablauf durch. Das war wichtig, hatte Caecus gesagt. Ein kleiner Fehlgriff konnte darüber entscheiden, ob ein Opfer angenommen wurde oder nicht. Siv holte tief Luft und entließ sie beinahe lautlos wieder. Immerhin war im Tempel nach wie vor wenig los, wofür Siv den Göttern dankte, denn so hatte sie wenigstens nicht das Gefühl, von irgendjemandem beobachtet zu werden – was ihre Aufregung vermutlich noch gesteigert hätte.


    Am Altar angekommen, legte sie ihre Sachen auf den Boden davor ab und bereitete vor, was sie brauchen würde – das Opfermesser, drei Schalen, der Wein, der den Met in dem kleinen Schlauch ersetzt hatte. Caecus hatte von einer Mischung aus Salzlake und Dinkelschrot gesprochen, der Mola Salsa, aber sie hatte nicht gewusst in welchem Verhältnis das gemischt werden musste, und auch nicht, ob sie das im Tempel bekommen würde – und Wein genügte auch, um das Tier zu weihen, hatte Caecus dann noch gesagt. Nachdem sie das erledigt hatte, wusch sie sich erneut die Hände in einer bereitstehenden Wasserschale, warf wieder Weihrauchkörner ins Feuer und holte dann das Kaninchen aus dem Korb. Mit einem sicheren Griff hielt sie es fest, während sie es mit dem Wein weihte. Erneut holte die Germanin dann tief Luft. Was kam nun? Ihre Hand schwebte über dem Opfermesser, zögerte aber kurz, während sie überlegte – dann schlossen sich ihre Finger um den Griff. "Iuno. Das ist Opfer für dich. Sei da, für mein Kind. Bitte." Die Klinge verharrte kurz zitternd in der Luft, während das Kaninchen in ihrem festen Griff zwar etwas bebte, aber sich ansonsten kaum rührte. "Bitte", wiederholte sie wispernd. Dann senkte Siv das Messer und strich damit sacht vom Kopf des kleinen Tiers bis zu seinem Schwanz. Caecus’ Erklärung für diesen Ritus hatte sie nicht ganz begriffen, aber sie hoffte, dass das nicht nötig war, damit alles klappte. Im nächsten Moment schnitt sie mit einer raschen, gekonnten Bewegungen die Kehle des Kaninchens durch. Das Blut floss in eine der drei Schalen, während die Zuckungen des kleinen Körpers rasch schwächer wurden. Siv wartete, bis der Strom versiegte, was nicht wirklich lange dauerte, dann legte sie das Kaninchen auf den Rücken, öffnete den Bauch und weidete es aus. Nacheinander landeten Niere, Leber und übrige Eingeweide in der zweiten Schale, und als Siv damit fertig war, hielt sie wieder inne. Die Aufregung, die während der von früher altvertrauten Tätigkeit des Ausweidens sich verzogen hatte, war plötzlich wieder da. Jetzt kam der entscheidende Moment. Das Verbrennen der Eingeweide und des Rests vom Kaninchen war auch wichtig, aber wenn die Eingeweide nicht makellos waren, konnte man das Opfer vergessen, hatte Caecus erzählt, dann blieb einem nur die Möglichkeit, das Opfer zu wiederholen – entweder sofort oder zu einem anderen Zeitpunkt, wenn man sich davor im alltäglichen Leben angestrengt hatte, so dass Iuno einem mehr gewogen war. Siv dachte kurz daran, wie sie das Kaninchen bekommen hatte. Sie hatte nur diese eine Chance. Brix würde ihr sicher das restliche Geld geben, ansonsten hätte sie das Kaninchen gar nicht erst angenommen vom Händler, wenn sie davon nicht überzeugt wäre – aber ihr ein zweites Mal so viel Geld zu geben, da würde Brix ebenso sicher nicht mitspielen, erst recht nicht wenn er nicht wusste, worum es überhaupt ging. Siv zögerte noch einen Moment, dann wandte sie sich der Schale mit den Eingeweiden zu und begann, sie zu untersuchen.

    Siv störte es nicht, dass Corvinus auf ihr gewispertes Danke nichts sagte. Sie hatte auch keine Antwort darauf erwartet. Sie zu seiner Leibsklavin zu machen, nach allem, was passiert war, konnte nur eines heißen, und das zu wissen war ihr im Moment genug. Sie hatte nicht einmal damit gerechnet, dass er ihr ein so deutliches Zeichen geben würde, nachdem er so zweifelnd gewesen war bei jenem Gespräch, nachdem er ihr aus dem Weg gegangen war in den Tagen danach. Als sich das Thema jedoch Matho zuwandte, zog sich die stille Zufriedenheit zurück in ihr und machte anderen Gefühlen Platz – Unwohlsein und Scham. Siv presste die Lippen aufeinander und sah Corvinus immer noch nicht an, aber in dem, was er sagte, erkannte sie durchaus etwas Richtiges. Sie hatte nie wirklich einen Gedanken daran verschwendet, was er davon halten mochte – und auch nicht daran, dass er sich zuständig für das fühlte, was zwischen den Sklaven geschah. Dass er es als seine Pflicht sah, dann einzugreifen. Sie hatte immer nur sich selbst gesehen, wie begrenzt ihre Möglichkeiten waren, sich gegen Mathos Schikanen zur Wehr zu setzen, weil er am längeren Hebel saß, und wie schwer es ihr fiel, das auch nur sich selbst einzugestehen. Sie hatte nicht mit Corvinus geredet, und sie hatte auch kaum mit einem der anderen Sklaven darüber geredet. Sie atmete tief ein. "Ich wollte selbst, fertig sein damit. Ich meine, zurecht… werden. Zurecht kommen. Selbst schaffen." Noch einmal holte sie tief Luft, dann drehte sie ihren Kopf so, dass sie ihn nun wieder ansehen konnte. "In Ordnung. Ich werde sagen, in Zukunft." Nicht dass sie glaubte, bei Brix würde das je so weit kommen. Ihm konnte sie auch selbst den Kopf zurecht rücken, und selbst davon bezweifelte sie, dass das mal nötig werden würde. Umgekehrt, ja, das war schon öfter vorgekommen und würde auch noch häufiger passieren, da machte sie sich nichts vor. Als Corvinus aber sagte, dass sie sich nicht schämen müsse dafür, was Matho getan hatte, war die Reihe an ihr zu schweigen. Was hätte sie auch sagen sollen? War es vor ihrem Fluchtversuch Trotz und Ärger, was sie Matho entgegengebracht hatte, waren durch ihren Aufenthalt im Keller ein Gefühl der Hilflosigkeit, der Schwäche und der Angst dazu gekommen, gegen die sie sich nicht hatte wehren können. Und sie schämte sich nach wie vor dafür.


    Eine kurze Stille breitete sich aus, und Siv dachte sich nicht das Geringste dabei, als Corvinus Finger über sie glitten, ahnte nichts Böses – und zuckte dann mit einem leisen Aufschrei zusammen, als er anfing, sie zu kitzeln. Die etwas gedrückte Stimmung, die von ihr Besitz ergriffen hatte, verflog. "Neiheihein", kicherte sie, während sie versuchte, seine Hand einzufangen und festzuhalten. In dem kurzen Gebalge kam sie neben ihm zu liegen, und Corvinus stand auf. Siv, die auf der Seite lag, hob ihren Oberkörper an, stützte sich mit einem Arm im Bett ab, während der andere an ihrer Seite ruhte, und betrachtete ihn nur, wie er dastand und sich streckte, seine Haut, die dunkler war als ihre, seine Muskeln, die sich je nach Position lang dehnten oder hervortraten, als er sich reckte. Ein leises Seufzen hob ihre Brust, während ein vages Lächeln ihre Mundwinkel umspielte. "Nein. Leider nicht." Einen Augenblick verharrte sie noch so, dann erhob sie sich ebenfalls. Als sie neben ihm stand, konnte sie es nicht verkneifen, ihm über die Brust zu streichen und einen Kuss auf den Hals zu hauchen, dann bückte sie sich nach ihrer Tunika. "Was willst du? Baden? Oder gleich Frühstück?"

    Nachdem Siv endlich die Villa wieder hatte verlassen können, war sie zunächst auf den Markt gegangen. So früh am Morgen war noch recht wenig los, war ihr nur Recht war, konnte sie Menschenmassen, die sich um sie drängten, doch nach wie vor nicht ausstehen, und würde das vermutlich auch nie wirklich können. Sie brauchte nicht lange, bis sie an einen Stand kam, der unter anderem kleine Opfertiere anbot. Einen Moment zögerte sie und betrachtete das Angebot von ihrem Standpunkt ein Stück entfernt, aber dann gab sie sich einen Ruck und trat vor, um die Tiere aus der Nähe in Augenschein zu nehmen. Sie winkte ab, als der Händler begann, ihr verschiedene Tiere anzupreisen. Sie hatte sich noch einmal umgezogen und trug nun ihre beste Tunika – dass sie Sklavin war, wurde gerade dadurch offensichtlich, denn eine Liberta oder Peregrina hätte sich ein derartiges Kleidungsstück kaum leisten können. Gleichzeitig machte diese Tunika aber auch klar, dass sie zu einem reichen Haushalt gehörte, und das wiederum bewegte den Händler dazu, sie um einiges ernster zu nehmen als so manchen Römer, der sich zuweilen um seinen Stand herumtrieb. Dennoch wollte sie keine Ratschläge, sie wollte selbst ein Tier auswählen. Ein Kaninchen sollte es wieder sein, nicht schlechter und nicht besser als das Opfer für ihre Götter. Aber von Caecus wusste sie, dass das Tier makellos sein sollte, weiß, und weiblich. Nachdem sie sich jedes einzelne weiße weibliche Kaninchen angesehen hatte, deutete sie schließlich auf ein bestimmtes davon. "Wie viel du willst, für das?" Der Händler betrachtete es kurz und lächelte dann zuvorkommend. "Zwanzig Sesterzen, für dieses prachtvolle Tier." Siv starrte ihn an. Dann schluckte sie nur trocken. Sie hatte ein wenig Geld, jeder der Sklaven bekam hin und wieder etwas, wenn sie etwas Wichtiges besonders gut erledigt hatten, oder manchmal auch einfach nur so… Sie hatte nie wirklich gewusst, wofür sie das ausgeben sollte – was sie zum Leben brauchte, hatte sie in der Villa, und Schmuck und sonstiges bedeutete ihr wenig. Gestern war sie zum ersten Mal froh gewesen, ein paar Münzen ihr eigen nennen zu dürfen, weil sie nur so an ein Opfertier kam, dass hoffentlich gut genug war. Sie hatte alles mitgenommen, aber es reichte nicht. Lange nicht. Mit zusammengepressten Lippen sah sie erneut auf die Tiere. Die anderen würden kaum billiger sein, immerhin sahen sie alle recht makellos aus. Davon abgesehen, dass sie das beste haben wollte, das in ihren Augen beste jedenfalls, wäre nun eigentlich ihre einzige Wahl, ein unblutiges Opfer abzuhalten. Aber etwas in Siv sträubte sich vehement dagegen. Mit ihrem Vorhaben sprang sie sowieso schon über ihren Schatten. Es kam gar nicht in Frage, dass sie nun einen Rückzieher machte, und sei es nur ein kleiner. Dafür war ihr das einfach zu wichtig. Und so tat sie etwas, was sie sonst nie getan hätte – sie bat. "Das… ich nicht habe so viel, so viel Geld." Fragend und bittend zugleich sah sie den Händler an, nicht in der Hoffnung, dass er ihr einen Preisnachlass gewährte, denn der würde kaum groß genug sein, dass ihre Mittel ausreichten, aber doch in der Hoffnung, irgendeine Lösung zu finden. Der Mann musterte sie kurz und schien zu überlegen, dann deutete er auf ihren Anhänger. "Der da. Ist das Silber? Dann wird der reichen." Sivs Hand für zu ihrem Hals und legte sich schützend über das kleine Pferd. "Nein", sagte sie – offen lassend, ob der Anhänger tatsächlich aus Silber war oder nicht, aber in einem Tonfall, der deutlich machte, dass sie die Kette nicht hergeben würde. Einen Moment sahen sie sich an, dann fragte sie bittend: "Kann ich später noch Geld bringen?" Der Händler sah sie einen Moment abschätzend an. "Wem gehörst du?" fragte er dann, sein Tonfall genauso wie seine Miene ausdruckslos. Siv zögerte nur einen Moment. Sie wusste, wenn er zu Corvinus ging, war sie vermutlich wieder in Schwierigkeiten, aber das Risiko musste sie eingehen. "Aurelius Corvinus." Sie drehte sich halb zur Seite, neigte den Kopf etwas und schob ihre Haare aus dem Nacken, damit er das Zeichen sehen konnte. "Aurelius, sagst du? Der Senator?" Einen Moment noch musterte er sie, dann nickte er. "Also gut. Gib mir was du hast, und bring den Rest später. Aber wenn du morgen nicht da bist, steh ich bei deinem Herrn auf der Matte, und dann will ich mehr haben!" Siv strahlte ihn an. "Ich werde kommen. Später. Danke!"


    Nur wenig später stand sie vor dem weitläufigen Tempelgelände. Siv drängte die Übelkeit zurück, die sich ihrer wieder bemächtigen wollte. Sie wusste nicht, ob es ein Fehler gewesen war hierher zu kommen. Aber sie würde das hier durchziehen. Einmal atmete sie noch tief ein, dann legte sie ein Tuch über ihre offenen Haare, ging weiter und betrat den Tempelvorhof. Etwas scheu sah sie sich um. Selten nur war sie hier gewesen, es war nicht oft vorgekommen, dass Corvinus in Sklavenbegleitung wünschte, wenn er seiner Tätigkeit nachging. Und sie hatte sich auch nie darum gerissen, einfach weil sie generell sich nicht darum gerissen hatte, ihn irgendwohin zu begleiten, wo sie immer so sehr darauf achten musste, was sie sagte oder tat. Jetzt allerdings war sie froh darum, schon hier gewesen zu sein – es waren vielleicht an zwei oder drei Gelegenheiten gewesen, aber es half, dass sie sich jetzt nicht ganz so verloren fühlte. In Gedanken ging sie zum unzähligsten Mal durch, was Caecus ihr erzählt hatte, unwissend darüber, dass sie vorhatte, das am anderen Tag in die Tat umzusetzen. Ein Fuß setzte sich vor den anderen, langsam, aber nichtsdestotrotz zielstrebig führten sie ihre Schritte in den Tempel hinein. Einen Moment stockte sie auf ihrem Weg, als sie an einer der Wasserschalen vorbeikam. Sorgfältig wusch sie ihre Hände, hatte Caecus doch gesagt, dass diese Reinigung wichtig war. Dann ging sie weiter, bis sie zu Iunos Abbild kam. Regungslos blieb sie davor stehen und schloss kurz die Augen. Vielleicht war es ein Fehler. Sie war Germanin, sie hatte hier nichts zu suchen, und schon gar nicht hatte sie hier zu opfern. Sie respektierte die römischen Götter, es waren immerhin Götter, und wer war sie schon, Göttern – gleich welchen Volkes – den gebührenden Respekt zu versagen? Aber sie verehrte nur die ihren, betete nur zu ihren, opferte nur für ihre, und sie hatte mehr als einmal gesagt, dass ihre Götter die stärkeren wären, wenn es hart auf hart kam. Ob es tatsächlich so war oder nicht, war gleichgültig. Sie war ihren Göttern gegenüber loyal.


    Aber sie hatte niemals über die römischen Götter geschimpft, hatte nie deren Namen in den Schmutz gezogen. Auch wenn es nicht die ihren waren, es waren Götter, so einfach war das in Sivs Augen. Und sie lebte nicht unter Römern, war Sklavin eines Römers, nein, sie lebte mitten in der Hauptstadt des Römischen Reichs, mitten im Zentrum ihrer Macht. Im hohen Norden mochten ihre Götter die stärkeren sein, aber hier waren sie es sicherlich nicht, das war ihr bei aller Treue klar. Das allein war für sie bisher kein Grund gewesen, nun auch römischen Göttern zu opfern, aber etwas grundlegendes hatte sich geändert. Es waren nicht ihre Götter, aber es waren Corvinus’ – und damit auch die ihres Kindes. Sivs Augen öffneten sich wieder, und ihre Hand legte sich unwillkürlich auf ihren Bauch. Für sie war das Grund genug, um auch Iuno um ihren Beistand anzuflehen. Sie hoffte nur, dass es für Iuno auch Grund genug war, ihr diesen Beistand zu gewähren. Dass die Göttin die Tatsache, dass ihr Kind zur Hälfte Römer war, über die Tatsache stellte, dass die andere Hälfte germanisch war – dass sie, die Opfernde, Germanin war. Dass Iuno in erster Linie die Schutzgöttin der Mütter war und nicht die Schutzgöttin römischer Mütter. Erneut holte Siv tief Luft, dann ließ sie sich niedersinken, kniete sich hin. Ihre Hand zitterte leicht, als sie Weihrauchkörner hervorholte und sie in die Schale vor dem Kultbild rieseln ließ, in der ein kleines Feuer brannte. Die Körner begannen sofort zu glühen, und bald breiteten sich Rauchschwaden um sie herum aus. Wieder rang Siv einen Augenblick mit Übelkeit, als der schwere Duft in ihre Nase drang und ihre Sinne vernebelte, aber sie blieb standhaft. Das Beben ihrer Hände dagegen brachte sie nicht wirklich unter Kontrolle, als sie nun Früchte, Dinkelkekse und Blumen hervorzog. Sie hatte gestern lange in den Vorratsräumen herumgestöbert, bis sie zufrieden gewesen war mit ihrer Auswahl. Glänzende Äpfel legte sie vor Iunos Abbild und Trauben, sogar ein paar Orangen hatte sie mitgenommen und Datteln. Die Dinkelkekse hatte sie mit Nikis Hilfe am Abend noch selbst gebacken – die Köchin hatte zwar etwas fragend geschaut, aber nichts gesagt, und Siv hatte den Blick ignoriert. Die Blumen waren aus dem Garten der Villa, und bei diesen hatte sie darauf geachtet, nicht nur die schönsten zu nehmen, sondern hauptsächlich solche, die sie selbst aus Samen oder Ablegern gezogen hatte. Caecus hatte nichts davon erwähnt, dass das wichtig wäre, aber da kam schlicht die Germanin durch – ihre Götter legten Wert darauf, dass in den Opfern persönliche Arbeit steckte, unter anderem in dem Met, der eigentlich selbstgebraut sein sollte. Und so waren es nicht nur Blüten von schönen und seltenen Pflanzen, die sie auslegte, sondern die, die ihr am meisten abgefordert hatten. Sie hatte sogar eine Blüte von der Orchidee abgebrochen – Corvinus würde vermutlich ausrasten, wenn ihm das auffiel –, weil die Orchidee die Pflanze im Garten war, um die sie sich in der letzen Zeit mit Abstand am meisten bemüht hatte. "Iuno", murmelte sie. "Himmelskönigin. Schutzgöttin, von Haus und Frauen. Von Mütter." Sie schluckte, als die Nervosität wieder größer wurde. Caecus hatte ihr noch mehr Beinamen genannt. Noch mehr offizielle Anreden. Und erst vor kurzem war sie sie in Gedanken durchgegangen, hatte sich Worte zurecht gelegt. Aber jetzt war ihr Kopf wie leergefegt. Einen Moment schwieg sie, dann fing sie an zu reden, fing an das zu sagen, was ihr auf dem Herzen lag – auf Germanisch wäre es ihr leichter gefallen, aber sie zwang sich dazu, Latein zu nutzen, allein schon aus Respekt vor der Göttin, die sie um Beistand bat. "Iuno. Ich weiß… ich bin Germanin, ich weiß, du nicht meine Göttin bist, und ich weiß, dass ich, dass Opfer von mir nicht ist… nicht ist sein soll, weil ich keine Römerin bin. Trotzdem… Bitte hilfe. Ich bin… ich habe das, hier, das Opfer für dich. Bitte nimm Opfer. Hilf, dass alles gut ist. Das…" Siv schluckte, und wie schon bei ihrer Bitte an Hel musste sie sich überwinden, um es auszusprechen – aber wie schon in der Nacht wusste sie, dass sie sagen musste, worum es ging. "Mein Kind. Hilf, dass es gesund ist. Dass alles gut ist, nicht für mich, für Kind, mein Kind. Bitte." Ihre Stimme war nur ein Flüstern, das schließlich verstummte. Es gäbe noch viel mehr zu sagen, Siv hatte so viel im Herzen, hatte sich so viel zurechtgelegt, aber sie in diesem Augenblick wusste sie nicht mehr zu sagen. Während sie die die Blumen um die Opferschale herum anordnete und anschließend die Früchte dem Feuer übergab, hoffte sie nur, dass ihre Worte ausreichten, um Iuno zu zeigen, wie ernst es ihr war.

    Für den Rückweg brauchte Siv etwas länger als für den Hinweg, steckten ihr doch die letzten Stunden im Wald in den Knochen. In Rom selbst machte sie sich zuerst wieder auf den Weg zur Villa Aurelia. Sie hatte noch etwas anderes vor, sie hatte auch Brix angekündigt, dass sie den Vormittag brauchte, aber wenn Corvinus nichts merken sollte, dann musste sie da sein, um ihn zu wecken. Davon abgesehen konnte und wollte sie so nicht tun, was sie vorhatte. Sie musste sich waschen und umziehen, zierten doch ihre Tunika und vermutlich auch ihr Gesicht Blutspritzer von dem Ritus in der Nacht. Der Himmel im Osten war inzwischen von der hauchzarten Rosatönung übergegangen in strahlende Rot- und Orangetöne, das tiefdunkle Blau wurde immer weiter zurückgedrängt, und die Sterne verblassten schon. Siv fluchte lautlos und beeilte sich noch mehr. Um diese Jahreszeit fiel die Uhrzeit, zu der Corvinus in der Regel aufstand, mit Sonnenaufgang zusammen, was für sie eigentlich recht praktisch war, weil sie so kaum daneben liegen konnte in ihrer Zeiteinschätzung. Wenn sie allerdings zu spät kam, dann fiel ihm das sofort auf. Und so, wie sie gerade war, konnte sie nicht zu ihm gehen.


    Das letzte Stück des Wegs rannte sie, was vermutlich nicht sonderlich klug war, denn so würde sie nicht nur mit Blutspritzern verziert, sondern auch verschwitzt ankommen – aber daran dachte sie nicht. Die Sonne stieg gerade über den Horizont, als sie durch den Nebeneingang der Villa hinein schlüpfte und so leise wie möglich zu ihrer Kammer huschte. Noch war alles still im Haus, glücklicherweise, und Siv beeilte sich, zog sich die Tunika vom Leib und wusch sich so schnell wie möglich, bevor sie eine frische anzog und dann zu Corvinus ging, um ihn zu wecken. Später als sonst, aber er fragte zum Glück nicht wirklich nach – hätte er, hätte sie sich vermutlich verhaspelt, so schlecht wie sie im Lügen war. Aber auch so war sie nervös genug an diesem Morgen. Sie prallte beinahe mit Corvinus zusammen, als sie ihm eigentlich ausweichen wollte, sie stieß einen Wasserbecher um, als sie sein Frühstück brachte, und sie brauchte fast doppelt so lang wie sonst, bis sie ihm die Toga für die Salutatio angelegt hatte, was ihr den einen oder anderen verwunderten Blick von Corvinus eintrug, aber auf eine Nachfrage hin murmelte sie nur, dass sie wenig geschlafen habe – was stimmte – und dass der wenige Schlaf von wirren Träumen geprägt gewesen sei – was auch stimmte. Und da Corvinus nicht weiter nachfragte, konnte sie mit Fug und Recht behaupten, dass sie ihn nicht angelogen hatte. Sie hatte ihm nur nicht alles erzählt. Aber ein schlechtes Gewissen verursachte seine schlichte Akzeptanz der Ehrlichkeit ihrer Worte trotzdem.


    Ihre Aufregung nahm noch zu, während Corvinus sich Zeit ließ, viel mehr Zeit als normalerweise morgens, so kam es ihr vor, und ihr Magen begann zu rebellieren, schien sich regelrecht zu verdrehen. Sie flehte zu den Göttern, dass er endlich verschwand, damit sie endlich weitermachen, es hinter sich bringen konnte, und sie war so heilfroh, als Corvinus ging und sie endlich, endlich etwas tun konnte, dass sich ihre Aufregung etwas legte und auch ihre Übelkeit verschwand. Einen Moment lang blieb sie noch mitten in seinem Cubiculum stehen und atmete ein paar Mal tief ein und aus, dann drehte sie sich auf dem Absatz um und flitzte in ihre Kammer, wo sie das zweite Bündel holte, das sie gestern vorbereit hatte. Danach verließ sie erneut die Villa Aurelia, ebenso leise und unbemerkt wie in der Nacht.