Beiträge von Aureliana Siv

    Abermals rührte Siv sich eine ganze Weile nicht. Der Becher war noch in den Händen, die wieder in ihrem Schoß ruhten. Die Kohlen verglühten immer mehr, bis sie irgendwann ganz verloschen. Wind strich durch die Pinien und spielte mit ihren Haaren, ließ goldfarbene Strähnen hochflattern und wieder niedersinken. Siv saß einfach nur da. Sie dachte nichts, in diesen Augenblicken, nichts bewusstes jedenfalls, ihr Kopf schien leer zu sein, während ihr Geist in Gefilden schwebte, die sie nicht wahrzunehmen imstande war. Der Wind zerrte etwas stärker an ihr, ihren Haaren, dem Stoff ihrer Tunika, und ohne dass Siv sich dessen bewusst wurde, begann sie etwas zu frösteln, als es kühler wurde. Sie bemerkte es nicht, ebenso wenig wie sie das Erlöschen der letzten Funken bemerkte oder das Abflauen des Windes nach einiger Zeit. Der Himmel im Osten färbte sich schon rosa, als sie aus ihrer Starre erwachte. Sie blinzelte ein paar Mal, sah auf die nun kalte Feuerstelle hinunter, etwas verwirrt, brauchte eine Weile, bis sie ins Hier und Jetzt zurückfand. Ihre Brust hob sich unter einem tiefen Atemzug, die Lungen weiteten sich und sogen die kühle Luft ein. Ihre Nasenflügel bebten leicht. Wieder nahm der Wind etwas zu, zupfte an Strähnen, ließ sie abermals frösteln. Und dann, plötzlich, lag inmitten des kühlen Luftstroms ein warmer Hauch. Ein kleiner Luftwirbel nur, der sich lediglich durch seine Temperatur von dem Wind abhob, von dem er ein Teil war. Er tanzte um die Germanin herum, wie das Versprechen des Frühlings, das in den letzten Winterstürmen schon zu schmecken war, auch wenn alles noch unter Schnee begraben lag. Man konnte ihn riechen, dann, den Vorboten des Frühlings, eine leichte, tanzende Brise, die im Sturm mitzog und von neuerwachendem Leben kündete, für alle, die es vernehmen konnten. So ähnlich empfand Siv jetzt. Ein warmer Hauch lag in dem kühlen Wind, ganz sacht nur umspielte er sie, kaum spürbar, und doch war sie sich sicher, dass er da war. "Danke", wisperte sie. "Danke."


    Einen Moment blieb sie noch sitzen, dann erhob sie sich und streckte ihre Beine, die steif geworden waren. Sie wandte sich der Opferstelle zu, brachte die Steine weg und legte die Äste beiseite, zeichnete dann wieder Symbole in die Luft, die die Heiligmachung rückgängig machen sollte. Anschließend verwischte sie die Spuren des Feuers und packte ihre Sachen weg, den kleinen Metschlauch, der noch zur Hälfte gefüllt war, den Becher, das Messer. Zum Schluss nahm sie die Überreste des Kaninchens und legte sie auf die Stelle, an der sie das Opfer abgehalten hatte, brachte sie als Geschenk dar für die Götter und die Ahnen, die da gewesen waren. Zwei Schritte ging sie rückwärts, ihr Blick noch darauf geheftet. Ein letztes Mal murmelte sie etwas, lautlos bewegten sich ihre Lippen, dann drehte sie sich um und machte sich auf den Heimweg.

    Einen Moment blieb die Germanin sitzen. Sie wusste, was nun kam. Dennoch hielt sie kurz inne, bevor sie begann, das Opfertier zu häuten und zu zerlegen. Ein kleines Feuer war schnell entfacht, über dem sie das Kaninchen nun zubereitete. Sie hatte nicht vor, viel davon zu essen, obwohl eine Opferung auch immer ein Festmahl war, sein sollte, zu Ehren der Götter – aber sie würde nicht viel hinunter bringen. Davon abgesehen war sie bei weitem nicht sicher, wie viel sie würde bei sich behalten können, und das war mit Sicherheit nicht geeignet, ihren Respekt den Göttern zu erweisen. Und es war stets so gewesen, was auch immer übrig blieb, wurde bereit gestellt für Ahnen und Götter. Es war nicht verloren, es zeugte von Ehrerbietung. Sie wartete, versank wieder in Trance, starrte in die Flammen und prüfte von Zeit zu Zeit das Fleisch. Als es fertig war, nahm sie das Holz mit den Fleischstücken weg, wartete, bis es etwas ausgekühlt war, dann aß sie ein Stück. Wieder blieb sie sitzen, dann, starrte in die Flammen, die immer niedriger loderten, die herunterbrannten. Keine Bewegung machte sie, um das Feuer wieder zu schüren. Sie brauchte es nicht mehr. Als die Flammen schon so niedrig brannten, dass sie nur noch leicht schimmerten, griff sie erneut nach dem Beutel und holte einen kleinen Becher heraus sowie den Schlauch mit Met. Langsam, andächtig, füllte sie den Becher, gerade so viel, dass ein paar Schluck darin waren. Auch hier galt im Grunde: ein Opfer war immer ein Fest, zu Ehren der Götter – und die Menschen sollten feiern. Aber sie hatte noch etwas vor, sie konnte es sich nicht leisten, sich jetzt zu betrinken. Sie hoffte inständig, dass die Götter, ihre Götter, auch dafür Verständnis hatten. Ebenso langsam und andächtig wie zuvor hob sie den Becher dann etwas an, auf etwas unter Kinnhöhe.


    "Odin", wisperte sie. "Mächtigster der Asen. Möge deine Herrschaft ewig währen." Sie trank einen Schluck. Dann hielt sie kurz inne. Der nächste galt Freyr und Njord. Freyr, dem Gott der Fruchtbarkeit, hatte sie aber überhaupt erst zu verdanken, dass sie nun hier saß und den Göttern ein Opfer brachte. Am Ende dachte er noch, sie bedankte sich für die Schwierigkeiten, in die er sie gebracht hatte… Siv schüttelte den Gedanken ab und nahm den nächsten Schluck. Wieder flüsterte sie die Namen der beiden Götter und einen kleinen Trinkspruch hinterher. Dann hielt sie erneut inne. Der dritte Schluck war traditionell für die Ahnen, und auch diesen trank sie, während sie der Ahnen gedachte – und vor allem ihrer Eltern. Dann nahm sie den Becher in beide Hände und ließ diese in ihrem Schoß ruhen. Im vagen Licht der nun nur noch schwach glimmenden Kohlen starrte sie in die Flüssigkeit hinein. Drei Trinksprüche waren es in der Regel. Drei. Beim nachfolgenden Fest wurde mehr getrunken, und bei jede Runde, jeder Schluck galt den Göttern. Aber anfangs gab es nur drei. Siv hatte vor, einen vierten anzufügen. "Hel." Ihre Stimme war nur noch ein Hauch. "Schutzgöttin. Mächtige Herrin der Unterwelt. Ich bitte dich… hilf mir. Hilf mir… bei dieser ganzen Sache. Nicht für mich, aber für…" Siv stockte, aber wenn sie wirklich Unterstützung von den Göttern, von Hel wollte, dann musste sie auch aussprechen wofür. "Für das Kind. Mein Kind. Bitte." So einfallslos. Sie sollte mehr sagen, das wusste sie… Aber ihr fehlten einfach die Worte, und so hoffte sie, dass Hel in ihr Herz sah und schlicht verstand. "Hel", wiederholte sie nur, und leerte den letzten Schluck, der in dem Becher war.

    Nach dem Kuss griff er nach ihren Händen und hielt sie fest, und Siv hielt inne und erwiderte seinen forschenden Blick. Ihr Lächeln erstarb langsam und machte einem sanften, wenn auch aufmerksamen Ausdruck Platz. Wieder zuckten ihre Mundwinkel leicht nach oben, und als Corvinus’ Arme sie dann umschlossen und sie an sich zog, folgte sie dem leichten Druck bereitwillig. Ihr Körper war noch heiß, aber an ihren Rücken kam frische Luft, und sie genoss es, so da zu liegen, an ihn geschmiegt seine Nähe zu spüren. So lange schon hatte sie darauf verzichtet. Viel zu lange, so kam es ihr vor. Die eine Nacht, in der sie bei ihm geschlafen hatte, vor Tagen, war viel zu wenig gewesen um das aufzuholen, was sie in den Wochen davor vermisst hatte. Ruhig ging ihr Atem und tief, und ihre Augen schlossen sich für einen Moment, als sie eine Berührung in ihrem Haar spürte. Dann öffnete sie ihre Lider wieder, als Corvinus sprach. Die Kammer nebenan? Sie wollte ihn ansehen, aber sie konnte sich nicht rühren. Sie wusste, was das hieß. Er wollte, dass sie seine Leibsklavin wurde. Seine Leibsklavin. Ihr Herz setzte für einen Schlag aus, bevor es dann annähernd doppelt so schnell weiterschlug. Vor ein paar Wochen noch hatte er sie nicht einmal angesehen. Und jetzt… Sie atmete ein paar Mal tief ein und aus. Es hieß nichts anderes, als dass er ihr tatsächlich verziehen hatte. Und dass er sich entschieden hatte. Für sie. Für das, was auch immer zwischen ihnen war. Egal, welche Schwierigkeiten das bringen mochte, für sie und für ihn. Erneut schlossen sich ihre Augen, und ihre Lippen verzogen sich zu einem glücklichen Lächeln. Für einen winzigen Moment hatte sie das Gefühl, dass Tränen aufstiegen, weil die Freude so tief war, weil sie so erleichtert war, darüber, dass Corvinus nicht den Gründen nachgegeben hatte, die dagegen sprachen.


    Tränen kamen keine, aber sie drückte ihre Lippen kurz auf seine Brust. "Danke", wisperte sie leise. Ihre Finger strichen sacht über seine Haut, und ihr Oberkörper hob und senkte sich mit seinem, wenn er atmete. Dann, auf einmal, holte er tiefer Luft als bisher. Sie bewegte sich etwas, drehte den Kopf ein Stück, um ihn ansehen zu können, und er sah sie an – und stellte eine Frage, die sie kurz erstarrten ließ. Einige Moment lang rührte sie sich gar nicht und sagte auch nichts. Dann setzte sie dazu an, etwas zu sagen, brach ab, wich seinem Blick aus, setzte erneut an, brach wieder ab. Nach einem Augenblick sah sie ihn wieder an und versuchte es ein drittes Mal. "…" Sie holte Luft und wich seinem Blick erneut aus. Sie könnte ihm sagen, dass er ja nicht zugehört hatte, und das wäre sogar die Wahrheit gewesen – aber nicht der Grund, warum sie nichts gesagt hatte. Warum sie nie etwas gesagt hatte. "Weil… Es ist… Ich schäme, dafür. Was er getut. Dass ich nicht konnte wehren. Ich habe Angst gehabt, im Keller. Ich habe… geweint, und geflehen, an Matho, dass mich lasst raus…" Sie presste die Lippen aufeinander und schwieg einen Moment. Spätestens in diesem Moment musste ihm klar sein, wie schwer diese eine Woche für sie gewesen war, nicht wegen des Mangels an Essen oder Trinken – sondern weil sie so gut wie nie weinte. Und erst recht nicht anfing zu flehen. Es musste einiges passieren, damit Siv so weit kam, und selbst dann war sie in ihren eigenen Augen so tief gesunken, dass es tiefer kaum noch ging. Und selbst jetzt sah sie sich nicht in der Lage, Corvinus dabei anzusehen, während sie ihm das gestand. "Das nicht ist ich, nicht meine Art, zu bitten, oder Angst haben, oder schwach sein… aber ich… da…" Sie machte eine hilflose Bewegung mit einer Hand. "Ich schäme dafür. Und ich will nicht, dass Angst, oder Scham, groß wird. Zu groß."

    Als sie die Stadt hinter sich gelassen hatte, atmete Siv tief durch. Sie hatte die Erlaubnis, nun ja, Brix’ Erlaubnis, aber dennoch wäre es schwer geworden zu erklären, was sie nachts in den Straßen Roms zu suchen hatte. Jetzt allerdings war sie im Wald unterwegs, in demselben Wald, in dem sie das Julfest gefeiert hatte mit den zwei Germanen und der Keltin. Ein Lächeln flog über ihr Gesicht, als sie daran zurückdachte. Es hatte so gut getan, hinauszukommen, und sich ihren eigenen Bräuchen zu widmen… Flink huschte sie durch den Wald, fand traumwandlerisch sicher den Weg wieder, den sie damals gegangen waren – in der Stadt mussten ihr bis heute neue Wege dreimal erklärt oder gezeigt werden, bis sie sich einigermaßen sicher war, dass sie sie alleine finden konnte, aber hier, im Wald, hatte sie nicht das geringste Problem sich zu orientieren. Und es war so wunderbar, hier zu sein. Bäume um sich zu haben. Siv hätte jauchzen können, wäre da nicht der Grund gewesen, warum sie überhaupt hier war. Auch wenn ihr Herz sich beträchtlich leichter fühlte hier, konnte sie doch nicht vergessen, was sie in den Wald getrieben hatte.


    Siv war schnell unterwegs, und so brauchte sie nicht ganz eine Stunde, bis sie die Stelle erreicht hatte, an der sie Jul gefeiert hatten – eine kleine Anhöhe, mitten in einem dichten Pinienwald. Nichts deutete mehr auf ihre kleine Feier hin, hatten sie danach doch darauf geachtet, alles so zurückzulassen, wie sie es vorgefunden hatten, und doch wusste Siv auf Anhieb die Stelle zu benennen, an der das Opfer stattgefunden hatte. Auch diesmal hatte sie wieder eines der Kaninchen dabei, die immer in Ställen vor der Küche lebte, so dass Niki es nicht weit hatte, wenn sie eines brauchte. Auch diesmal hatte sie es mit einer Kräutermixtur in tiefen Schlaf versetzt, in dem es nur gelegentlich zuckte. Dieses Mal hatte sie aber noch mehr dabei. Einen kleinen Schlauch, abgefüllt mit etwas von dem Met, den Ursus mitgebracht hatte – der Brauch hätte es gefordert, dass sie es selbst braute, oder wenigstens einer ihrer Verwandten oder Freunde, nicht dass er irgendwo gekauft worden war, aber dazu hatte sie schlicht keine Möglichkeiten, und sie hoffte, die Götter würden ein Einsehen haben, was das betraf. Sie suchte sich zwei gegabelte Äste, holte die Steine, die noch dort lagen, wo sie sie gelassen hatte, und lockerte dann mit ihrem Messer wieder die Grasnarbe, so wie Rutger es beim Julfest getan hatte. Anschließend bewegte sie ihre Finger, zeichnete Symbole in die Luft über der improvisierten Opferstätte, Zeichen der Götter, ihrer Götter. Ruhig bewegten sich ihre Hände, holten das immer noch schlafende kleine Tier hervor, liebkosten für einen Moment das weiche Fell, bevor sie nach dem Messer griffen. Ebenso ruhig umfassten die Finger ihrer linken Hand den Nacken, während die rechte das Messer führten. Ein Schnitt, und Blut sprudelte in die Schale, die sie hingestellt hatte. Hellrot war es, sie wusste darum, aber im Mondlicht war keine wirkliche Farbe auszumachen. Sie wartete geduldig, ließ den warmen Lebenssaft über ihre Finger fließen, bis es schließlich weniger wurde und dann ganz aufhörte. Sachte strich sie mit der anderen noch einmal über das Fell, dann legte sie den schlaffen Körper beiseite. Inzwischen befand Siv sich in einer Art Trance, ihr Körper vollzog die bekannten Handlungen ohne nachzudenken, während ihr Geist woanders weilte. Ein Zweig wurde in die Schale getaucht, um dann die Umgebung und sie selbst mit dem Blut zu bespritzen, zunächst die vier Himmelsrichtungen, dann sie. Im Anschluss hob sie die Schale leicht an und vergoss den Rest über den Stein, der in der Mitte ihrer kleinen Opferstätte platziert war.


    Sim-Off:

    Reserviert

    Caecus hatte ihr tatsächlich weitergeholfen. Sehr sogar. Im Grunde hatte er ihr alles erzählt, was sie zu wissen brauchte, und sogar noch mehr – und das, ohne dass sie nach ihrer Eingangsfrage noch großartig hätte löchern brauchen. Sie hatte den Eindruck gehabt, dass er sich gefreut hatte, ein bisschen was erzählen zu können.


    Anschließend hatte sie sich zusammengesucht, was sie brauchen würde, sowohl für ihr Vorhaben in der Nacht als auch für das am Morgen. Und sie war aufgeregt, so unglaublich aufgeregt, und das nicht wegen dem Opfer in der Nacht. Sie überprüfte dreimal, ob sie alles hatte, bevor sie sich endlich wieder ihrer Arbeit zuwandte, und als es Abend wurde, war sie immer noch so aufgeregt, dass sie nicht hätte schlafen können, selbst wenn sie es gewollt hätte. Aber da sie nicht Gefahr laufen wollte, nicht rechtzeitig wieder aufzuwachen, blieb sie wach, versuchte ein bisschen vor sich hinzudösen und sich auszuruhen, aber blieb wach.


    Mitten in der Nacht schreckte Siv hoch – eingeschlafen war sie doch irgendwann. Aber die Aufregung war geblieben, und so war ihr Schlaf unruhig gewesen und von wirren Träumen gezeichnet, die sie nun hatten aufwachen lassen. Einen Moment blieb sie sitzen, dann erhob sie sich, zog sich schnell eine Tunika über, holte sich das Bündel, dass sie vorbereitet hatte, und schlich sich aus dem kleinen Zimmer, das nun ihres war, um sich auf den Weg zu machen.

    Siv dachte daran wie es gewesen war, bevor sie nach Germanien hatte reisen dürfen. Oh ja, sie verstand Tilla. Sie hätte auch gern so manche Zeit festgehalten… "Ich weiß", seufzte Siv leise. "Ich weiß. Aber du kannst nicht hindern, verhindern, was ändert. Geh zu Niki", bekräftigte sie dann noch einmal. "Und geh zu Fhionn. Und andere."


    Als Tilla dann weiter die Lippen bewegte, hielt Siv plötzlich inne beim Kraulen von Lunas Ohren. Sie war tagsüber nicht bei Corvinus, und sie hatte keine Ahnung, wie Tilla darauf kam – sie schuftete tags, sie arbeitete im Garten, sie putzte die Latrinen, sie schleppte Wasserfässer und wischte Böden und machte die Wäsche. Wenn Corvinus ihr mal über den Weg lief, hatte er nicht einmal einen Blick für sie übrig. "Nein, ich… arbeite. Du weißt doch. Garten, Latrinen…" Siv verstummte wieder, bevor sie auf das zu sprechen kam, was sie eigentlich so schockierte. "Du nennst ihn mit Praenomen? Du sagst Marcus?" Siv wusste gar nicht, was sie davon halten sollte. Nur den engsten Familienmitgliedern und Freunden war es vorbehalten, einen Römer beim Praenomen zu nennen, das wusste die Germanin. Sklaven dagegen… durften oft nicht einmal das Cognomen verwenden. Sagten nur Dominus, wogegen Siv sich sträubte und es vermied, so oft es ging. "Du nicht kannst sagen Marcus, Tilla. Wenn Römer das hört, irgendein Römer…" Was Tilla noch mitgeteilt hatte, hatte Siv gar nicht wirklich mitbekommen, erst als das Mädchen ihr einen Papyrus in die Hand drückte, schob sie die Sache mit dem Namen beiseite. Sie hoffte, Tilla hatte verstanden, was sie sagen wollte. Das Mädchen würde kaum bestraft werden dafür, nicht bei den Aureliern, aber Siv wusste, dass es den Römern nicht gefallen würde, wenn eine Sklavin sie beim Praenomen nannte – Corvinus am allerwenigsten. Und so empfindsam, wie das Mädchen war, war ein simples Wort, das nur scharf genug ausgesprochen war, vermutlich genug, um sie zu verletzen.


    Sie warf einen Blick auf den Papyrus und trat ans Fenster, um das spärliche Mondlicht voll nutzen zu können, aber es war immer noch wenig – und Sivs Kenntnisse, was die Schrift betraf, nicht sonderlich gut. Sie kannte inzwischen die Buchstaben, konnte auch einfache Sätze lesen, so viel hatte ihr der Unterricht bei den Flaviern immerhin gebracht, aber das hier… Siv runzelte die Stirn und bemühte sich angestrengt, zu verstehen, was da stand, aber viel brachte es nicht. Lautlos bewegten sich ihre Lippen. V - - - ooo - n… Vä, Väät - - t - er – n… Weiter quälte sie sich durch die Buchstaben, die teils gar keinen Sinn zu ergeben schienen, was Siv aber bequemerweise nicht auf ihr mangelndes Können, sondern auf das mangelnde Licht schieben konnte. Schließlich, sie war gerade beim dritten Satz und konnte beim besten Willen nicht sagen, was sie bis eben gelesen hatte, ließ sie den Papyrus sinken und sah zu Tilla. "Tut leid. Ich kann nicht lesen, nicht gut, noch nicht. Was ist da?"

    Siv hörte nicht auf, an der Tunika herumzufingern, auch nicht, als Corvinus etwas sagte. Sie zupfte einen Faden hervor und begann, diesen um den Finger zu wickeln, wieder zu lösen, zu einen winzigen Knäuel zusammenzuballen, und war scheinbar höchstkonzentriert auf diese Beschäftigung, als sich plötzlich seine Hand auf die ihre legte. Siv erstarrte und sah nur auf ihrer beider Hände hinunter, auf seine Finger, die sich nach einem Augenblick zu bewegen begannen, über ihre Haut strichen. Siv erschauderte unwillkürlich, rührte sich aber sonst kaum. Trocken schluckte sie, als seine Finger weitertasteten, unter ihre Tunika, und jetzt, endlich, sah sie hoch, ihr Blick zu einem winzigen Teil fragend, während schon etwas anderes darin erwachte. Einen Moment war der Gedanke da, sie müsste etwas sagen, ihn fragen, was er dachte, ob er genauso unsicher war wie sie, aber dann zog er sie zu sich, und jeder Gedanke war vergessen, verflogen, so, als sei er nie dagewesen.




    Sivs Brust hob und senkte sich in rascher Folge, während ihre Stirn an seiner Schulter ruhte. Erst als Corvinus sich rührte, richtete sie sich auf. Ein vages Lächeln umspielte ihre Mundwinkel, während die Finger ihrer Linken sacht über seine Brust strichen. Dankbar nahm sie anschließend den Becher entgegen und trank ein paar Schluck, während dieser sie betrachtete, mit einem Blick, der ihr die Röte in die Wangen trieb, trotz dem, dass es bei weitem nicht das erste Mal war, dass er sie nackt sah. Sie trank noch einen letzten Schluck, ließ das angenehm kühle Nass ihre Kehle hinunterrinnen und wünschte sich, den Rest des Wassers über ihren Oberkörper laufen lassen zu können, aber Corvinus hatte noch nichts getrunken, und so hielt sie ihm den Becher hin. Dann, als er das Wort ergriff, ließ sie ihre Hand verlegen sinken, und diesmal war die Röte auch zu sehen, die ihre Wangen überzog. "… Ich… Danke…" Sie lenkte ihren Blick auf seine Brust und sah dann wieder hoch, versuchte sich an einem Lächeln. Sie hob ihre Hand und strich sacht über sein Gesicht, zeichnete die Konturen nach, fuhr über seine Wangenknochen, bis sie zu seinen Lippen kam. Mehr aus einem Reflex denn aus einer bewussten Überlegung heraus beugte sie sich vor und küsste ihn leicht, bevor sie sich wieder aufrichtete.

    Siv atmete innerlich auf, als ihre zugegeben erbärmliche Ablenkungstaktik funktionierte. Warum sie das tat, warum Corvinus darauf einging, wollte die Germanin gar nicht wissen, Hauptsache er fragte nicht weiter. Irgendwie war alles… seltsam. Sie, für sich, wusste was sie empfand, was sie wollte, aber sie hatte derzeit nicht die geringste Ahnung, was er darüber dachte, und das machte alles… nun ja, seltsam. Und führte darüber hinaus dazu, dass sie sich unbeholfen fühlte, wenn er in ihrer Nähe war. Sie setzte schon dazu an, nachzufragen – oder womöglich einfach zu verkünden, dass sie jetzt gehen würde, so genau wusste sie das selbst noch nicht –, als Corvinus Wasser wollte, und Siv rappelte sich auf und brachte ihm etwas. Als Corvinus den Becher entgegen nahm, berührten sich ihre Finger kurz, und Siv hätte beinahe zu früh losgelassen, weil sie damit nicht gerechnet hätte, aber sie beherrschte sich gerade noch rechtzeitig. Etwas unschlüssig stand sie dann da, aber wieder bevor sie etwas sagen konnte, forderte er sie schon auf sich zu setzen, und wieder gehorchte sie, setzte sich auf sein Bett, ungefähr in der Mitte zwischen Kopf- und Fußende. Sie zog ein Bein hoch und legte es ab auf dem Stoff, so dass es ein Dreieck zu ihrem Körper hin bildete, setzte sich halb auf ihren Fuß und legte ihren Arm auf dem Oberschenkel ab, während das andere Bein normal auf dem Boden stand. Sie wusste nicht so genau, wo sie hinsehen sollte, und so ließ sie ihren Blick wandern, durch das Cubiculum, dass sie so gut kannte, und sah aber immer wieder zu Corvinus, beobachtete, wie er trank, und fragte sich, was sie jetzt tun sollte.


    Erneut wurde ihr die Entscheidung abgenommen, schneller, als sie erwartet hätte. Allerdings führte seine Frage nicht unbedingt dazu, dass sie sich wohler fühlte, in diesem Augenblick. Sie zog nachdenklich die Unterlippe zwischen ihre Zähne und ließ sie langsam wieder los, wich seinem Blick aus und sah stattdessen auf ihre Hände, die in ihrem Schoß mit dem Saum ihrer Tunika spielten. "Ich…" Wie ging es ihr denn? Gut, lag ihr auf den Lippen. "Ich weiß nicht", antwortete sie dann aber wahrheitsgemäß. Während ihre Finger begannen, an der Naht herum zu zupfen, die bald dem fortwährenden Druck nachgeben würde, wenn sie nicht aufhörte, riskierte sie einen kurzen Blick zu ihm. "Gut, soweit. Nur… ich bin… unsicher. Wegen du. Ich… du, das sprechen vorhin, also vor Tagen…" Sie verstummte wieder. Sie brachte die Frage nicht über die Lippen, was er davon hielt. Was er nun zu tun gedachte. Es war ganz offensichtlich nicht so einfach, wie sie gedacht hatte, nachdem sie nach jenem Gespräch in seinen Armen eingeschlafen war. Aber sie befürchtete, dass er schlicht dieselben Einwände hatte, die er ihr bereits genannt hatte, und das… wollte sie einfach nicht hören. Nur, wirklich etwas vormachen konnte sie sich auch nicht, nicht so, wie sie sich derzeit beide verhielten, bemüht, dem anderen aus dem Weg zu gehen, und so vorsichtig, wenn sie sich denn begegneten. Wieder begannen ihre Zähne, ihre Unterlippe zu malträtieren.

    Zwei Tage später war die Ahnung so sehr zur Gewissheit in ihr gereift, dass sie die Augen nicht mehr davor verschließen konnte. Man sah nichts, und das würde glücklicherweise auch noch eine Weile dauern, und sie achtete streng darauf, dass keiner irgendetwas merkte. Ihr Zustand – Zustand? Was dachte sie da eigentlich, sie war weder krank noch aussätzig noch sonst was! – ihr… wie auch immer, sie würde vermutlich noch früh genug zum Gespräch in der Villa werden. Sie wollte das hinauszögern, so lange es ging. Ein Glück, dass der Garten ihr anvertraut war. Ein Glück, dass niemand sich etwas dabei dachte, wenn sie sich morgens als erstes darum kümmerte. Ein Glück, dass so niemandem auffallen konnte, wie häufig ihr tatsächlich übel war, und dass es sich hauptsächlich auf den Vormittag beschränkte. Aber sie musste etwas tun, das war ihr klar. Sie musste etwas tun…


    Eine Stunde später stand sie bei Brix. "Hör mal, ich brauch deine Hilfe.""Wobei?""Nicht wobei. Ich muss nur einfach… ich muss raus, okay? Ich will… würd gern in den Wald. Heute Nacht. Also gegen Morgen. Werd aber erst vormittags zurück kommen, glaub ich. Aber wenn ich in der Nacht schon los geh, merkt es ja keiner, deshalb", beeilte sie sich hinzuzufügen. Brix sah sie einen Moment lang nur an, bevor er wieder etwas sagte. "Was hast du vor?" Siv zögerte, aber nur einen Augenblick lang. Sie wollte Brix nicht anlügen. Sie würde ihm – noch – nicht die Wahrheit sagen, nicht die ganze, aber das hieß nicht, dass sie tatsächlich lügen musste. "Ich will opfern. Ich hab das so lang nicht mehr gemacht… Und es ist wichtig." Brix holte schon Luft, aber Siv kam ihm zuvor. "Bitte frag nicht. Es ist einfach wichtig für mich." Brix schwieg und musterte sie. Und schließlich nickte er. "In Ordnung. Hol dir was du brauchst. Wenn in der Früh jemand fragt, lass ich mir was einfallen." Und Siv war ihm um den Hals gefallen und hatte ihm einen Kuss auf seine bärtige Wange gedrückt.


    Was danach kam, war schon schwieriger. Sie brauchte noch mehr. Sie brauchte Informationen. Und Brix konnte sie nicht fragen, denn dann würde er Fragen stellen, eine Menge vermutlich. Und das konnte sie gar nicht gebrauchen. Nur wer kam sonst in Frage? Siv grübelte einen Moment und ging in Gedanken die anderen Sklaven durch. Saba war ein Plappermaul. Soffchen… war auch eins. Davon abgesehen war bei ihr die Gefahr zu groß, dass sie irgendetwas durcheinander brachte. Alexandros war auch ein Plappermaul. Trautwini dagegen war keins – großer Nachteil bei ihm war allerdings, dass er auch ihr gegenüber kaum den Mund aufbringen würde. Dina… hm. Siv kräuselte ihre Nase. Bei Dina war sie sich auch nicht so sicher, ob sie tatsächlich so detailliert Bescheid wusste über das, was Siv in Erfahrung bringen wollte. Genauso wie Niki. Was war mit Caecus? Sie kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe. Caecus war Römer und darüber hinaus ziemlich gebildet, was hieß, dass er ausreichend Bescheid wissen dürfte – jedenfalls was ihre Zwecke anging. Und er war ein Mann, was hieß: wenn sie es richtig anstellte, dürfte sie nicht Gefahr laufen, dass er begann Verdacht zu hegen. Dritter Pluspunkt: Caecus war kein Plappermaul. Wenn sie es schaffte, dass ihm nichts auffiel, dass er ihre Fragen lediglich ihrer Wissbegier zuschrieb, dann würde er auch nicht großartig weiter darüber reden vor anderen. Ja, Caecus war der Richtige. Kaum war die Entscheidung gefällt, machte Siv sich auf die Suche nach ihm, um ihm die Informationen zu entlocken, die sie benötigte.

    Siv wuchtete entnervt einen Stein hoch und ließ ihn ein Stück weiter rechts ins Gras fallen. Irgendwie wollte ihr die Eingrenzung für das neue Beet nicht so recht gelingen, es sah jedenfalls nie so aus, wie sie es haben wollte. Mit einem derben, germanischen Fluch auf den Lippen trat sie gegen den Übeltäter und jaulte im nächsten Moment auf. Tränen schossen ihr in die Augen, und sie hüpfte auf einem Bein durch die Gegend und versuchte gleichzeitig, mit ihren Händen nach ihren schmerzenden Zehen zu greifen – was sie nicht hätte tun sollen, denn das führte nur dazu, dass sie endgültig das Gleichgewicht verlor. Mit einem Aufschrei und noch ein paar Verwünschungen landete sie im Gras, rollte sich herum und schaffte es nun endlich, ihren Fuß mit den Händen zu umklammern. Was zwar nicht dazu beitrug, die Schmerzen zu lindern, aber darum ging es ja nicht. Es ging ums Prinzip. Siv fluchte leise weiter, beschimpfte sich und den Stein und das Beet und die Welt im Allgemeinen.


    Eine seltsame Unruhe hatte von ihr Besitz ergriffen. Schon seit Tagen. Sie hatte nicht weiter darauf geachtet, hatte zu verdrängen gesucht, was sich ihr gelegentlich aufdrängte, hatte Gedanken weggeschoben und doch nicht verhindern können, dass immer wieder – und immer öfter – in ihrem Kopf aufblitzte, was ihr Unterbewusstsein beschäftigte. Sie hatte eine Ahnung, und diese war in den letzten Tagen immer mehr zur Gewissheit geworden, auch wenn sie sich gewehrt hatte, es sich bewusst werden zu lassen. Mit jedem Tag, der verging, wurde es schwerer für sie, die Augen zu verschließen und ihren kreisenden Gedanken Einhalt zu gebieten.


    Der Stein konnte eigentlich nichts dafür. Das Beet und dessen Einfassung genauso wenig. Sie mussten nur herhalten, weil Siv unbewusst auf der Suche nach einem Ventil war – und dass auch nur, wenn sonst niemand da war, dem etwas hätte auffallen können. Und jetzt lag sie auf dem Boden, mit schmerzendem Fuß, und hatte wieder einen dieser Momente, in denen sie sich der Gedankenflut nicht mehr erwehren konnte, die sich nur um eines drehte, was immer gewisser wurde. Eigentlich schon so gut wie Gewissheit war. Sie kannte die Zeichen. Sie hatte es zu Hause oft genug erlebt, bei manchen ihrer Schwägerinnen sogar hautnah. Vor anderthalb Wochen hatte sie sich noch nicht wirklich Gedanken gemacht. Vor einer hatte sie begonnen sich zu wundern. Einen Tag später, als die erste Ahnung aufgetaucht war, hatte sie aufgehört sich zu wundern, und versucht einfach nicht mehr daran zu denken. Modellierung der Realität nach eigenen Vorstellungen und Wünschen. Wenn du etwas nicht siehst, ist es nicht da. Allerdings war das Leben selten so einfach. Je mehr Zeit vergangen war, desto schwieriger war es für Siv, die Augen tatsächlich geschlossen zu halten. Es konnte ein Dutzend Erklärungen dafür geben, dass sie bisher noch nicht geblutet hatte, und die Übelkeit, die sich in den letzten Tagen dazu gesellt hatte, hieß einfach nur, dass sie vorsichtig sein musste, weil sie sich offenbar irgendeine Krankheit eingefangen hatte. Wenn du tatsächlich glaubst, dass du krank bist, warum sagst du Brix dann nicht Bescheid? Du könntest ein bisschen liegen bleiben und dich auskurieren, flüsterte eine verräterische Stimme in ihr, die Siv in den letzten Tagen mehr als einmal zum Schweigen hatte bringen müssen, und die sich immer seltener tatsächlich zum Schweigen bringen ließ. Weil es nur Übelkeit ist. Deswegen muss ich noch lange nicht im Bett bleiben, antwortete sie lautlos. Es gab ein Dutzend Erklärungen. Und doch… Siv ließ endlich ihren Fuß los und schlug sich die Hände vors Gesicht. Oh Hel, was ist wenn ich doch schwanger bin…


    Sim-Off:

    Reserviert

    Siv starrte Nuala kurz an. "Du sollst was?" Kitharaspiel und Rezitation von literarischen Texten? Na wenn sie meinte… Sie gingen weiter, und Sivs Gedanken schweiften einen Moment ab. Rezitation von literarischen Texten… Würde sie nicht inzwischen schon so lange in Rom leben, wüsste sie nicht einmal im Ansatz, was das zu bedeuten hatte. Und auch jetzt noch begriff sie nicht ganz, was es war – es war eine Form von Geschichten erzählen, allerdings eben irgendwie… anders. Man setzte sich dabei nicht einfach zusammen und einer erzählte etwas, während die anderen gespannt mitfieberten. Siv kräuselte die Nase. Vielleicht sollte sie sich damit mal auseinander setzen. Vielleicht sollte sie das lernen, diese Form von Geschichten erzählen, möglicherweise gefiel Corvinus das… Aber sie konnte sich das nicht so wirklich vorstellen, eine Geschichte zu erzählen, ohne dabei in leuchtende Kinderaugen und zwar auf andere Art, aber dennoch nicht weniger leuchtende Erwachsenenaugen zu sehen. Oder selbst so etwas hören und nicht gespannt zu sein wie eine Schleuder, bis die Geschichte endlich ihr dramatisch-furioses Ende fand.


    Wieder traf Nuala ein kurzer Blick, als sie erzählte, dass sie nicht wusste, woher sie kam. "Oh… das tut mir leid." Siv stellte es sich nicht sonderlich angenehm vor, nicht zu wissen, wo man herkam. Sicherlich mochten manche nun einwenden, dass es für eine Sklavin unwichtig war zu wissen, wo ihre Wurzeln lagen, aber das waren wohl hauptsächlich Menschen, die keine Sklaven waren und auch nicht wirklich einen Gedanken daran verschwendeten, dass Sklaven auch Menschen waren. Siv musterte Nuala noch einmal kurz, dann betrat sie die Küche, und sofort fiel ihr Tilla ins Auge, die scheinbar gerade durch das Fenster in die Küche klettern wollte. "Tilla, warum du kommst durch Fenster?" Sie grinste verhalten, als Niki ebenfalls herumfuhr und spaßeshalber mit dem Kochlöffel drohte. Danach begrüßte die Köchin Nuala und wandte sich wieder ihren Gerichten zu. Siv ging zu dem Fenster hinüber und bot Tilla Hilfe an beim Hereinklettern. "Sie ist Orestes. Ist… ist von… für Orestes. Nuala, das ist Tilla."

    Wieder dauerte es etwas, bis er überhaupt reagierte. Inzwischen ließ der dumpf pochende Schmerz in ihrem Nacken und in ihren Knien etwas nach, und Siv konnte sich mehr darauf konzentrieren, welchen Eindruck Corvinus machte – und es war nicht unbedingt ein guter. Er sah ganz so aus, als hätte er einen Alptraum gehabt. Ausgerechnet heute, wo sie hergekommen war. Und sie fand noch nicht einmal die Worte, um glaubwürdig erklären zu können, warum sie hier war – sie konnte noch nicht einmal die Wahrheit flüssig vorbringen. Siv fragte sich, was sie angestellt hatte, dass die Götter sie so straften.


    "Ansehen, ja", wiederholte sie bestätigend. Warum? Wenn sie das nur wüsste… Als sie aufgewacht war, war sie ihrer ersten Eingebung gefolgt, ohne weiter nachzudenken, aber jetzt erschien es ihr nicht mehr als eine so gute Idee, sich in Corvinus’ Cubiculum geschlichen zu haben, einfach nur um ihn anzusehen. Siv räusperte sich verlegen. "Also… warum… weil, ja, weil ich… gewollt, das. Ich sehe dich, selten, und…" Sie räusperte sich erneut und tat dann das einzige, was ihr in dieser vertrackten Situation einfiel – sie wechselte abrupt das Thema und hoffte, er ließe sich ablenken. "Was ist los, mit dir? Du hast schlechte Traum, nein?"

    Siv fühlte sich hilflos angesichts Tillas Tränen, und genauso hilflos zuckte sie leicht mit einer Achsel, während sie das Mädchen ansah. Wieder verstand sie nicht alles, konnte nicht alles erkennen, was Tilla 'sagte', aber wieder reichte es, um sich wenigstens manches zusammenzureimen. "Warum? Ich weiß nicht. Das, das ist Leben. Leben ist ändern. Wie Natur, und… anderes." Sie wusste selbst am besten, dass Dinge sich änderten, und sie wusste auch was es hieß, wenn man das nicht wollte, wenn man sich an dem festklammern wollte, was früher gewesen war – gerade Sklaven wussten das, die, die zuvor frei gewesen waren jedenfalls. Und sie selbst hatte noch mehr Veränderungen erlebt, die sie lieber vermieden hätte, zu jenem Zeitpunkt zumindest, allen voran ihre Heirat mit Ragin… Sie löste sich von der Boxenwand und trat zu Tilla und Luna, fuhr erst der Stute durch die weiche Mähne und tätschelte ihren Hals, dann strich sie Tilla leicht durchs Haar, während ihre andere Hand die Nüstern der Stute liebkosten. "Menschen ändern sich. Dinge ändern sich. Nicht aller, aber… viel. Nicht muss schlecht sein, das. Aber schwer, manchmal, ich weiß das."


    Sie erwiderte Tillas schwaches Lächeln. "Geh zu Niki. Sie mag dich. Nicht, nicht achten auf Worte von ihr. Du weißt sie doch. Und Fhionn auch nett." Ihre Hand fuhr von Lunas Nüstern hoch, zu dem kleinen Stern zwischen ihren Augen, strich darüber und kraulte sie dann zwischen den Ohren. "Zeit? Es ist Nacht. In Nacht ich muss nicht arbeiten. In Tag…" Siv zögerte. Tilla hatte doch sicher genauso wie alle anderen mitbekommen, wie ihr Stand derzeit war. Es war etwas besser geworden, seitdem Matho sie nicht mehr tyrannisieren konnte – der hatte sie von früh bis spät arbeiten lassen, freie Zeit war da ein Fremdwort für sie gewesen. Allerdings hatte sie das auch nicht allzu sehr gestört, hatte sie sich doch gern in Arbeit gestürzt, um sich abzulenken. Genau das tat sie immer noch, auch wenn Brix darauf achtete, dass sie sich nicht überforderte, was Matho gleichgültig gewesen war. "In Tag, viel Arbeit. Schweres Arbeit, für mich. Da nicht ist viel Zeit für anderes. Für nichts." Dann legte sie den Kopf etwas schräg und sah das Mädchen fragend an. "Noch Tod? Was noch?"

    Siv ignorierte die Flavia, die Flavia, auch wenn ihr das ganz und gar nicht leicht fiel. Aber sie hatte von vornherein gewusst, dass sie sie hier vermutlich sehen würde. Als Brix erfahren hatte, dass Corvinus sie mitnehmen würde, hatte er sie beiseite genommen und ihr ins Gewissen geredet. "Reiß dich zusammen.""Das werd ich.""Da werden jede Menge Römer sein – die Flavia vermutlich auch." Schweigen. Ein entsetzter Blick. Dann, nachdem sie sich gefasst hatte, eine Mischung aus Empörung und Lauern in Blick und Stimme. "Was willst du damit sagen?""Ich will damit sagen, dass du dich w i r k l i c h zusammenreißen solltest.""Das hast du schon mal gesagt.""Nicht wie bei dem Artorier." Schweigen. "Und auch nicht wie da, als du Claudia Epicharis die Nachricht überbracht hast.""Ich hab doch gesagt, dass das nicht meine Schuld war!""Das ist egal. Du bist eine Sklavin. Wenn was passiert und es ist nicht deine Schuld, dann ist es sieben von zehn Fällen trotzdem deine Schuld. Wenn was passiert und es nicht deine Schuld, und es betrifft Flavia Celerina, stehen die Chancen gut, dass es in zehn von zehn Fällen trotzdem deine Schuld ist. Also reiß dich zusammen.""Ja doch!" Siv hatte durchaus begriffen, worauf Brix hinaus wollte, auch wenn ihre Reaktion nicht unbedingt dazu beigetragen hatte, den Germanen zu beruhigen. Sie hatte überlegt, Corvinus zu bitten sie nicht mitzunehmen, schon als er ihr davon erzählt hatte. Aber sie hatte es nicht getan, aus einem einfachen Grund – sie hatte sich zu sehr darüber gefreut, darüber dass sie im Reinen genug waren, und vor allem, dass er ihr genug vertraute, dass er sie mitnahm – ihr und ihrer Selbstbeherrschung, was wieder auf einem ganz anderen Blatt stand. Und sie hatte sich selbst – und Brix – versprochen, dass sie, nun ja, sich zusammenreißen würde. Sie wusste, wie eine gute Sklavin sich zu benehmen hatte, und sie hatte vor, das heute zu tun. Also ignorierte sie die Flavia und hielt sich auch sonst brav im Hintergrund. Und als Epicharis auftauchte und den Gästen entgegenstrahlte, da suchte Siv unwillkürlich nach ihrem Leibwächter, um eine eventuelle Auffrischung der Bekanntschaft seiner Hand und ihrer Nase von vornherein gänzlich vermeiden zu können.


    Zitat

    Original von Fiona

    Doch dann, sie hatten sich soeben mit Getränken versorgt, zupfte sie an Minnas Tunika. "Sieh mal, ist das nicht diese Germanin, mit der wir Jul gefeiert haben? Wie war doch gleich ihr Name? Siv! Schau, da ist Siv!"


    Besagten Leibwächter entdeckte Siv nicht, dafür aber die beiden Sklavinnen, mit denen sie vor so langer Zeit, wie es ihr schien, Jul gefeiert hatte, damals, als sie erst wenige Wochen in Rom gewesen war. Sie lächelte ihnen zu und war schon im Begriff, die Hand zu heben, als ihr Brix’ Worte einfielen. Reiß dich zusammen. Bei ihrem Glück traf sie eines der Tabletts, und sämtliche, vorzugsweise mit dunkelrotem Wein gefüllten Becher, würden sich auf Celerinas exotische Tunika ergießen. Ein Grinsen zupfte an Sivs Mundwinkeln, als sie sich das Desaster vorstellte, das es für die Flavia sicherlich bedeuten würde. Aber es erlosch recht bald wieder. Nein. Die Vorstellung hatte ihren Reiz, aber das kam gar nicht in Frage. Da konnte sie sich vermutlich genauso gut gleich selbst auf den Weg zur nächsten Latrine machen, um die zu putzen. Wenn die Flavia nicht noch auf einer ganz anderen Strafe bestand… Siv schüttelte den Gedanken ab und suchte wieder nach Fiona und Minna. Corvinus hatte nichts gesagt, daher vermutete sie, dass sie in seiner Nähe bleiben sollte – so wie früher auch, wenn er sie mitgenommen hatte. Aber die beiden anderen bewegten sich durch die Menge auf sie zu, nachdem sie sich etwas zu trinken geholt hatten, und Siv lächelte ihnen entgegen. Sich mit ihnen zu unterhalten, hielt sie durchaus für ungefährlich. "Heilsa", grüßte sie sie, dann noch einmal, für Fiona, auf Latein: "Salve. Schön euch zu sehen, wieder. Ist lang gewesen."

    Siv starrte ihn an und rieb sich inzwischen die schmerzende Schulter. Nun fiel ihr auf, dass er seltsam abwesend wirkte, und irgendwie schockiert. Es dauerte eine Weile, bis sein Blick endlich klar wurde – und in der Zwischenzeit war Siv aufgefallen, wo sie war. Und dass sie nicht wirklich eine Begründung für ihr Hiersein hatte. Es war noch früh, früher als normalerweise Sklaven hereinkamen und ihn aufweckten, wenn er denn noch schlief. Davon abgesehen war es immer noch nicht sie, die diese Aufgabe wieder übernommen hatte. Ihr Blick wurde unsicher, während sie ihn ansah, und sie überlegte, ob sie die Gelegenheit nutzen sollte, zu verschwinden so lange er noch nicht ganz wach war, augenscheinlich.


    Die Gelegenheit verstrich ungenutzt. Sie konnte sich nicht entscheiden, ob die Idee gut oder schlecht war, einfach zu gehen, denn immerhin hatte er sie ja gesehen, aber gerade, als sie beschloss es einfach zu tun, sprach er sie an. Siv erstarrte. "Ehmmm." Überlegte fieberhaft. "Äh. Ja. Also", stotterte sie weiter. Ihr wollte nichts einfallen, kein plausibler Grund, aus dem sie hier war, um diese Uhrzeit. Sie war einfach nicht gut im Lügen, selbst wenn es nur kleinere Schwindeleien waren. Und so sagte sie schließlich die Wahrheit, während sie immer noch am Boden saß, vor dem Fußende seines Betts. "Ich wollte… sehen. Dich sehen. Ehm. Ansehen."

    Siv starrte an Corvinus vorbei, und so bemerkte sie seine Reaktion nicht – aber sie bemerkte, dass er nichts dazu zu sagen hatte. Dass es auch nicht half, dass es nichts brachte. Noch peinlicher berührt als zuvor entzog sie Brix ihre Hand und zog den Ärmel ihrer Tunika wieder hinunter, um die Male zu verbergen, so wie sie es schon die ganze Zeit getan hatte. Dina kam und erzählte von Hektor, dass dieser Brix’ Worte bestätigen könnte, wenn er da wäre, und dann kam der Aurelier noch dazu, der auch in der Nacht da gewesen war. Siv sah ihn kurz an und wusste nicht recht, was sie von seinen Worten halten sollte. Versuchte er nun Fhionn zu helfen oder nicht? Irgendwie wollte ihr das nicht so ganz klar werden, aber Corvinus’ Antwort weckte in ihr schon wieder den Wunsch, etwas zu sagen, sich und die anderen zu verteidigen, warum nie jemand etwas gesagt hatte – manche hatten Angst gehabt vor Matho, ihr selbst war es einfach zu peinlich gewesen. Sie hatte sich geschämt, zu sehr, um jemandem davon zu erzählen, und sie hätte sich noch mehr geschämt, hätte jemand davon erfahren und dann dafür gesorgt, dass Matho aufhörte. Sie hatte sich eingeredet, sie müsse selbst damit fertig werden. Ganz davon abgesehen hätte Corvinus ihr ohnehin nicht zugehört. Aber Siv kam noch nicht einmal dazu, wirklich dazu anzusetzen etwas zu sagen. Brix legte ihr die Hand auf die Schulter und drückte leicht zu, und auch wenn es ihr nicht gefiel, sie verstand, was er damit sagen wollte – und schwieg. Was auch gut so war, denn nun wandte sich Corvinus noch einmal an Fhionn. Es war letztlich egal, was er sie fragte, er sprach mit ihr, er gab ihr Gelegenheit zu antworten, sich noch einmal zu rechtfertigen, und Siv flehte Hel darum an, dass die Keltin die richtigen Worte finden möge.

    Siv musterte ihn nur. Es reichte ihr, im Moment, ihn einfach nur anzusehen. Ihre Augen waren offen, aber ihr Geist dämmerte wieder weg, verabschiedete sich in dieses seltsam graue Zwischenland, das nicht Schlaf war und nicht Wachsein. Als Corvinus aus dem Schlaf hochfuhr und sich mit einem Schlag kerzengerade hinsetzte, registrierte ihr träger Geist es erst Bruchteile von Augenblicken später – als Corvinus schon zu schreien begann. Siv, die immer noch nicht ganz da war, wurde durch diesen Schrei aus ihrem Zustand gerissen, und sie erschrak so sehr, dass sie ebenfalls schrie. Entsetzt starrte sie ihn an, hatte keine Ahnung, was los war. Gleichzeitig löste sich ihre zusammengekauerte Stellung, sie fuhr hoch und zurück, aber das Holzteil in ihrem Rücken war nicht sonderlich hoch, und so verlor sie den Halt – und polterte hinterrücks vom Bett.


    Den Kopf zog sie noch rechtzeitig ein, aber sie knallte mit Schulter und Nacken auf den Boden. Dann folgte der Rest ihres Körpers in einer unfreiwilligen Rückwärtsrolle, ihre Beine schwebten für einen Moment in der Luft, bevor auch sie mitsamt dem Rest von ihr gen Boden segelten. "Oooouuuuuh!" Siv stöhnte und rieb sich kurioserweise den Schädel, den sie sich gar nicht angehauen hatte. "Hel und ihre Plagen, AU!" Fluchend blieb sie einen Augenblick liegen und versuchte zu lokalisieren, was ihr wo genau wie sehr weh tat, dann rollte sie sich stöhnend auf die Seite, langte mit einem Arm nach oben und zog sich an der Kante des Betts weit genug nach oben, dass ihr Kopf darüber hinaus ragte und sie Corvinus anfunkeln konnte. Dass er selbst kreidebleich war, dafür hatte sie im Moment keinen Blick übrig. "Was schreist du denn bitte so rum?!"

    Die letzten Tage waren seltsam gewesen. Siv hatte irgendwie das Gefühl gehabt, dass Corvinus und sie wie auf Zehenspitzen umeinander herumgeschlichen wären. Nachdem sie aufgewacht war, in seinem Bett, am nächsten Morgen, hatten sie wenig gesprochen. Und seitdem… Siv wusste nicht, was los war. Das Gespräch hatte etwas gelöst, in ihr zumindest, aber trotzdem schien nichts klar zu sein, für ihn zumindest nicht. Dass er ihr auswich, war deutlich – sie bekam nun nicht mehr die schwierigsten und ungeliebtesten Arbeiten ab, Brix hatte ihr am nächsten Tag gesagt, dass das vorbei wäre, aber Corvinus hatte bisher auch nicht nach ihr rufen lassen, und er vermied es, sie allein anzutreffen. Die Germanin war sich unsicher, was das bedeutete. Ob in ihm doch der Zweifel zu stark war, all das, was er vorgebracht hatte an dem Abend. Und so ging sie ihm zwar nicht wirklich aus dem Weg, aber sie legte es auch nicht darauf an, ihm über den Weg zu laufen oder ihn gar allein anzutreffen. Sie schimpfte sich einen Feigling, aber sie traute sich nicht. Und doch, auch wenn sie Angst vor dem hatte, was sie bei einem neuerlichen Gespräch vielleicht zu hören bekam, wurde die Sehnsucht nach ihm immer größer.


    Diesen Morgen war sie früh aufgewacht, weit früher als gewöhnlich. Sie konnte sich nicht daran erinnern, was sie geweckt oder was sie geträumt hatte, aber sie spürte das inzwischen vertraute Ziehen in der Brust, wünschte sich, ihn neben sich liegen zu haben. Ihn einfach nur ansehen, das würde ihr schon reichen. Noch halb im Schlaf gefangen, stand Siv auf und suchte sich im ersten Licht des beginnenden Tages ihren Weg, hinaus aus der Schlafunterkunft, durch die Gänge, zu Corvinus’ Cubiculum. Er schlief noch. Sicherlich schlief er noch. Und sie konnte wieder weg sein, bevor er aufwachte. Oder behaupten, sie wäre gekommen um ihn zu wecken, und dann verschwinden, wollte sie doch nichts provozieren, kein Gespräch, in dem er ihr sagte, wovor sie sich fürchtete. Leise öffnete sie die Tür und schlüpfte zu ihm hinein, zog die Vorhänge einen Spalt auf, um genügend Licht zu haben, und setzte sich dann ans Fußende des Bettes. Sie lehnte sich an das Holz, zog die Beine hoch, umschlang ihre Knie mit ihren Armen und legte ihr Kinn darauf. Sie bemerkte nicht, dass sein Schlaf unruhig war, dass sich seine Augen unter geschlossenen Lidern bewegten und sein Atem etwas schneller ging. Zu versunken war sie in den Anblick. Und so saß sie da, betrachtete einfach nur die ihr so vertrauten Gesichtszüge, und achtete weder auf die Zeit noch auf sonstige Zeichen.

    Siv ließ sich fallen in diesem Kuss. Sie war kein Mensch, der großartig in die Zukunft plante. Sicher war die Zukunft ihr ein Begriff, ebenso dass sie kommen und vergehen würde, dass Dinge, Meinungen und Menschen sich ändern würden. Aber wozu sich großartig darüber Gedanken machen, wenn sie jetzt doch nicht sagen konnte, was morgen war? Es gab so viele Faktoren, auf die sie keinen Einfluss hatte… Hätte ihr jemand vor über einem Jahr gesagt, sie würde von Römern gefangen genommen und als Sklavin verkauft werden, sie hätte nur gelacht. Hätte ihr jemand vor fünf Jahren gesagt, ihr Vater würde sie gegen ihren Willen verheiraten, sie hätte geschimpft. Hätte ihr jemand, irgendwann mal, gesagt, sie könnte sich als römische Sklavin zufrieden, zuweilen sogar glücklich fühlen, sie hätte denjenigen ungläubig, gar fassungslos angestarrt. Und doch war all das eingetreten. Wozu sich über die Zukunft so viele Gedanken machen? Sie lebte jetzt, in diesem Augenblick. Was auch immer kommen mochte, sie würde sich damit beschäftigen – und damit fertig werden –, wenn es so weit war. Jetzt zählte für sie nur, was jetzt war.


    Ihre Finger strichen sanft über seine Haut, dort, wo sie den Ausschnitt seiner Tunika beiseite geschoben hatte, aber sie ließ von ihm ab, als er erneut innehielt. Wie schon zuvor blieb sie liegen, als er sich aufrichtete, und sah zu ihm hoch, abermals mit einem vagen Gefühl der Angst. Sie vermochte seinen Blick, das angedeutete Lächeln nicht wirklich einzuschätzen. Sie konnte nicht sagen, was gerade in seinem Kopf vor sich ging, aber sie spürte – was nicht sonderlich schwer war –, dass er sich nicht wie sie einfach fallen ließ, ob er es nun nicht konnte oder nicht wollte. Was auch immer Corvinus dachte, er verbarg es in sich und sagte nichts. Es kamen keine Einwände mehr, keine Fragen, ob sie sich sicher war, keine Zweifel, ob es richtig war. Stattdessen setzte er sich um, zu ihrem Kopf, und zog sie dann an sich. Flüchtig glitten ihre Gedanken zu jenem Abend unter dem alten Baum, als sie sein Geschenk ausgepackt, das kleine Silberpferdchen, das sie seitdem nicht mehr abgelegt hatte – als er sie ebenso im Arm gehalten hatte wie jetzt. Dann verging auch dieser Gedanke. Sie spürte regelrecht, wie die Anspannung von ihr abfiel, eine Anspannung, die sie nicht erst seit vorgestern, sondern seit diesem Fluchtversuch in ihrem Griff gehabt hatte. Ihr Atem wurde ruhiger, tiefer, und sie schmiegte sich an ihn, ihr Kopf lehnte an seiner Brust, knapp unter seinem Kinn, und ihre Arme lagen auf den seinen, die sich um ihren Körper geschlungen hatten. Und durch das Abfallen der Anspannung ergriff langsam Müdigkeit von ihr Besitz, machte sich nun bemerkbar, dass sie die letzten beiden Nächte kaum geschlafen hatte, und wenn dann nur kurz, vorübergehend eingenickt, an die Weide gelehnt draußen im Garten. Sie wusste nicht, was später sein würde. Ob er seine Meinung wieder änderte. Welche Schwierigkeiten noch auf sie zukommen würden, wenn er erst einmal geheiratet hatte. Aber in diesem Moment war sie einfach zufrieden mit dem, was war. "Fridilaz", wisperte sie, so leise, dass es mehr einem Hauch glich. Es war ihr nicht einmal wichtig in diesem Moment, ob er sie hörte – nur, dass sie es sich selbst endlich ohne Wenn und Aber eingestehen konnte. "Ich liebe dich."

    Hätte Siv irgendwo Raum für Gedanken gehabt, ihre wäre durch den Kopf geschossen, dass sie recht gehabt hatte. Dass er sie wollte. Zuerst regte er sich kaum, stand starr da, aber dann reagierte er auf ihren Kuss. Seine Lippen teilten sich, erwiderten die Liebkosung. Dann spürte sie seine Hände auf ihrem Körper, und als er sie an sich zog, folgte sie ihm nur allzu bereitwillig. Auch ihr anderer Arm hob sich nun, legte sich auf seine Schulter und umfing seinen Nacken, sacht fuhr sie mit ihren Fingern seinen Haaransatz nach und tastete sich weiter vorwärts, in seine weichen Haare hinein. Sie liebte es, seine Haare zu berühren, aber sie hatte keinen Raum für Gedanken, für nichts, nicht dafür, dass er sie wollte, und auch nicht dafür, wie sehr sie es genoss, ihn zu berühren und berührt zu werden. Sie dachte gar nicht mehr – sie genoss einfach. Sie hatte auf seine Reaktion gewartet, und nun, wo er ihr so stürmisch begegnete, stand sie ihm in nichts nach, küsste ihn so leidenschaftlich wie er sie, presste sich an ihn und meinte, nicht genug bekommen zu können. Als er sie hochhob, lösten sich ihre Lippen kurz voneinander, und Siv fuhr ihren Fingern sanft die Konturen seines Gesichts nach, bevor sie ihren Mund wieder auf seinen senkte. Sie registrierte nur am Rande, wie er sie auf das Bett legte, wollte ihn schon zu sich ziehen, als er innehielt. Verwundert und verwirrt sah sie zu ihm auf, während das Feuer in ihr niedriger loderte. Wieder stieg die Angst in ihr hoch, verletzt und enttäuscht zu werden, was nun, nach dem, was eben passiert war, sie nur noch härter treffen würde. Und was er dann tat, wie er sich einfach nur auf die Bettkante setzte, wie er sie ansah, wie er lächelte und ihr mit dem Handrücken über die Wange strich… verstärkte ihre Angst nur.


    Sie versuchte zurückzulächeln, aber sie wusste nicht, ob ihr das gelang. "Was offen? Was, nach Hause?" Unwillkürlich dachte sie an ihren Traum. Als ihr Neffe sie nicht wieder erkannt hatte. "Ich weiß nicht, was zu Hause ist. Ich… Germanien ist… so weit, von mir, innen… Aber hier ist zu Hause. Fühlt sich, dass zu Hause. Ich…" Fast etwas hilflos sah sie ihn an. Sie hatte es schon in Germanien gespürt, diese Gedanken. Das Gefühl, dass dort nicht mehr ihre Heimat war, nicht mehr ihr Platz. Aber wie sollte sie ihm das klar machen, wenn sie selbst noch nicht einmal wusste, warum das so war oder was es bedeutete – außer dass sie wusste, dass sie, in diesem Moment, um nichts in der Welt hätte tauschen mögen mit jemand anderem. Sie hob wieder die Hand und strich ihm über das Gesicht, fuhr ihm anschließend in die Haare. "Ich weiß, dass nicht mehr gibt. Und ich will das. Das hier. Dich." Einen Moment sah sie ihn noch an, dann hob sie ihren Oberkörper leicht an, stützte sich auf einem Ellbogen ab, und erneut fanden sich ihre Lippen zu einem Kuss, während sie sich langsam wieder sinken ließ, ihn mit sich ziehend, und ihre andere Hand sich unter seine Tunika schob.