Siv hatte Leones Rufen gehört, und kurze Zeit später stand sie im Atrium und musterte den Gast sowie seinen Sklaven. Das war eindeutig der Teil ihrer Pflichten, den sie nach wie vor am wenigsten leiden konnte: andere bedienen. Sie versuchte darum herum zu kommen, wann immer es ging, aber es gab Augenblicke, da gelang ihr das einfach nicht. Wenn Corvinus nach ihr rufen ließ, wenn er Gäste hatte, dann war das so ein Moment. Wenn sie offensichtlich die Einzige war, die Leones Rufen hörte, dann leider auch. Also hatte sie sich auf den Weg ins Atrium gemacht, stand jetzt vor dem Claudier und grüßte ihn. "Salve." Ein Blick streifte kurz den Sklaven, aber da Siv sich im Lauf der Zeit zur Genüge an Leones Anblick gewöhnt hatte, rief dessen Aussehen kein Erstaunen in ihr hervor. Innerlich dankbar dafür, dass der Unterricht bei den Flaviern inzwischen deutlich Wirkung zeigte, zumal wenn es sich um so einfache Phrasen handelte, fragte sie den Römer nach seinen Wünschen. "Was kann ich bringen?"
Beiträge von Aureliana Siv
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Siv wusste nicht, wie lange sie so in dem Gästezimmer gesessen hatte, zusammengekauert, an die Tür gelernt, von trockenen Schluchzern geschüttelt, während sich vor ihrem inneren Auge immer und immer wieder abspielte, was sie in der Nacht gesehen hatte. Irgendwann war Tilla vorbeigekommen und hatte ihr eine Decke umgelegt. Siv hatte sie nicht kommen sehen, hatte nicht gemerkt, dass sie durch das Fenster geklettert war, ihr hatte sich noch nicht einmal die Frage die gestellt, wie das Mädchen hereingekommen war, lehnte sie selbst doch an der Tür. Sie reagierte nicht sichtbar, und Tilla verschwand so leise wieder, wie sie gekommen war, erneut ohne dass Siv es bewusst registrierte. Draußen ging endgültig die Sonne auf, überzog das Zimmer durch das Fenster hindurch mit ihren goldenen Strahlen, tauchte alles in ein helles Licht und ließ die Ereignisse der Nacht seltsam unwirklich erscheinen, aber Siv war immer noch gefangen darin, in der Nacht, konnte sich nicht lösen.
Erst als jemand die Tür zu öffnen versuchte und damit in ihren Rücken stieß, wurde sie aus ihrer Starre gerissen. Wortlos folgte sie Brix, der sie zu Corvinus brachte, und wortlos stand sie ihm gegenüber, versuchte sich zusammenzureißen und das Blut zu verdrängen, das ihre Gedanken beherrschte. Aber einmal zugelassen, wollte sich der Schrecken nicht mehr so schnell verdrängen lassen. Hatte sie zuvor, im Atrium, noch versucht Corvinus zu überzeugen, hatte sie auf ihn eingeredet, war sie jetzt schweigsam, antwortete nur auf seine Fragen, ohne weitere Worte fallen zu lassen. Sie befand sich in einer Art Schock, der für den Moment nichts anderes mehr zuließ als die schlichte Reaktion auf Aktionen anderer, jedoch keine Initiative ihrerseits. Sie erzählte Corvinus von Germanien, wie Matho sich verhalten hatte, vor allem wie er sich verhalten hatte, nachdem sie dabei aufgegriffen worden war Mogontiacum zu verlassen. Und sie erzählte ihm, was sie gesehen hatte, in der Nacht, als er danach fragte, tonlos, berichtete von dem Messer und dem Blut, während sie gleichzeitig versuchte, die Bilder in ihrem Geist zu verdrängen.
Wieder konnte sie nicht sagen, wie viel Zeit vergangen war, als Corvinus sie endlich fortschickte. Ein kaum sichtbares Nicken war ihre einzige Reaktion darauf, dann verließ sie den Raum und blieb draußen, ein paar Schritte den Gang hinunter, stehen. Sie wusste nicht wohin, wusste nicht, was sie tun sollte. Sie sah, wie Brix nun Fhionn holte, wie er sie zu Corvinus brachte, und als der Germane gleich darauf jenen Raum wieder verließ, stellte er sich nur zu ihr, lehnte sich an die Wand, ohne ein Wort zu sagen, wartend auf das, was kommen mochte.
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Hätte Epicharis nicht neben ihr gesessen, Siv hatte an dieser Stelle das Knurren angefangen, als sie das Grinsen des Leibwächters sah. Oh ja, es war schon ein Talent, sich auf Anhieb Feinde machen zu können. Vor allem wenn es Feinde waren, die genau wussten, wie sie zu reagieren hatten, die sich nicht ärgern ließen… Siv fühlte sich unangenehm an vornehmlich zwei ihrer älteren Brüder erinnert. Gut, keiner von ihnen hatte ihr jemals eine blutige Nase verpasst, aber sie hatten sich von ihr auch nicht ärgern lassen, ganz im Gegenteil. Am liebsten wäre sie nun aufgesprungen und hätte dem Leibwächter die Leviten gelesen, was sicherlich lustig ausgesehen hätte, war der Kerl doch zwei Köpfe größer als sie und gut doppelt so breit. Allerdings wusste Siv, dass sie quasi auf Bewährung war. Und so war es nicht nur die Anwesenheit der Römerin, die dazu führte, dass die Germanin sich zusammenriss.
"Oh", machte sie dann erstaunt. Dass die Claudia Corvinus am nächsten Tag bereits wieder sehen würde, war ihr nicht bewusst gewesen. Warum hatte Brix ihr dann überhaupt mitgeteilt, dass Corvinus eine Nachricht für die Claudia hatte, die überbracht werden musste? Weil es sich gehörte? Oder hatte Brix das mit Absicht gemacht, hatte ihr das gesagt, weil er wusste, dass sie ihn bitten würde sie damit zu betrauen, hatte es ihr gesagt, eben weil er ihr Chancen geben wollte, sich zu beweisen? Sie traute es dem Germanen zumindest zu, und im ersten Moment wollte sie sich darüber aufregen, weil es sich so anfühlte, als ob er mit ihr spielte – und das auch noch erfolgreich, immerhin war sie ja darauf reingefallen. Aber gleichzeitig wurde ihr auch bewusst, dass er ihr im Grunde einen Gefallen damit tat. Falls es sich wirklich so verhielt, wie sie vermutete. "Nein", antwortete sie dann auf Epicharis’ Frage. Sie war keine Botin, offensichtlich nicht – wenn sie überhaupt geschickt wurde, dann um Briefe zu überbringen, nicht für mündliche Botschaften. Aber wenn das ganze ohnehin Brix’ Plan gewesen war, dann war es kein Wunder, dass er sich so leicht hatte überreden lassen… "Ih binn geine Bodin. Ih habe gebedn, dass ih gann gehn. Weil, weggn Fehla, von mia. Will… seigen, ih bin gudd. Füa Veadauen." Sogar sie hörte, dass das letzte Wort anders klang als es sollte. "Also, Veadauen. Nihd veadauen. Ih mein…" Etwas hilflos, gleichzeitig aber grinsend zuckte sie die Achseln und hoffte, die Claudia verstand trotzdem – und hatte darüber hinaus Humor.
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Sim-Off: Sorry für die Verspätung
Siv war nicht bewusst, dass Tilla der Unterhaltung nicht folgen konnte, benutzte sie doch, seit Nuala und sie die Küche betreten hatten, Latein. Etwas irritiert musterte sie das Mädchen daher, als sie sich so plötzlich verabschiedete und auf ins Bett machte. Dann wandte sie sich wieder an Nuala – nun, da sowohl Niki als auch Tilla verschwunden waren, wieder auf Germanisch. "Tilla kann nicht reden, sie hat keine Zunge mehr", erklärte sie, während sie sich auf der Bank hinter dem Tisch niederließ und die Beine hochzog. "Meistens hat sie eine Tafel dabei, auf der sie aufschreiben kann, was sie meint. Mir hilft das nicht viel, ich kann nicht lesen. Noch nicht", fügte sie, teils etwas düster, aber nichtsdestotrotz entschlossen hinzu. Sie löffelte etwas Milchbrei und gestikulierte dann mit dem Löffel herum. "Aber sie verständigt sich auch über eine Zeichensprache, wenn man ein bisschen Zeit mit ihr verbringt, kommt man recht schnell dahinter, was sie meint. Und sie ist ein liebes Mädchen." Wenn auch etwas verschlossen, manchmal sogar depressiv, so kam es Siv vor. Sie mochte Tilla, aber mit ihrer oft pragmatischen Sichtweise kam sie nicht recht an sie heran, verstand sie oft nicht. Ihre Unterhaltung im Stall war das beste Beispiel. Sicher war es nicht leicht, keine Eltern zu haben, sie nicht einmal kennen gelernt zu haben… Aber so war das Leben nun mal. Siv kannte nichts anderes. Im freien Germanien aufzuwachsen hieß, sich damit abzufinden, dass tagtäglich Gefahr drohte, dass jederzeit ein oder mehrere Familienmitglieder oder Freunde nicht mehr heimkamen. Es passierte, man trauerte, und danach ging das Leben weiter. Wer sich zu sehr in der Vergangenheit verlor, zu lange trauerte und mit sich, seinem Schicksal und den Göttern haderte, verringerte seine eigenen Chancen zu überleben. Es lag mit daran, dass Siv sich trotz ihres eher aufmüpfigen Wesens an ihr Sklavendasein gewöhnt hatte.
"Also, wenn Orestes nichts gesagt hat, wirst du wohl bei den anderen Sklavinnen schlafen, denk ich." Sie löffelte erneut etwas Milchbrei, stützte anschließend nachdenklich die Kante des Löffels auf ihre Unterlippe. "Mmh." Der Löffel hob sich und wippte kurz in der Luft hin und her. "Was für Texte wiederholst du?" Geschichten erzählen konnte sie auch, Lieder und Gedichte. Aber Texte, das klang… nach etwas anderem. Vielleicht meinte Nuala damit einfach nur römische Geschichten, aber so sicher war Siv sich da nicht. "Ah ja, und wenn du Leier spielst, solltest du dich mal mit Sofia unterhalten. Sie ist… na ja, etwas tollpatschig." Nuala würde schon früh genug herausfinden, wie tollpatschig Sofia manchmal war. "Aber spielen kann sie toll. Was willst du wissen? Hier, über das Haus, über die anderen Bewohner…"
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Sim-Off: Sorry... ganz vergessen
Siv hatte sich schon halb erhoben, da fing Fhionn erneut an zu sprechen, und mit einem lautlosen Seufzer ließ sie sich wieder auf das Bett sinken, diesmal eines ihrer Beine untergeschlagen, während sie den anderen Fuß auf den Boden stellte. Sie ließ Fhionns Worte an sich vorbei rauschen und versuchte, sich auf Caelyn zu konzentrieren, versuchte nicht auf das zu hören, was die Keltin erzählte. Liebe… wie sinnvoll war so etwas wie Liebe, wenn sie doch nur weh tat? Sie presste ihre Zähne so fest aufeinander, dass sie beinahe knirschten, aber das konnte sie gerade noch verhindern. Erneut fragte sie sich, sie wusste schon gar nicht mehr zum wievielten Mal, warum sie eingewilligt hatte. Und Fhionn sprach weiter, sprach von Hoffnung, während Siv innerlich ihr die Schuld gab, dass sie nun hier saß und sich das anhören musste. Nun ja, es war auch Fhionns Schuld, sie hatte ja für sie beide geantwortet. Sivs Brust hob sich und entließ die Luft, erneut in einem lautlosen Seufzer, während ihr Blick nach wie vor Caelyn musterte. Und endlich schien sie sich etwas zu öffnen. Die Germanin wusste nicht, ob es an Fhionns Worten lag oder ob Caelyn im Grunde ihres Herzens von vornherein hatte reden wollen, jedenfalls wiederholte sie, dass sie verliebt war, diesmal in einem weit weniger patzigen Tonfall. Er war in Germanien, sie war hier, und sie war eine Sklavin. Siv presste für Momente die Lippen aufeinander und warf Fhionn einen hilfesuchenden Blick zu. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie hatte doch keine Ahnung in diesen Dingen, hatte nicht die geringste Erfahrung, wusste nicht, was helfen könnte. Und sie konnte den Schmerz, den Caelyn empfinden musste, so gut nachvollziehen. "Caelyn… Mir tut leid, das. Du…"
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Dass die Claudia die herausgestreckte Zunge nicht bemerkte, registrierte Siv zufrieden, und mit Genugtuung bemerkte sie den Groll im Blick des Leibwächters. Dass er anschließend dann aber eine unbeteiligte Miene machte, war nicht Teil ihres Plans gewesen. Sie warf ihm stirnrunzelnd einen finsteren Blick zu und zuckte gleich darauf zusammen, als die Bewegung der Haut über ihren Augenbrauen auch ihre Nase bewegte und einen scharfen Schmerz hindurch zucken ließ. Der Leibwächter bekam einen weiteren Blick, der noch finsterer war, wenn das möglich war. Er schlug ihre Nase zu Brei und reagierte noch nicht einmal, wenn sie sich – wenn auch zugegebenermaßen recht simpel – revanchierte? Das Leben war ungerecht.
Epicharis hingegen war ein ganz anderes Kaliber als ihr mürrischer Leibwächter. Siv entging nicht, dass die Claudia zeitweise Mühe hatte, so etwas wie Ekel zu unterdrücken, aber das fand sie durchaus verständlich – sie wollte gar nicht wissen, wie ihr Gesicht inzwischen aussah. Aber sie auch Mitleid, und vor allem sah sie deren Lächeln. Vorsichtig erwiderte sie es, nicht ahnend, dass es seinen Ursprung in ihrem mangelnden Latein hatte. Die Römerin schien sich tatsächlich zu freuen, dass Corvinus zu der Hochzeit kommen würde, als sie jedoch den Leibwächter zu sich winkte, schaute Siv für einen Moment etwas misstrauisch nach oben. Im nächsten Augenblick hoben sich ihre Brauen überrascht, als Epicharis ihr eine Münze reichte. "Füa mih? Dangge." Erneut erwiderte sie das Lächeln der Römerin. Der leise Verdacht drängte sich ihr auf, dass sie gar nicht anders konnte, als dieses Lächeln zu erwidern, selbst wenn sie gewollt hätte, so offen wirkte es. "Gann ih… noh sagn, edwas? Füa Aueliea?"
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Manchmal muss Liebe schnell geh'n
Mich überfahr'n, mich überroll'n
Manchmal muss das Leben wehtun
Nur wenn es weh tut
Ist es gut, dafür zu geh'nGib mir Sonne
Gib mir Wärme
Gib mir Licht
All die Farben wieder zurück
Verbrenn den Schnee
Das Grau muss weg
Schenk mir 'n bisschen GlückWann kommt die Sonne?
Kann es denn sein, dass mir gar nichts mehr gelingt
Wann kommt die Sonne?
Kannst du nicht seh'n, dass ich tief im Schnee versinkSiv wusste nicht, wie lange sie in dem Sessel gekauert hatte. Ihre Wangen waren tränenüberströmt, und dort, wo ihr Gesicht an ihre Knie gepresst gewesen war, hatten sich zwei dunkle Flecken gebildet. Schon längst hatte sie das Gefühl, es könnten keine Tränen mehr in ihr sein, und doch kamen stets neue, traten ergiebig aus ihren Augen, rannen ihre Wangen hinunter und tropften von ihrem Kinn, der Kieferlinie auf ihre Tunika, wo sie lautlos versickerten. Was vielleicht das Schlimmste war an ihrer Situation – sie hatte ja im Grunde damit gerechnet. Sie hatte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit geahnt, wie er reagieren würde. Sie kannte ihn, und sie wusste auch, wie ihre ersten Reaktionen gewesen waren. Panik und Verdrängung, stets abwechselnd. Sie hatte es geahnt, und sie hatte versucht, sich abzuschotten, vor allem, was von ihm kommen mochte. Warum nur tat es dann trotzdem so weh? Ihre Kehle zog sich zusammen, und ein würgendes Geräusch war zu hören, als sie versuchte, zwischen zwei Schluchzern zu atmen. Wie kannst du mir das antun. Auf einmal dröhnten seine Worte in ihren Ohren. Es würde doch jeder wissen. Alles, was er gesagt hatte, alles zumindest, was negativ war. Ich weiß es nicht… Ansonsten war nur Schweigen. Siv hob den Kopf, stützte ihre Ellbogen auf den Knien ab und presste ihre Handballen vor die Augen, während sie schluchzend nach Luft rang. Warum nur schien ihr Leben wieder ein einziger Scherbenhaufen zu sein, wo sie es doch gerade erst geschafft hatte, mühsam wenigstens ein paar Dinge zu kitten, ein paar der Scherben einzusammeln und sie wieder zusammenzufügen, sogar zu kombinieren mit etwas gänzlich Neuem. Warum stand sie jetzt wieder vor den Trümmern dessen, was sie versuchte aufzubauen, zu machen aus dem, was ihr zur Verfügung stand. Und warum nur tat es so furchtbar weh…
Sie hielt es nicht mehr aus, zwischen den Wänden, in der Villa, und ertrug es nicht, allein zu sein – genauso wenig war sie aber in der Lage, nun Gesellschaft zu ertragen, gleich von wem. Aus dem Sessel aufspringend trugen ihre Schritte sie eilends hinaus, dorthin, wo sie bisher noch stets Zuflucht gefunden hatte, hinaus in den Garten, aber auch dort machte sie nicht halt, sondern flüchtete weiter, in den Stall hinein. Idolum stand in seinem Verschlag und wieherte leise, als er sie kommen sah, ihre Schritte hörte und ihren vertrauten Duft wahrnahm. Immer noch – oder taten sie es schon wieder? – liefen Tränen über ihre Wangen, und flink öffnete sie die Tür zu Idolums Box und schlüpfte hinein, zog sie nur leicht zu hinter sich und schmiegte sich dann an den warmen Pferdeleib. Ihre Arme schlangen sich um seinen Hals, während sie ihr Gesicht in seiner Mähne vergrub. Idolum schnaubte leise, wandte den Kopf etwas und fuhr mit seinen Nüstern über ihre Seite, schnupperte an in ihr und schnaubte erneut, was ihre Haare in die Höhe fliegen ließ. Im Übrigen regte er sich kaum, ebenso wenig wie Siv sich rührte. Idolum mochte nicht begreifen, was los war, und er war niemand, der Siv helfen oder ihr auch nur ein Ansprechpartner sein konnte. Aber er spürte, dass etwas nicht stimmte – und alles, was Siv brauchte, war jemand an den sie sich anlehnen konnte. Sie wollte mit niemandem reden. Sie wollte keine Ratschläge hören oder Mitleid bekommen oder Versicherungen, dass es sich wieder einrenken würde. Sie wollte einfach nur jemanden haben, der schlicht da war, nicht mehr und nicht weniger. Und Idolum gab ihr genau das. Sie fühlte sich innerlich wund und aufgerieben, stand vor Scherben und wollte am liebsten davor flüchten, fehlte ihr doch die Energie, sie ein ums andere Mal einzusammeln und etwas neues damit anzufangen. Es war zu viel. Und es würde ihr ohnehin nicht gelingen, davon war sie in jenem Moment überzeugt. Es würde nur wieder zerbrechen, zerschmettert werden von den Wogen des Lebens, die sie zwar gelegentlich sanft über das Meer zu tragen schienen oder hinabtrieben in aufregende Tiefen voller leuchtender Wunder, sie aber dann doch stets wieder an Klippen warfen und dort zerschellen ließen. Egal was sie anfing, es würde doch nur wieder zerbrechen.
Und ich trage mein Herz offen
Alle Türen ganz weit auf
Hab keine Angst mich zu verbrennen
Auch wenn's weh tut
Nur was weh tut, is auch gutGib mir Sonne
Gib mir Wärme
Gib mir Licht
All die Farben wieder zurück
Verbrenn den Schnee
Das Grau muss weg
Schenk mir 'n bisschen GlückWann kommt die Sonne?
Kann es denn sein, dass mir gar nichts mehr gelingt
Wann kommt die Sonne?
Kannst du nicht seh'n, dass ich tief im Schnee versink
…Rosenstolz – Gib mir Sonne
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Corvinus hielt sie weiterhin, aber es war keine Umarmung, die ihr Trost oder Geborgenheit schenkte. Vielmehr fühlte sie sich fast wie ein Fremdkörper in seinen Armen, oder als sei sie gar nicht da, als hielte er jemand anderen. Ihr Geständnis, dass sie schwanger war, hatte eine Distanz zwischen ihnen geschaffen, die auf ihre Art fast genauso groß zu sein schien wie jene nach ihrem Fluchtversuch, jedenfalls kam es Siv in diesem Moment so vor. Wieder wanderten ihre Gedanken unwillkürlich zu Ragin, drehten sich für Augenblicke darum, wie er reagiert hätte, wäre diese Situation vor zwei Jahren eingetreten. So anders. Er hätte so anders reagiert als Corvinus. Er hätte sich gefreut… Sie holte tief Luft, aber sie unterdrückte den Seufzer, mit dem die Luft wieder entweichen wollte. Stattdessen atmete sie bewusst langsam aus. Das hier war nicht Ragin. Und ihre Situation war eine völlig andere – nicht nur, weil sie sich über das Kind freute, gerade weil es von Corvinus war, sondern auch, weil sie war, was sie war. Eine Sklavin, seine Sklavin. Und er war Römer.
Obwohl die Umarmung ihr kaum Zuflucht bot, drängte sie sich kurz noch näher an ihn, fast so, als könne sie das Gefühl der Geborgenheit erzwingen, nach dem sie sich so sehnte in diesem Augenblick. Dass ihre Reaktion, ihre Fragen, klischeehaft wirken mochten, war ihr nicht bewusst. Sie sprach aus, was sie dachte, so wie sie es stets tat, und sie wollte, musste wissen, was in ihm vorging. Es betraf ja schließlich sie, ihr Leben, ihren Körper. Sie konnte sich gar nicht weigern, wenn er erst einmal sich für eine Option entschieden hatte, sie konnte sich wehren, aber es nicht verhindern – aber mehr noch, sie wollte sich nicht weigern. Sie vertraute ihm. Wenn Corvinus tatsächlich entschied, dass es besser war, die Dienste des Arztes in Anspruch zu nehmen, dann würde sie tun, was er sagte. Weil sie ihm glaubte, dass er dann keine andere Wahl hatte, wollte er nicht Ruf und Ansehen verlieren, Dinge, die ihn zu dem machten, was er war… und die ihm und seiner Familie all das sicherten, was sie hatten. Aber sie wollte wissen, worauf sie sich einstellen musste. Tief in ihrem Innersten freute sie sich über dieses Kind, aber noch zögerte sie, es wirklich zu akzeptieren, so lange sie nicht sicher war, dass sie es behalten konnte. Sie wollte wissen, woran sie war. Aber Corvinus sagte gar nichts. Er hielt sie immer noch im Arm, aber er sagte nichts, und je mehr Zeit verstrich, desto mehr spürte Siv, wie die Angst sich in ihr ausbreitete. Und als er endlich sprach, war es nur ein Wispern von Worten, die ihre Angst nur verstärkten. Sie hasste es zu warten, hasste es, dermaßen im Dunkeln gelassen zu werden. Sich so hilflos zu fühlen. Aber sie fragte nicht weiter, wusste sie doch, dass sie keine andere Antwort bekommen würde – und zum Teil konnte sie es auch nachvollziehen. Nur half ihr das Verständnis für seine Lage wenig.
Nur einen winzigen Augenblick später löste er sich von ihr. Siv musterte ihn, suchte seinen Blick, aber Corvinus wich ihr aus, murmelte eine Entschuldigung und verschwand dann ohne ein weiteres Wort. Und Siv stand da und starrte ihm nach. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie in der Lage war, sich zu rühren. Und selbst dann ließ sie sich nur in den Sessel fallen, in dem zuvor er gesessen hatte. Sie schien nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. In ihrem Kopf raste und tobte es, Möglichkeiten purzelten übereinander, Alternativen dessen, was sein könnte, und Fragen, Fragen, Fragen über Fragen. Es dauerte nicht lange, bis ihr dieses Wirrwarr an Gefühlen und Gedanken, vor allem aber die Unsicherheit und Angst zu viel wurden. Sie zog die Beine hoch und eng an ihren Körper, umschlang sie fest mit ihren Armen und barg ihr Gesicht an ihren Knien, während Tränen lautlos begannen, ihre Wangen hinunter zu laufen.
~~~ finis ~~~
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Siv nickte Tilla zu, als diese die Sache mit dem Namen bestätigte. Dann sah sie sie rätselnd an, immer noch nicht begreifend, wen der Aurelier Tilla genau meinte. Die Beschreibung, so weit sie verstand zumindest, passte auf mehrere, und auch den Namen verstand sie nicht ganz. Aber wenn sie feststellte, dass es wichtig war, um welchen der Aurelier es sich handelte, konnte sie immer noch genauer nachhaken. So sah sie das Mädchen nur an, während Tilla nun über Eltern und Geschwister sprach. Mit einer Hand strich Siv abwesend über Lunas weiche Nüstern, die andere zog die Decke enger um ihren nassen Körper, der inzwischen fror, während sie die kleine Sklavin nachdenklich musterte. Sie alle hatten hier keine Eltern und keine Geschwister. Sie alle teilten dieses Schicksal. Aber die Germanin konnte nicht ganz entscheiden, ob es leichter war, wenigstens in der Vergangenheit Familie gehabt zu haben – oder eben nicht. Sicher stellte sie es sich schwierig vor, nicht zu wissen, von wem man stammte, aber versklavt zu werden mit der Gewissheit, die, die man liebte, nie wieder zu sehen…
"Du musst… hier suchen, nach Platz. Nicht in Vergangenheit leben." Ein seltsames Funkeln blitzte kurz in ihren Augen auf. Genau das hatte sie versucht. Genau das hatte sie geglaubt, zu haben – einen Platz, an den sie gehörte, hier. Und jetzt? Sie schüttelte den Gedanken ab. "Du sonst bist unglücklich. Vergangenheit, was gewesen, was erlebt, das ist wichtig, aber nur für in Erinnerung. Nicht für leben." Sie hoffte, Tilla verstand, was sie sagen wollte. Man durfte nicht vergessen, wo man herkam. Aber man durfte auch nicht zulassen, dass es einen bestimmte. "Der Mord?" Siv zuckte hilflos die Achseln. Sie wusste ja noch nicht mal, wann das passiert war, und wie… "Geh zu Aurelier. Zu Av… Avi… ianus? Geh zu ihm. Frag ihn. Er weiß, was gesein ist, mit sein Vater, und wann." Das zumindest war für sie die einzige Alternative. Wenn sie etwas beschäftigte, wenn ihr etwas auf dem Herzen lag, dann ging sie in der Regel schnurstracks zu demjenigen, den es betraf. Siv strich dem Mädchen leicht über den Kopf. "Und wir gehen rein, ja?" Inzwischen ließ sich nicht mehr leugnen, dass Siv eine längere Zeit mitten im Regen gestanden hatte. Sie war klatschnass geworden, auch die Decke war inzwischen durchgeweicht, und sie schlotterte mittlerweile. "Rein, und schlafen. Und morgen, du gehst zu Aurelier und fragst."
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Seine Reaktion darauf, dass sie ihn beim Namen nannte, bemerkte sie noch, bevor sie wieder wegsah – und wieder meinte sie, einen Fehler damit gemacht zu haben, zu vertraut gehandelt zu haben. Sie sprach ihn so selten direkt an, hatte es stets vermieden, wo es ging – anfangs aus dem Unwillen heraus, einen anderen Menschen mit Herr anzureden, dann, als ihr Verhältnis stetig vertrauter geworden war, in der stillschweigenden Übereinkunft, dies nicht zu offensichtlich werden zu lassen. In letzter Zeit sehnte sie sich immer häufiger danach, ihn beim Namen zu nennen, sein Praenomen zu benutzen, jenen Namen, der den vertrautesten Menschen vorbehalten war. Aber sie hielt sich stets zurück. Seine Reaktion im Balneum war gewesen, sich zurückzuziehen, sie fortzuschicken, und in diesem Moment hätte sie viel ertragen, aber nicht das. Sie war bereit, jedenfalls glaubte sie das, ihm die Entscheidung zu überlassen, sich, ihren Körper und ihr Kind ihm anzuvertrauen und zu tun, was er letztlich für das Beste halten würde. Aber jetzt gehen zu müssen, ohne das irgendetwas klar war, allein gelassen zu werden mit dieser Unsicherheit, wäre zu viel. Sie schloss für einen Moment die Augen, als Corvinus dann antwortete. Er wollte sie nicht fortschicken. Und auch nicht verstecken. Ein Teil von ihr jubilierte, als sie das hörte, aber der Rest vernahm nicht nur die Worte, sondern auch den Tonfall. Und der verhieß nichts gutes in ihren Ohren, zumal Corvinus nach wie vor nichts über das Kind selbst gesagt hatte. Als sie ihn wieder ansah, war erneut er es, der seinen Blick woanders hin lenkte, zu ihren Sandalen, während er nun eine nachdenkliche Pose einnahm. Sie wusste nur nicht, ob das ein gutes oder schlechtes Zeichen war. Corvinus war so herausragend darin, zu verbergen, wie es in ihm aussah, in welche Richtung seine Gedanken gingen, und gerade jetzt wäre es ihr so wichtig gewesen zu sehen, was ihn umtrieb. Aber hatte sie nicht auch vor ihm verborgen, wie es ihr gegangen war – nur mit dem Unterschied, dass er nicht gewusst hatte, dass etwas los war? Zeit. Er braucht Zeit. Zeit. Zeit, hämmerte es in ihrem Kopf. Er brauchte Zeit. Mehr Zeit als ein paar Augenblicke. Es war nur so schwer für sie, das zu akzeptieren – und zu warten.
Wieder drangen Worte an ihr Ohr, und als sie diesmal den Sinn begriff, realisierte, was er gesagt hatte, konnte Siv nicht verhindern, dass sie scharf die Luft einsog. Er heiratete die Flavia also tatsächlich. Sie hatte es gewusst, er hatte es nur zu deutlich gemacht, aber irgendwie war es ihr noch schwammig erschienen, wie etwas, das in ferner Zukunft passieren würde – nicht so bald schon. Hatte sie sich eben noch danach gesehnt, er möge seine Gedanken mit ihr teilen, wünschte sie sich jetzt beinahe das Gegenteil. Es ging um sie, sie beide, und das Kind, sein Kind, das sie unter dem Herzen trug. Was musste diese Flavia wieder zwischen ihnen stehen, was musste sie sich einmischen, sogar jetzt, in diesem Augenblick? Siv wusste, dass Celerina wenig dafür konnte, aber sie konnte nicht verhindern, dass Zorn in ihr aufwallte, Zorn auf die Flavia, dass sie wie ein Dämon zwischen ihnen schwebte und sich überall einzunisten schien, die Flavia, die, wenn sie in ihrer Situation wäre, sich sicher keine Sorgen machen müsste, ganz sicher nicht, der Corvinus kein zweifelndes Gesicht, sondern Freude entgegenbringen würde… Und gleichzeitig schwappte wieder eine Welle der Übelkeit hoch, die Siv nur mühsam wieder niederkämpfen konnte. Sie rang mit sich, mit ihrem Zorn und mit der Übelkeit, und sie brauchte Momente dafür, lange Momente, so kam es ihr vor. Aber schließlich meinte sie leise: "Du hast gesagt, du willst heiraten, sie. Du musst fragen dafür. Bevor sie will andere Mann." Was Siv zwar gefreut, aber niemals verstanden hätte. Corvinus war jemand, auf den es sich lohnte zu warten – und das dachte sie nicht nur, weil sie selbst ihn liebte, sondern weil sie wusste, dass er für Celerina einiges bieten konnte. Aber was würde sie dazu sagen, wenn sie erfuhr, dass Corvinus’ Leibsklavin schwanger war? Würde sie ahnen, wer der Vater war? Und wenn ja, was würde sie tun? Siv dämmerte, dass das Kind Corvinus noch viel mehr Schwierigkeiten bereiten konnte als sie bisher vermutet hatte. Konnte Celerina ihre Zustimmung zur Heirat davon abhängig machen, ob Siv das Kind austrug? Gar davon, ob sie seine Leibsklavin bleiben würde? Die Germanin presste die Kiefer aufeinander, bezwang eine weitere Welle der Übelkeit und versicherte sich stumm, dass Corvinus auf so etwas nicht eingehen würde. Er würde sich keine Vorschriften machen lassen, wer seine Sklaven waren. Er hatte sich für sie, Siv, entschieden, und er würde sich nicht von Celerina zu etwas drängen lassen, was er nicht wollte – wenn die Flavia denn überhaupt etwas davon erfuhr, wie ihr Verhältnis tatsächlich war. Nach außen war sie einfach eine Leibsklavin, die ihren Pflichten nachkam, sämtlichen Pflichten, so wie es üblich war, und auch wenn Siv es nicht immer gefiel, vor anderen so dazustehen, konnte sie sich damit doch abfinden. Es war ihr Stolz, der es ihr schwer machte als allzu brave und demütige Sklavin dastehen zu wollen – aber sie brauchte nicht das Gefühl zu haben, dass alle Welt wusste, wie es zwischen ihr und Corvinus wirklich aussah. Es reichte ihr, dass es so war.
Erneut wurde Siv aus ihren Gedanken gerissen, als sie das Rascheln von Stoff hörte. Ihr Blick, der zwar auf Corvinus geruht, aber seltsam abwesend gewirkt hatte, konzentrierte sich wieder auf ihn, als er sich erhob und zu ihr kam. Als er sie an sich drückte, schloss sie ihre Augen, lehnte sich an ihn und presste ihr Gesicht an seine Brust, während sich ihre Hände in den Stoff daneben krallten. Nun kämpfte sie erneut gegen Tränen an, wieder erfolgreich. Sie verstand, dass er in den Tempel gehen wollte. Sie hatte ja selbst das Bedürfnis gehabt, zu ihren Göttern zu beten, als sie endlich akzeptiert hatte, dass sie schwanger war, hatte nach ihrem Rat gesucht und um ihren Beistand gebeten. Und sie hatte mehr bekommen, als sie erwartet hatte. Vielleicht hatten die Götter gewusst, was noch auf sie zukommen würde, hatten gewusst, dass sie Stärke und Vertrauen brauchen würde, weil Corvinus ebenso wie sie zuvor Zeit brauchen würde… Und doch ließ sie ihn nicht los, sondern blieb bei ihm stehen. "Bitte", wisperte sie. "Was willst du? Sag, bitte, irgendwas…" Bleib, drängte es sie zu bitten, aber das unterließ sie. Nimm mich mit, drängte es sie genauso. Aber auch das sagte sie nicht. Bei den Opfern, die sie dargebracht hatte, hätte sie ihn auch nicht mitgenommen. Sie hatte allein sein müssen, in jenem Moment, sowohl mit ihren Göttern als auch mit Iuno. Wenn er sie dabei haben wollte, würde er es sagen – wenn nicht, dann ging es ihm wie ihr. Aber sie brauchte etwas, irgendetwas, woran sie sich klammern konnte, während er weg war. Auch dann würde die Unsicherheit, das Warten schwer genug werden, vor allem für jemanden wie sie, die Untätigkeit nicht leiden und Geduld nicht zu ihren Stärken zählen konnte. "Sag irgendwas. Was du denkst, jetzt. Was… möglich ist. Was sein kann."
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Siv zuckte zusammen, als sein Fluch kam, aber sie sprach weiter, wusste sie doch, dass sie kaum den Mut dazu finden würde, wenn sie sich einmal unterbrach. Vor allem nicht, wenn er sie noch mal so anfuhr. In ihrer momentanen Stimmung würde sie höchstens noch anfangen, sich für ihr Latein zu entschuldigen und zu rechtfertigen, zu erklären, dass sie ja lernte, dass sie sich anstrengte, dass sie vorhatte ihren Lehrer bei den Flaviern zu fragen, ob er sie in ihrer Freizeit noch unterrichten konnte. So aber erzählte sie weiter von dem Opfer, immerhin hatte er sie danach gefragt, und sie bemerkte nicht, dass seine Blicke immer wieder zu ihrem Bauch wanderten, bemerkte nicht, wie er an seinen Fingern zupfte, bemerkte nicht, wie so etwas wie Stolz in seinen Augen aufglomm. Sie war zu aufgeregt, zu nervös dafür. Stattdessen bemerkte sie nur die Zeichen, die ihre Angst noch verstärkten. Der scheinbare Ärger, der sich auf seinen Zügen abzeichnete, die Wut über diese Situation, in die sie ihn gebracht hatte. Siv schluckte erneut, und ihr Mund wurde immer trockener. Erneut versuchte sie sich zu sagen, dass er Zeit brauchte – sie hatte Tage, annähernd zwei Wochen gehabt, sich langsam daran zu gewöhnen, und wie sehr hatte sie sich in dieser Zeit geweigert, eine Schwangerschaft auch nur ansatzweise in Betracht zu ziehen, obwohl ihr recht früh dieser Gedanke gekommen war? Sobald sich dieser Gedanke zu einem Verdacht erhärtet gehabt hatte, hatte sie ihn verdrängt. Und erst seit ein paar Tagen war sie nicht mehr in der Lage dazu gewesen, hatte sie angefangen sich damit zu beschäftigen, den Gedanken zuzulassen, dass sie schwanger war. Corvinus dagegen wusste es erst seit wenigen Augenblicken. Und Siv wusste immer noch nicht, was das für ihn bedeutete, für jemanden wie ihn, mit seiner Position, seiner gesellschaftlichen Stellung in Rom, wenn seine Sklavin schwanger wurde. Ob er denn überhaupt großartig eine Wahl hatte.
Sie wartete, beobachtete ihn, war froh, dass er sie selten länger musterte, weil sie nicht wusste, ob sie seinem Blick hätte standhalten können – und das, obwohl sie sich eigentlich nichts hatte zuschulden kommen lassen. Aber sie fürchtete sich vor dem, was er als nächstes sagen würde. Und als er dann das Wort ergriff, zuckte sie erneut zusammen, allein wegen des Klanges seiner Stimme, der so nüchtern war, so distanziert. "Corvinus." Das war ihr mehr herausgerutscht als alles andere, und beinahe noch etwas anderes herausgekommen. Marcus, hatte ihr für einen Moment auf der Zunge gelegen, aber sie hatte nicht vergessen, wie er das erste und bisher letzte Mal darauf reagiert hatte, und sie nutzte seinen Namen ohnehin nur selten, nach wie vor. Aber ihre Stimme klang gequält. Und seinem Blick hielt sie dann tatsächlich nicht länger als wenige Augenblicke stand, bevor sie ihren erneut senkte. Ja, es würde wohl jeder wissen. Oder doch die meisten, hier im Haus jedenfalls. Es drängte sie zu fragen: na und? Dann wusste es eben jeder. Er war Römer, mehr noch, er war Patrizier und Senator, was hieß, er war nicht irgendwer, sondern reich und mächtig. Was musste er sich darum scheren, was andere sagten? Und Sklavinnen hatten sie alle, die Reichen in Rom, und das Bett teilten auch nicht wenige mit ihren Sklavinnen, das wusste Siv. Sie konnte doch nicht die einzige sein, die schwanger wurde. Nur, was passierte denn mit den anderen? Das war genau der Punkt. "Ich weiß nicht", kam leise über ihre Lippen. Traurig und unglücklich sah sie wieder hoch, sah ihn nun doch an, auch wenn es ihr nicht leicht fiel. Aber das hier war wichtig. Zu wichtig, um auszuweichen. Ihre Stimme jedoch klang keinen Deut weniger hilflos als zuvor. Hatte die Erzählung über das Opfer ihr noch geholfen, wusste sie jetzt nicht, was sie sagen sollte. "Ich weiß es nicht. Ich…" Sie holte Luft, und als sie weitersprach, hatte ihr Stimme etwas Verzweifeltes an sich. Sie wollte das Kind so gern behalten. Aber wenn er keine Wahl sah… "Ich will nicht Ärger für dich sein, oder machen. Oder Schwierigkeit. Ich… Der Medicus… kann kommen. Oder ich gehe, ich meine, du schickst mich zu Landgut, von dir, bis das Kind da ist… Oder ich bleibe hier, in Villa, und gehe nicht mehr hinaus…" Sie knirschte kurz mit den Zähnen, so fest biss sie sie aufeinander, während sie erneut um Beherrschung rang und gleichzeitig inständig hoffte, endlich etwas anderes in seinem Gesicht zu lesen als Verärgerung, und etwas anderes in seiner Stimme zu hören als diese furchtbare Neutralität, als ob ihn das gar nicht wirklich etwas angehen würde. "Ich weiß es nicht. Ich weiß es doch nicht, was du tun sollst. Ich… nicht gewollt, das, ich nicht wollte schwanger sein. Aber es passiert. Und jetzt… ich will das Kind. Und ich will sein bei dir. Mehr als alles. Aber… wenn das heißt Ärger, für dich… dann…" Siv beendete ihren Satz nicht, aber es wurde auch so deutlich, was sie sagen wollte.
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Siv zuckte zusammen, als Corvinus sich so plötzlich zu ihr umdrehte. Was sie sonst noch gesagt hatte, darauf ging er gar nicht ein, auch nicht auf ihre Bemerkung mit dem Medicus – davon war sie sich gar nicht so sicher, ob er es überhaupt gehört hatte. Sie schluckte wieder, kämpfte um ihre Selbstbeherrschung. Lag das an der Schwangerschaft? Auch das war etwas, was sie mitbekommen hatte, mehr als einmal, die erhöhte Empfindlichkeit von Frauen, die ein Kind trugen, aber pragmatisch und resolut, wie Siv in solchen Dingen normalerweise war, hatte sie das bisher immer als Mythos abgetan – als eine Ausrede von Schwangeren, sich nicht mehr beherrschen zu müssen. Jetzt stellte sie fest, dass tatsächlich etwas dran war. Oder lag es daran, dass Corvinus ihr so viel bedeutete, und dass ihr deshalb die Vorstellung, sein Kind zu bekommen, keine Angst machte, ganz im Gegenteil – und deshalb der Gedanke so weh tat, dass es ihm anders ging als ihr. Jetzt, wo er es endlich wusste, war ein Großteil der Aufregung und der Unsicherheit verschwunden. Zurück blieb hauptsächlich Angst, davor, wie er entscheiden mochte. Und wenn sie das alles wegließ, die ganzen negativen Gefühle, dann freute sie sich sogar über das Kind. Sie hatte das nicht geplant, sie hatte es nicht gewollt, aber es war nun mal passiert, und es war das Kind des Mannes, den sie liebte… Dann schlug die Angst wieder zu.
Schweigend begegnete sie seinem Blick, wusste zunächst nicht, was sie sagen sollte, folgte ihm mit ihren Augen, wie er sich setzte, wie er direkt aus dem Krug trank. Tief sog sie Luft in die Lungen, fast parallel zu ihm, aber abgesehen davon rührte sie sich immer noch nicht. Er war nicht auf ihr Angebot eingegangen. Er hat es gar nicht gehört, wisperte eine winzige Stimme in ihr. Siv biss die Zähne zusammen. Vielleicht brauchte er nur Zeit. Sie hatte Zeit gehabt, sich an den Gedanken zu gewöhnen schwanger zu sein, darüber hinaus hatte sie gerade eben erst eine für ihren Geschmack quälend lange Zeit damit verbracht, Angst zu haben krank zu sein, wirklich krank. Wieder schluckte sie, bemühte sich, ihre Emotionen unter Kontrolle zu bringen. Sie konnte sich selbst nicht leiden, wenn sie so weinerlich war, so schwach. Noch einmal holte sie Luft, und ihre Stimme klang etwas fester, nicht viel, und immer noch leise, aber immerhin etwas. "Ich…" Sie gestikulierte erneut hilflos. "Ich habe Caecus gefragt. Er, er weiß nichts, von dass ich schwanger bin. Ich habe… gesagt, ich bin neugierig. Wie opfern ist, für römische Götter. Was zu tun ist." Ihre Zungenspitze fuhr nervös über ihre Lippen. "Gestern, hab ich das gefragt. Ich hab, ich wollte nicht, dass wahr ist, dass ich schwanger bin. Aber letzte Tage, da… habe ich nicht gekonnt, nicht mehr, mich anlügen. Und Caecus hat erzählt, alles, was ist gebraucht für Opfer für Iuno, und ich habe gesucht, was gebraucht, Blumen aus Garten, und Früchte, und Kekse… Heute morgen, da bin ich auf Markt gewest, mit allem Geld, das meins ist, aber es ist nicht genug gewest… Aber der Händler hat mir das Kaninchen trotzdem gegeben." Wie ein Wasserfall brachen die Worte jetzt aus ihr hervor. Sie gab Corvinus gar keine Chance, zu unterbrechen. Sie wusste selbst nicht so genau, was los war, hatte nur das Gefühl, dass reden ihr half – und wenn es nur den Moment hinauszögerte, bis Corvinus sein Urteil fällte. "Ich war im Tempel, dann, und habe Opfer gebringt, und alles war gut. Und Brix hat mir gegeben das Geld, für Händler, wegen Kaninchen, was gefehlt hat – aber ich zahle zurück, ich weiß nicht wie, aber ich werde tun, weil, Opfer für Iuno, das war wichtig, das Kind, das ist doch halb römisch, da kann ich nicht nur Opfer bringen für meine Götter…" Ihre Stimme war gegen Schluss immer leiser geworden, und schließlich erstarb sie ganz.
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Nachdem es endlich heraus war, verstummte Siv. Sie starrte ihn nur schweigend an. Und Corvinus starrte zurück. Als er dann plötzlich hochsprang, wich sie unwillkürlich etwas zurück, aber Corvinus wandte sich von ihr ab, und nun war er derjenige, der hin und herlief, während sie angewurzelt dastand und ihm dabei zusah. Es hätte seines leisen Ausrufs nicht bedurft, um ihr klarzumachen, wie wenig begeistert er von dem war, was sie ihm gesagt hatte. Seine Haltung, sein flacher Atem, alles zeigte das nur zu deutlich. Siv machte noch einen Schritt zurück, während ihre Hände sich in ihre Tunika krallten. Corvinus war ganz und gar nicht begeistert, und Siv meinte zu wissen, was das bedeutete. Ihre Kehle wurde eng, und schon spürte sie, wie Tränen aufstiegen – was sie selbst ärgerte. Sie konnte nichts ändern an dem, was passiert war, weinen brachte da nichts, weinen brachte nie etwas. Ihre Unterlippe wurde erneut malträtiert, diesmal nicht aus Nervosität, sondern um durch den Schmerz die Tränen zurückzudrängen und den Kloß im Hals zum Verschwinden zu bringen. Sie schluckte mühsam und hörte wortlos zu, als er endlich antwortete. "Ich habe aufgepasst!" Natürlich hatte sie das – sie hatte doch nicht schwanger werden wollen! Das hatte sie noch nie gewollt, auch nicht, als sie mit Ragin verheiratet gewesen war, sie hatte es sich einfach nicht vorstellen können, sie und ein Kind… Wieder musste sie schlucken, als sie daran dachte, wie Ragin in dieser Situation wohl reagiert hätte. Er wäre überglücklich gewesen, er hatte sich nichts sehnlicher als ein Kind gewünscht, und er hatte geopfert dafür… während sie Hel insgeheim darum angefleht hatte, sie nicht schwanger werden zu lassen, noch nicht jedenfalls, und ebenso im Geheimen eine Kräutermixtur zu sich genommen hatte, von der es hieß, dass sie eine Empfängnis verhütete – und ein Amulett getragen hatte, mit einer Runenkombination darauf, das sie von einer ihrer Schwägerinnen bekommen hatte, mit derselben Wirkung. Sie hatte es immer um ihr Handgelenk getragen, enggeschnürt und das Amulett selbst unter den breiten Lederstreifen verborgen, damit es Ragin nicht auffiel, weil sie wusste, dass er sie nicht verstanden hätte. Bei allem Verständnis, dass er sonst für sie und ihre zahlreichen Fehler und Macken aufgebracht hatte, dafür hätte er keins gehabt.
Und jetzt war sie schwanger. Obwohl sie weiter getan hatte, was sie wusste, was sie kannte, um es nicht zu werden. Aber letztlich lag es immer noch in der Hand der Götter, glaubte sie, sie hatte oft genug davon gehört, dass Frauen schwanger wurden, egal was sie angestellt hatten, um genau das zu verhindern – wenn die Götter so entschieden, dann wurde eine Frau schwanger, egal, was sie tat. Und irgendwie fand Siv es gar nicht so schlimm oder erschreckend, nicht nachdem der erste Schock vorbei war – und wenn sie ihre Lebensumstände ignorierte, dass sie Sklavin war, dass es Probleme geben würde. Vielleicht, weil sie sich verändert hatte, weil sie älter geworden war und auch reifer, weil sie gelernt hatte, zurückzustecken… Sie glaubte daran, dass sie das alles bewältigen konnte, wenn ihr nur die Chance gegeben würde, und wenn Corvinus nur zu ihr hielt. Aber es sah nicht danach aus. "Es tut mir leid", begann sie, sich zu verteidigen, aber es klang fast noch kläglicher als sie sich fühlte. "Ich wollte nicht, wollte nicht Schwierigkeiten machen, für dich, ich…" Sie sah ihn an, und in ihrem Blick spiegelte sich ihre ganze Hilflosigkeit wieder, ebenso wie in der einen, einzigen Geste, die sie mit ihrer Hand machte, bevor sie sie wieder sinken ließ. "Ich war opfern, nicht nur für meine Götter, auch für Iuno, wegen das Kind, für Schutz und Gesundheit, und das ist gut, Opfer war gut, sie hat es genommen, weißt du, und…" Ihre Stimme erstarb erneut. Was für eine Rolle spielte es denn, dass Iuno ihr Opfer angenommen hatte? Sie hätte damit warten sollen, bis sie wusste, was Corvinus von ihrer Schwangerschaft hielt. Was er entscheiden würde. Wieder begannen ihre Augen feucht zu schimmern, und jetzt senkte Siv den Kopf, starrte den Boden vor sich an. "Der Medicus hat gesagt, er weiß, wie er kann… wegmachen", flüsterte sie tonlos. Sie wollte das nicht. Oh Hel, sie wollte es nicht. Aber wenn das für Corvinus der einzige Weg war, würde sie sich nicht weigern. Vielleicht schickte er sie auch nur auf eines seiner Landgüter, bis das Kind geboren war, und gab es dann weg, aber sie wusste nicht, welche der Möglichkeiten sie vorziehen sollte. Wenn sie das Kind schon hergeben musste, dann war es vielleicht besser, wenn sie die Schwangerschaft vorzeitig beendete, wenn sie nicht erst neun Monate mit dem Kind hatte und es dann weggeben musste.
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Siv beobachtete Corvinus, wie er langsam erwachte. War das gut, dass er gedöst hatte? Oder schlecht? Oder… "Mhm", machte sie. Es konnte jedem passieren. Ihr war es häufig passiert, in letzter Zeit. "Hm", machte sie dann wieder. Dann zog sie sich ohne zu fragen einen Sessel heran und ließ sich darauf niedersinken, allerdings nur knapp auf der Kante. "Also, das… Sofia hat Recht gehabt, weißt du? Ich habe öfter übel." Siv verstummte wieder und stöhnte innerlich. Dann sprang sie auf. Sie war einfach nicht fähig still zu halten. Vorgeblich ohne auf Corvinus zu achten, dabei aber immer wieder einen Seitenblick auf ihn werfend, begann sie im Raum hin und her zu laufen. "Der Medicus war da. Brix hat geruft nach ihm, und er… hat untersucht." Nein, so kam sie nicht weiter. Aber wie bei Hel sollte sie es ihm denn sagen? Ich bin schwanger? Sie hatte wenigstens etwas Zeit gehabt, sich an den Gedanken zu gewöhnen, immerhin hatten sich die Anzeichen langsam gemehrt, zuerst hatte sie sie verdrängen können, das war kein Problem gewesen, anfangs, erst mit der zunehmend verstrichenen Zeit war es immer schwieriger gewesen. Schließlich blieb sie stehen und sah ihn etwas unglücklich an. Abgesehen von der Zeit, in der er nicht mit ihr gesprochen hatte, war ihr nie zuvor so bewusst gewesen wie jetzt, dass sie seine Sklavin war. Er konnte alles tun. Sie glaubte nicht daran, aber Fakt war, dass er sie sogar dazu zwingen konnte, es loszuwerden, wie der Arzt es ausgedrückt hatte. Sie hatte kein Mitspracherecht, und sie wusste einfach nicht, wie es normalerweise gehandhabt wurde, wenn eine Sklavin von ihrem Herrn schwanger war. Aber sie wusste, wie viel ihm sein gesellschaftlicher Stand in Rom bedeutete, wie wichtig ihm das war, die Traditionen, und die Ehre seiner Familie. Dass ein Herr eine seiner Sklavinnen zu sich ins Bett nahm, war normal, das hatte sie mitbekommen inzwischen, und was zwischen ihnen beiden war, zwischen ihnen persönlich, dass es mehr war als nur ein Römer, der mit seiner Sklavin das Bett teilte, weil er nicht verheiratet war und weil er eine hatte, davon wusste kaum jemand etwas, und die wenigen, die es wussten, wie Brix zum Beispiel, sagten nie etwas. Aber was passierte, wenn die Sklavin schwanger wurde, davon wusste sie nichts. Die Germanin presste die Lippen aufeinander, kaute dann auf ihrer Unterlippe und strich sich mit beiden Händen ein paar Strähnen hinter die Ohren, die ihr ins Gesicht gefallen waren. "Ich war nicht ehrlich, vorhin." Wieder biss sie auf ihrer Unterlippe herum, ging wieder ein paar Schritte, machte dann auf dem Absatz kehrt und kam zurück, stellte sich vor ihn hin. Sie holte tief Luft. Am liebsten hätte sie nun die Augen geschlossen, aber sie war nicht feige. Sie war aufgeregt und hätte sich am liebsten in den Garten verkümelt, aber sie kniff nicht. "Ich weiß, was ist. Warum da Übelkeit ist." Wieder eine Pause. Ein Durchatmen. "Ich bin schwanger."
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"Mehr? Ach so. Ja. Via Nigra, Venustempel. Vierzweifünf", wiederholte Siv. Nicht dass es nötig gewesen wäre, Brix wusste sicher, wo der Arzt wohnte, immerhin hatte er ja nach ihm schicken lassen. Auf ihren Widerspruch hin reagierte Aracus dagegen gar nicht, was Siv dann doch etwas irritierte – aber auch sie sagte nichts. Sollte er doch glauben, Brix wäre der Vater. Vielleicht vermutete er sogar, dass die Aurelier sich Sklaven heranzüchten wollten, immerhin waren sie beide Germanen, was man ihnen auch beiden ansah. Siv schauderte kurz bei dem Gedanken, aber sie wusste, dass es einige Römer gab, die sich nicht das geringste dabei dachten, mit ihren Sklaven dasselbe zu tun wie mit Pferden oder anderen Tieren. Was auch immer der Arzt dachte, es war vermutlich besser, er ahnte nicht, wer wirklich der Vater war. Vor allem nicht, da sie noch wusste, wie der Vater reagieren würde, wenn er es denn erfuhr. Sie stand auf, nahm das Säckchen entgegen und seufzte lautlos, drehte es dann in ihren Fingern und legte erneut den Kopf schief. "Wie? Er will nicht sehen?" Das überraschte sie etwas. Aber vielleicht genügte es Corvinus ja, wenn Brix ihm Bericht erstattete. Und das machte die Sache für sie etwas einfacher. Während Aracus mit dem Maiordomus sprach, hatte sie locker Zeit genug, zu Corvinus zu gehen und ihm endlich zu sagen, was los war. "Danke. Und… alles Gute. Und so." Sie sah ihm nach, wie er die Kammer verließ, dann sprang sie zur Tür und rief ihm noch einen Abschiedsgruß auf Griechisch hinterher, jedenfalls das, was sie dafür hielt. Sie verharrte noch, selbst als Aracus aus ihrer Sichtweite verschwunden war. Dann, plötzlich, kam Bewegung in sie. Sie verließ die Kammer endgültig, zog die Tür hinter sich zu und machte sich auf die Suche nach Corvinus.
~~~ Später, im Tablinum ~~~
In seinem Officium war er nicht gewesen, in der Bibliothek auch nicht. Im Cubiculum war er zu dieser Tageszeit so gut wie nie, außerdem hätte sie sich dann schwarz geärgert, wenn er dort gewesen wäre, hätte sie sich doch einiges an hin und her laufen sparen können, wenn sie gleich darauf gekommen wäre – nun würde sie schon aus Prinzip im Cubiculum zuletzt nachsehen. Sie hoffte nur, er war nicht weggegangen… Einen Moment schwankte sie, ob sie im Garten oder auf der Terrasse nachsehen sollte, aber dann entschied sie sich doch für das Tablinum. Und dort fand sie ihn auch. Nach einem leisen Anklopfen öffnete sie die Tür und sah hinein, und tatsächlich, da saß er, in einem Sessel, die Augen geschlossen. Ganz gegen ihre sonstige Art räusperte sie sich zaghaft und betrat dann zögerlich den Raum. "Hrm. Corvinus?" Sie trat näher zu ihm heran. Hel, hilf mir, flehte sie lautlos. Wie sollte sie ihm nur sagen, was sie zu sagen hatte. "Ich, hrm… hast du Zeit? Jetzt? Bitte?"
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Siv bekam den Eindruck, dass Aracus sie vergessen hatte. Sie war schon kurz davor, ihn ein wenig anzustupsen, oder ihm eines seiner Beutelchen wegzunehmen, um ihn auf sich aufmerksam zu machen, da sah er hoch und schaute sie verwirrt an, nur um einen Moment später zu lächeln. Und dann bestätigte er, was sie ohnehin vermutet hatte. Was sie gewusst hatte, bis er sie so verunsichert hatte! Siv ließ sich auf ihr Bett fallen, stützte die Arme hinter sich ab und legte den Kopf in den Nacken. Den Göttern sei Dank, keine Krankheit. Sie war schwanger. Tatsächlich schwanger… Irgendwie war es etwas anderes, das noch mal aus dem Mund eines Arztes zu hören. Sie atmete ein paar Mal tief ein und aus, dann wandte sie ihren Kopf wieder Aracus zu. Die Frage, welchem Zweck was gedient hatte, war ihr nun gar nicht mehr so wichtig, irgendwie. Wieder aufmerksam, sah sie dabei zu, wie er die verschiedenen Kräuter und sonstigen Zutaten nun in eine weitere Schale gab und sie zerstieß. Etwas zweifelnd legte sie den Kopf dann schief bei seinen Worten. Sie kannte sich mit so etwas aus, sie hatte alle Mittelchen gegen Übelkeit ausprobiert, die sie kannte, aber bisher hatte nichts geholfen. "Das trinken. Frisches essen. Nicht verk-" Dann wurde ihr klar, was der Grieche noch gesagt hatte. "Was?" Zum dritten – oder war es schon das vierte oder fünfte Mal? – starrte sie ihn fassungslos an. "Brix? Er ist nicht der Vater. C-" Dann unterbrach sie sich. Wer der Vater war, ging den Arzt nichts an. Niemanden ging das etwas an. Obwohl es zumindest bei den meisten Bewohnern der Villa kaum einen Zweifel darüber geben würde. "Ich werde reden, mit ihm. Mit Dominus. Hm." Siv zögerte einen Moment, aber sie hatte nicht vergessen, wie zurückhaltend Brix sich verhalten hatte. "Ich glaube, er wird reden wollen, mit dir. Kann ich… Bitte, kann ich vorher, reden mit ihm? Ich will ihm sagen, von schwanger sein."
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Siv sah dem Arzt gespannt bei dem zu, was er tat. "Ja. Ich bin aus Germanien", teilte sie ihm mit, aber es klang ebenso nebensächlich wie sie es meinte. Viel mehr interessierte sie in diesem Moment, was er da in dem Schälchen mit ihrem Urin entdecken konnte. Nur als er über das Meer sprach, merkte sie tatsächlich einen Moment auf. "Nein", sagte sie, und in ihrer Stimme schwang etwas Bedauern mit. Tilla hatte ihr vom Meer erzählt, und auch ein paar andere, aber selbst dort gewesen war sie noch nie. "Nein, habe ich nicht." Dann wandte sie sich wieder dem zu, was Aracus anstellte. Neugierig und gespannt beobachtete sie, wie er sich den Inhalt der Schale ansah, wie er daran roch, schließlich davon probierte. Sauer und süßlich? Siv rang mit sich, ob sie nachfragen sollte, aber noch war der Respekt vor dem Arzt und die Unsicherheit in ihr größer. Schweigend beobachtete sie, wie er verschiedene Säckchen aus seiner Tasche holte, eines davon leer, und wie er das leere zu füllen begann. Dann hielt sie es nicht mehr aus. "Und… was heißt das? Sauer und süßlich? Was ist Bedeutung davon? Und was ist das, was du machst da, warum?" Siv tänzelte beinahe, nicht nur vor Aufregung, sondern inzwischen auch vor Neugier und Wissensdurst. Sie wollte wissen, was der Arzt da tat, welchem Zweck das alles diente! Und sie fand es mehr als ärgerlich, dass er ihr so gar nichts sagte – so oder so wäre es ihr so gegangen, aber dass es sie und ihren Körper betraf, machte die Sache nur noch schlimmer.
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Siv behielt den Medicus im Auge, aber sie konnte an seinem Gesichtsausdruck nicht erkennen, was er dachte. Und sie konnte noch nicht mal sagen, ob es tatsächlich daran lag, dass der Arzt eine undurchdringliche Miene aufsetzte, oder an ihrer eigenen Aufregung und Unsicherheit. Und er sagte nichts darauf, was sie schon wieder ärgerte. Es ging doch schließlich um sie, da könnte er ihr wenigstens mitteilen, was für Schlüsse er aus ihrer Aufzählung zog. Stattdessen beharrte er nur darauf, dass sie sich in die Schale erleichtern sollte, anstatt auf ihre Fragen zu antworten, vor allem nach dem Warum. Aber nach einem kurzen Moment drehte er sich wenigstens um, und Siv saß da, mit der Schale in der Hand, und fühlte sich einfach nur verwirrt und unsicher. Warum konnte Aracus ihr nicht ein bisschen mehr erzählen? Fast war sie versucht, sich zu weigern, aber der Drang zu wissen, was mit ihr los war, war einfach stärker – und der Arzt hatte etwas an sich, dass ihr Respekt einflösste. Also tat sie wie geheißen, während Aracus anfing, von seiner Heimat zu erzählen. Siv spitzte die Ohren, wie immer, wenn sie andere erzählen hörte von fremden Orten.
Als sie fertig war, räusperte sie sich und stellte die Schale auf den Tisch, gespannt darauf, was der Arzt nun damit anfangen würde. Sie selbst blieb stehen, fühlte sich zu aufgeregt, um ruhig sitzen zu können, und verschränkte ihre Arme hinter dem Rücken, um ein wenig Ruhe und Anspannung in ihren Körper zu bekommen. "Meine Heimat ist viel kälter. Weiß ist da der Schnee, da ist kein Meer oder so… Aber Meer, das will ich sehen, irgendwann."
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Siv grübelte immer noch darüber nach, was es sonst sein könnte. Sie kannte die ersten Anzeichen für eine Schwangerschaft. Und sonst? War es ein Geschwür? Manche Tiere, die sie ausgenommen hatte, hatten Geschwüre, sie ging davon aus, dass Menschen so etwas auch kriegen konnten – aber sie hatte keine Ahnung, was für Auswirkungen so etwas hatte. Konnten es die gleichen sein wie eine Schwangerschaft? Die Germanin schickte ein Stoßgebet zu Hel und sank in sich zusammen – um eine Winzigkeit nur, aber es reichte aus, dass ihre Haltung lange nicht mehr sicher und aufrecht wirkte wie normalerweise. Sie musterte den Arzt und wartete auf seine Reaktion, rechnete mit so gut wie allem, war dann aber doch überrascht, als er sich nur zurücklehnte und anfing, ihr Fragen zu stellen. Einen Augenblick saß sie einfach nur da und sah ihn an, während sie nach wie vor unfähig schien, ihre Finger ruhig zu halten – jetzt noch weniger als zuvor. Sie hatte Angst davor, möglicherweise tatsächlich krank zu sein, ernsthaft krank. Sie hatte gesehen, wie manche Menschen dahingesiecht waren, ohne dass sie etwas hatten tun können zu Hause, ohne dass sie überhaupt hatten rausfinden können, was die Ursache dafür war. Manchmal straften die Götter einen Menschen. Aber Siv konnte sich nicht vorstellen, was sie so Schlimmes getan hatte, um so etwas zu verdienen.
Sie atmete tief ein und bemühte sich, sich auf den Arzt zu konzentrieren, und seine Fragen. "Ehm… sechs Wochen. Bald sieben. Und, normal ist bei mir, wie der Mond, regelmäßig, da ist wenig Unterschied." Es gab Frauen, bei denen die Blutung von Natur aus unregelmäßig einsetzte, aber Siv gehörte nicht dazu. "Kein Durchfall. Magenschmerzen… Ja, ein bisschen, also… wenn übel ist, dann. Sonst… normal. Manchmal tut etwas weh, Brust vor allem. Und ich bin oft, öfter müde, die letzte Zeit, wie bei Fieber, oder großes Anstrengen, aber da ist nichts, also kein Fieber oder Anstrengen, mehr als sonst. Ehm." Wieder machte sie eine Pause, fühlte sich fast etwas erschlagen von den ganzen Fragen des Arztes. Aufzuzählen, wie es ihr ging, tat ihr aber merklich gut – es waren die typischen Anzeichen für eine Schwangerschaft. So war es bei den meisten Schwangeren gewesen, die sie gekannt hatte, im Grunde alle diese Dinge vorhanden, nur eben manche Sachen mehr, manche weniger stark ausgeprägt, wie beispielsweise diese vermaledeite Übelkeit, die, das würde Siv bei allen Göttern beschwören, ihr mit Sicherheit mehr zu schaffen machte als den meisten anderen Frauen. Jedenfalls konnte sie sich nicht daran erinnern, dass eine ihrer Schwägerinnen oder Bekannten sich so häufig hatten übergeben müssen. Oder war das ein Zeichen dafür, dass sie nicht schwanger, sondern krank war? Weil die Übelkeit heftiger war bei ihr? Ihre Hände verkrampften sich unwillkürlich. "Ich trinke normal, essen auch… Aber am Morgen wenig. Und Vormittag. Da ist immer Übelkeit da. Nachmittag und Abend dann normal. Meistens. Und, also, die Übelkeit, das ist egal, was ich gegesst habe. Oder ob. Und ich muss öfter zu Latrine." Als wäre das ein Stichwort für den Arzt gewesen, beugte er sich nach vorn und öffnete nun seine Tasche. Siv zuckte unwillkürlich ein Stück weg, in Erwartung irgendeines Instrumentes, aber neben der Geruchswolke, die die Tasche verließ, beförderte Aracus nur eine Schale zutage und hielt sie ihr hin. Siv starrte ihn an. "Wie? Hier? Jetzt? Warum?"
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Siv starrte den Medicus noch einen Moment an. Wie er wissen konnte, was sie vermutete – worüber sie sich gewiss war, so gewiss, dass sie schon geopfert hatte! – verriet er nicht, und Siv ärgerte sich auch darüber. Sie mochte es nicht, wenn jemand einen Vorteil hatte ihr gegenüber. Vor allem nicht in einer Situation, in der es so konkret um sie ging. Aber sie bohrte auch nicht weiter nach, war sie doch einigermaßen überzeugt davon, dass der Arzt so etwas von sich abprallen lassen würde. Anschließend legte sie den Kopf etwas schief und musterte Aracus. Sie war sich nicht ganz so sicher, ob er tatsächlich verstand, was sie gerade hatte sagen wollen, worum es ihr ging, aber sie sagte nichts darauf. Er wirkte gutmütig und freundlich, und sie wollte ihn nicht vor den Kopf stoßen, konnte er doch am allerwenigstens etwas für ihre Situation – und möglicherweise verstand er doch. Er war Arzt, und sie hatte inzwischen genug gelernt und gesehen hier, um zu wissen, dass ihn das zu einem sehr gebildeten Mann machte, und einem, der viel konnte, jedenfalls wenn er von Brix geholt wurde. Und er hatte das mit der Schwangerschaft gewusst, das hatte sie beeindruckt und tat es nach wie vor. Es nötigte ihr Respekt ab. Dass Brix ihm wohl von ihrer Übelkeit erzählt hatte, das konnte sie sich schon denken, aber sie kam nicht auf die Idee, dass der Mann Erfahrung hatte und schlicht eins und eins zusammen zählte.
Einmal sitzend, wäre Siv am liebsten wieder aufgesprungen und hin und her gelaufen, aber sie beherrschte sich – konnte allerdings nicht verhindern, dass ihre Hände sich zu kneten begannen. Ihre Augenbrauen zogen sich etwas zusammen, als der Arzt begann, verschiedene Gründe für ihre Übelkeit aufzuzählen. Zögernd schüttelte sie den Kopf. Sie glaubte nicht, dass etwas davon auf sie zutraf. Sie hatte nicht einfach nur etwas Falsches gegessen, und ihre Arbeit war in den letzten Wochen ganz im Gegenteil wieder leichter geworden. Und krank war sie auch nicht. Sie kannte doch sich und ihren Körper! Oder war es etwas Schlimmeres, irgendeine Krankheit, die sie noch nie gehabt hatte, die seltener war, deren Auswirkungen sie nicht einschätzen konnte? Sie war sich jedenfalls sicher, dass es keine Krankheit war, die sie kannte, so gut war ihr Körpergefühl, um das sagen zu können – aber was konnte sie denn haben, das Übelkeit verursachte und bewirkte, dass ihre Blutung bis jetzt ausblieb? Oder hing das gar nicht zusammen? Sie fluchte lautlos, als ihr klar wurde, dass der Arzt es doch tatsächlich geschafft hatte, sie zu verunsichern. "Nein. Ich kenne mich. Kenne mein Körper. Ich habe nichts falsch gegesst, und ich bin nicht krank. Ich… das ist übel, mir ist übel, seit länger, und… da ist kein Blut, also, aber muss, eigentlich, auch länger schon." Sie zögerte kurz. "Du sagst du kannst rausfinden? Ob ich schwanger bin?" Noch ein Zögern, bevor sie schließlich nachgab. Wenn der Arzt nun schon da war, konnte er auch genauso gut seine Arbeit machen, auch wenn Siv sich nicht sonderlich wohl fühlte. Sie hatte keine Ahnung, wie er herausfinden wollte, ob sie schwanger war, und wie lange das dauern würde. "Dann mach."