Beiträge von Aureliana Siv

    Siv stützte ihr Kinn auf einer ihrer zur Faust geballten Hände auf und musterte die drei, die sich ihr zuwandten. Die Rothaarige war also tatsächlich Kriegerin… Ein Teil von Siv ärgerte sich über ihren Vater, der ihr so wenig Vorschriften gemacht hatte und ausgerechnet in diesem Punkt stur geblieben war. Und dabei noch nicht einmal Recht gehabt hatte. Der weitaus größere Teil von ihr aber beschloss, sich mit diesem Ärger, wenn überhaupt, erst später zu beschäftigen, und sich stattdessen auf das Gespräch zu konzentrieren, in das sie nun doch endlich hineingerutscht war. Die beiden älteren, die sie nicht kannte, grüßten sie freundlich, während Tilla wieder vor Gesten überzusprudeln schien. Außer Bad, das sie von vorhin wiedererkannte, verstand Siv nichts, weswegen sie auch nicht wusste, was Tilla den anderen beiden alles erklärte. Aber daran hatte sie sich bei der Führung durchs Haus schon gewöhnt, und sie lächelte Tilla leicht zu, als diese an ihren Haaren zog und danach ihren Kopf auf den Schoß der Rothaarigen legte. Sie schien so müde zu sein, wie Siv sich fühlte, und es schien ihr immer schwerer zu fallen, wach zu bleiben. Die Germanin beneidete sie für einen kurzen Moment, hatte sie doch den Verdacht, dass sie selbst heute nicht viel Schlaf finden würde. Umso mehr freute sie sich aber darüber, dass sie nun wenigstens für eine gewisse Zeit etwas Ablenkung hatte, und nickte den anderen beiden zu. "Ja, neu hier. Seit heute Nachmittag… Heute. Brix mich bringen, und…" Sie zuckte etwas hilflos mit den Achseln, als ihr die Worte ausgingen. "Ich Siv. Komme Germanien."

    Der Römer ließ sich Zeit, und Siv hatte den Verdacht, dass er im Gegensatz zu ihr mit Absicht schwieg. Für einen Moment presste sie die Zähne aufeinander, und ihr Kinn schob sich etwas nach vorne, als sie ihren Kopf ein Stück anhob. Ihm schien die Situation zu gefallen, und das ärgerte Siv. Doch sie schwieg nach wie vor beharrlich, während der Mann sie auf eine Art musterte, die sie schon kannte. Je mehr sie sich Rom genähert hatten, desto mehr Blicke dieser Art hatten sie und die anderen Germanen auf sich gezogen – genauso wie sie selbst anfangs alle gemustert hatte, die so anders aussahen als sie mit ihren dunklen Augen, dunklen Haaren, der dunkleren Haut. Allerdings, und bei diesem Gedanken hätte sie am liebsten wieder das Gesicht verzogen, hatte sich ihr Interesse tatsächlich auf die Andersartigkeit beschränkt, im Gegensatz zu vielen Römern. Aber auch daran hatte sie sich gewöhnt – was war ihr schon übrig geblieben, mit einem Haufen römischer Soldaten um sie herum.


    Siv wurde aus ihren Gedanken gerissen, als der Römer sich schließlich nach vorne beugte. Sie unterdrückte im letzten Moment ein Zusammenzucken und beobachtete, wie er einen zweiten Pokal mit Wein füllte und ihn hier hinhielt, und nach einem Augenblick des Zögerns nahm sie ihn entgegen. Sie wartete immer noch darauf, dass irgendetwas passierte, und mehr um ihre Hände zu beschäftigen als aus irgendeinem anderen Grund drehte sie den Pokal in ihren Händen, schnupperte dann an der Flüssigkeit und probierte davon. Und musste sich zusammennehmen, um nicht genießerisch aufzuseufzen. Es war das erste Mal, dass sie Wein trank, und sie konnte daher nicht beurteilen, wie gut er tatsächlich war – aber der Geschmack sagte ihr um so vieles mehr zu als der von Honigwein. Sie hätte es nicht laut zugegeben, immerhin war Met aus ihrer Heimat und dieser Wein von den Römern, aber der Met war ihr einfach zu süß, um ihr wirklich zu schmecken. Sie nippte noch einmal daran und beobachtete erneut den Römer über den Rand des Pokals, als dieser das Schweigen endlich beendete.


    Nicht zum ersten Mal spielte Siv für einen Moment mit dem Gedanken, Hel zu sagen, als er nach ihrem Namen fragte. Hel, die Göttin der Toten und Herrscherin der Unterwelt, der sie geweiht war, so hatte ihr Vater es ihr eingetrichtert, seit sie denken konnte. Hel, die ihre Mutter mitgenommen hatte, noch in der Nacht ihrer Geburt. Hel, die sie ebenfalls in ihren Fängen gehabt – und dann doch wieder frei gegeben hatte. Hel, ihre Patin, ihre Schutzgöttin, und eines Tages ihre Richterin. Sie bezweifelte, ob der Römer – irgendein Römer – verstehen würde, was sie damit sagen wollte; dass sie allein vor dem Namen erzittern müssten, wüssten sie, wer Hel war. Sogar die Asen, hieß es, hatten Angst vor der Tochter Lokis – deswegen war sie ins Totenreich verbannt worden. Aber ignorant, wie die Römer waren, würde es wohl kaum einer von ihnen verstehen. Dennoch hatte sie mit dem Gedanken gespielt, jedes Mal wenn ein Römer nach ihrem Namen gefragt hatte. Sie, von den Römern Hel genannt, beim Namen der Göttin, die das ganze römische Reich das Fürchten lehren könnte. Aber sie hatte es nie getan. Ihr Respekt vor der dunklen Herrin war zu groß, ihre Ehrfurcht zu tief, als dass sie diesen Frevel wirklich begangen hätte. Es hatte seinen Grund, dass ihr Vater ihr nach ihrer Geburt – als klar war, dass Hel sie in dieser Nacht nicht zu sich holen würde – nicht den Namen der Totengöttin gegeben hatte, obwohl er ihr das Leben seiner Tochter geweiht hatte. Den Zorn Hels zog man besser nicht auf sich, und wo ihr Vater den Namen der dunklen Herrin aus Ehrfurcht verwendet hätte, hätte Siv ihn nur benutzt, um sich selbst Genugtuung zu verschaffen. "Siv", antwortete die Germanin also schließlich wahrheitsgemäß, während sie den Weinpokal wieder in ihren Fingern drehte. "Mein Name Siv."

    Siv wusste nicht warum, aber irgendwie hatte sie nicht damit gerechnet, dass jemand in dem Raum sein würde. Wie versteinert stand sie einige Momente da und starrte den Mann an, der sie ebenso überrascht musterte. Der Raum war in das weiche Licht einer Öllampe getaucht, und nebenbei registrierte sie, wie großzügig er eingerichtet war, auch wenn ihr Blick auf dem Mann haften blieb. Oh, großartig, schoss es ihr durch den Kopf. Es war spätabends, und sie hatte doch einfach nur den Weg zu ihrem Bett finden wollen. Und jetzt war sie offenbar in die Gemächer eines der Römer hineingestolpert. Ihr erster Gedanke war, einfach die Tür wieder zu schließen und zu gehen. Vielleicht noch ein Entschuldigung murmeln – wenn sie denn gewusst hätte, was das auf Latein bedeutete, hieß das. Entschuldigung war kein Wort, das man von römischen Soldaten lernen konnte, vor allem nicht wenn man ihre Gefangene war. Aber letztlich war das egal, sie hätte auch kein Problem damit gehabt, ohne ein Wort zu verschwinden. Leider überwand der Römer seine Überraschung schneller als sie – er nahm die Füße von dem zweiten Stuhl, rollte den Papyrus zusammen, den er in den Händen hielt, und bedeutete ihr sich zu setzen.


    Siv zögerte einen Moment. Wenn sie schon nicht gehen konnte, wäre sie doch zumindest lieber bei der Tür stehen geblieben – aber sie wollte verdammt sein, wenn sie den Römer glauben ließ, sie würde sich unwohl fühlen in seiner Gegenwart oder hätte gar Angst vor ihm. Dass sie sich tatsächlich nicht unbedingt wohl fühlte, musste er nicht wissen, und sie selbst versuchte es ignorieren. Bisher hatte sie immer nur mit den anderen Sklaven zu tun gehabt – es war das erste Mal, dass sie in diesem Haus auf einen der Römer traf, einen von denen, die sie würde bedienen müssen. Aber es konnte doch nicht so viel anders sein als es mit den Soldaten gewesen war… Ohne den Römer aus den Augen zu lassen, trat sie langsam in den Raum hinein und schloss die Tür hinter sich, bevor sie zu ihm hinüber ging und sich auf dem Sessel niederließ, auf den er zuvor gedeutet hatte. Obwohl sie sich lieber die Zunge abgebissen hätte als zuzugeben, wie es in ihr gerade aussah, konnte sie doch nicht verhindern, dass ihre Körpersprache recht eindeutig war. Sie saß mehr auf der Kante des Sessels als richtig darin, ihr Rücken war gerade, die Beine unter den Stuhl gezogen und verkreuzt, und ihre Finger spielten an ihrer Tunika herum, bis Siv es merkte und sie mit einer bewussten Anstrengung versuchte sie ruhig zu halten, was ihr aber nicht sonderlich gut gelang. Im Übrigen wartete sie ab – er hatte bisher ebenso wie sie geschwiegen, aber sie wusste beim besten Willen nicht, was sie hätte sagen sollen.

    Siv fluchte leise auf Germanisch vor sich hin, als sie durch die Gänge lief und nach dem Schlafraum suchte, in dem sie untergebracht war. Dieses Haus war einfach zu groß! Wie sollte sie sich jemals hier drinnen zurecht finden? Tilla hatte sie gestern zwar durch die Villa geführt, aber da war sie müde gewesen und hatte sich nicht mehr viel merken können, ganz davon abgesehen, dass es einfach zu groß war – das war etwas, was sie selbst in Gedanken nicht oft genug betonen konnte. Für ein Haus, das eigentlich nur dazu gedacht war, dass Menschen darin schliefen und vielleicht noch aßen, war es ZU GROSS. "Unnatürlich, das ist es. Menschen sollten nicht in Häusern leben, die so riesig sind, dass man sich in ihnen verirren kann…" Siv war hoffnungslos verloren. Probehalber öffnete sie eine Tür, um zu sehen, ob dahinter vielleicht ein bekannter Raum zu sehen war, aber sie erkannte nichts, und es war auch niemand darin, den sie hätte fragen können. Also zuckte sie nur die Achseln, schloss die Tür wieder und ging weiter.


    Den Tag heute hatte sie damit verbracht, die allgemeinen Aufgaben kennen zu lernen, die von den Sklaven zu erledigen waren – für sie offenbar hauptsächlich Küchenarbeit, und, sie verzog das Gesicht, die Latrinen sauber machen. Im Grunde war es auch nicht so großartig anders, als einen Stall auszumisten, trotzdem hätte Siv letzterem jederzeit den Vorzug gegeben. Zusätzlich, hatte ihr Brix ihr erklärt, bekamen die meisten Sklaven noch Aufgaben, die ihnen speziell zugewiesen wurden, aber da sie ihrem Besitzer – sogar in Gedanken triefte das Wort vor Hohn – noch nicht einmal begegnet war und er auch sonst keinem etwas gesagt hatte, wusste niemand, ob und was sie zu tun haben würde. Daran zu denken, dass sie, sie!, jemandem gehören sollte, brachte ihr Inneres wieder zum brodeln, und dass sie immer noch nichts gefunden hatte, woran sie sich orientieren konnte, machte es nicht gerade besser. Die nächste Tür, bei der Siv ihr Glück versuchte, öffnete sie mit dementsprechend etwas mehr Schwung. Zwei Dinge fielen ihr auf Anhieb auf: zum einen kannte sie auch diesen Raum nicht. Zum anderen war er nicht leer.

    Als Tilla einfach ihre Hand genommen hatte, war Siv so verblüfft gewesen, dass sie sich einfach hatte mitziehen lassen, auch wenn sie kein Wort von dem verstanden hatte, was das Mädchen gestikuliert hatte – außer dass sie wohl irgendwohin wollte. Umso überraschter war sie, als sie den Garten betraten. Die Germanin musste sich zusammenreißen, um sich nicht zu sehr anmerken zu lassen, dass sie den Garten vom ersten Moment an liebte. Sie war fasziniert von den vielen Pflanzen hier; sie hatte geglaubt so gut wie alle zu kennen, und auf die aus ihrer Heimat – von denen es auch ein paar gab, wie sie feststellte – traf das auch zu. Aber von den Gewächsen hier hatte sie, abgesehen von denen aus dem Norden, die meisten noch nie gesehen, und den Rest kannte sie nicht wirklich, nur von der Reise. Aber mehr noch als all die fremden Pflanzen hier, die sie faszinierten, bedeutete der Garten für sie vor allem eines: sie hatte einen Zufluchtsort gefunden. Inmitten all dieser fremden Menschen, dieser Stadt, die sie nur beängstigend gefunden hatte, dieses Hauses, dessen Wände sie zu erdrücken schienen, gab es doch einen Ort, an den sie sich zurückziehen konnte – wenn man sie ließ. Siv unterdrückte ein Seufzen und versuchte nicht daran zu denken, wie selten sie Zeit für sich haben würde. Stattdessen folgte sie Tilla, die ihr den Garten zeigte und danach das Haus, und schon bald schwirrte ihr der Kopf von den ganzen Gängen und Räumen.


    Später war Siv wieder zu den Unterkünften gekommen und hatte sich bald hingelegt – die ganze letzte Zeit war anstrengend gewesen, der Transport hierher, der heutige Tag auf dem Sklavenmarkt, und nun all die neuen Sachen, die hier auf sie einströmten… Siv war müde, aber sie konnte dennoch nicht schlafen. Sie hatte das Gefühl nicht wirklich atmen zu können – sie war es nicht gewohnt, in einem Raum zu schlafen, in dem sie nicht einfach nur zur Tür hinaus gehen brauchte, und sie war draußen… Sie hatte sich unruhig hin und her gewälzt, und erst als sich die Tür geöffnet hatte und kurz nacheinander zwei Sklavinnen hereingekommen waren, war sie still geworden. Die beiden Frauen fingen an sich zu unterhalten, auf Latein – Siv verdrehte unwillkürlich die Augen unter den geschlossenen Lidern. Sie mochte diese Sprache nicht. Schon aus Prinzip. Dennoch war sie kurz versucht, von ihrem Stockbett aus hinunter zu sehen und die beiden wenigstens zu grüßen, die Gelegenheit zu nutzen sie kennen zu lernen. Aber irgendwie… es schien nicht zu passen. Siv wünschte sich nichts mehr, als jemanden zu haben, mit dem sie reden konnte, jemanden der ihr das Gefühl gab, nicht ganz so alleine zu sein. Aber gleichzeitig fürchtete sie sich auch davor, dass sie sich hier irgendwann zu wohl fühlen würde – so wohl, dass sie sich mit ihrer Situation abfand. So kam es, dass sie einfach nur dalag und zuhörte, und es vergingen nur ein paar Augenblicke, da war der Moment vorbei, in dem sie sich wirklich ungezwungen ins Gespräch hätte einschalten können – und von da an fühlte Siv sich ausgeschlossen. Was sie ärgerte, war es doch einzig und allein ihre Schuld.


    Sie drehte sich doch auf die andere Seite und versuchte erneut zu schlafen, aber sie fand immer noch keine Ruhe, und mehr unbewusst bekam sie die Unterhaltung mit, soweit ihr Latein dafür reichte, hieß das. Tilla kam ebenfalls noch dazu und gesellte sich zu den beiden anderen, aber Siv rührte sich immer noch nicht. Sie hatte wieder überlegt, etwas zu sagen, Tilla zu grüßen, und wieder hatte sie einen Bruchteil zu lange gewartet… Siv schlug die Augen auf und haderte mit sich selbst. Sollte sie etwas sagen? Oder nicht? Oder doch? An Schlaf war im Moment ohnehin nicht zu denken… Aber auf der anderen Seite… Ihre Gedanken drehten sich im Kreis, als auf einmal ein Wort erklang, dass sie nicht nur verstand, sondern das sofort ihre Aufmerksamkeit erregte. "Kriegerin?" Ohne nachzudenken setzte Siv sich halb auf und schob ihren Kopf über die Kante, so dass ihre langen blonden Haare darüber hingen, und sah zu den dreien nach unten. Sie hatte Kriegerin sein wollen. Ihre Brüder hätten ihr alles beigebracht… Aber ihr Vater war ja der Meinung gewesen, dass es keine Kriegerinnen gab, weil Kämpfen nichts für ein Mädchen war. Und jetzt sollte sie ausgerechnet hier herausfinden, dass es doch Kriegerinnen gab? Nur einen winzigen Augenblick später wurde ihr bewusst, dass sie einfach in das Gespräch hineingeplatzt war. Ihre Wangen färbten sich leicht rötlich, aber sie war zu stolz, um sich jetzt einfach zurückziehen – oder zu erklären, warum sie jetzt erst etwas sagte. Stattdessen fügte sie nur noch hinzu: "Ähm. Hallo."

    Siv folgte Tilla zur Tür und nickte zum Zeichen, dass sie deren gezeichnete Hinweise verstanden hatte. "In Ordnung. Wir sehen dann." Sie deutete erst auf das Bad, dann zurück zu den Unterkünften, und hoffte Tilla verstand, dass sie ‘bis später’ gemeint hatte. Die andere Sklavin wandte sich schließlich ab, und Siv ging hinüber zum Bad, betrat den Raum und schloss die Tür hinter sich. Sie war froh, dass sie für ein paar Momente alleine sein würde. Seit ihr Leben sich in diesen… diesen Trümmerhaufen, so schien es ihr, verwandelt hatte, waren Augenblicke der Ruhe so rar geworden… vor allem solche, in denen sie wirklich zur Ruhe kam. Ihr kam es so vor, als ob sie sich auf einem Abhang befand, mitten in einer Lawine, die sie mit sich riss, und noch war nicht in Sicht, wann diese Lawine endlich stoppen würde – geschweige denn wie ihr Leben dann ausssehen würde. Und das Schlimmste war, es gab nichts, was sie tun konnte. Ihre Hände ballten sich unwillkürlich zu Fäusten. Sie hasste es, sich so hilflos, so ausgeliefert zu fühlen.


    Siv holte tief Luft, schüttelte die Gedanken ab und begann, in den Truhen zu stöbern, die Tilla ihr ‘gezeigt’ hatte. Bei den Sachen, die sie zutage förderte, begann sie sich zu wünschen, es gäbe hier irgendwo einen Fluss oder See, in den sie springen könnte, anstatt hier in einem Haus baden zu müssen. Sie musterte die Sachen, die sie herausgelegt hatte, und griff dann mit nachdenklich vorgeschobener Unterlippe nach einem Ding, dessen Nutzen ihr völlig unklar war. Es war ungefähr halb so groß wie ihre Faust, unregelmäßig geformt, und die Farbe lag irgendwo undefinierbar zwischen beige und grau. Siv drehte das Ding vorsichtig in ihrer Hand und schnupperte dann daran; ihre Nasenflügel weiteten sich, als sie den seltsamen, aber nicht unangenehmen Geruch wahrnahm, den das Ding ausströmte. Danach berührte sie es vorsichtig mit der Zungenspitze – nur um mit einem Laut des Widerwillens das Gesicht zu verziehen und die Hand schnell sinken zu lassen. Sie beschloss, das Ding erst mal Ding sein zu lassen und das Bad vorzubereiten, auch wenn sie mit der Hälfte der Sachen in dem Raum nicht wirklich etwas anfangen konnte; erst als sie fertig war, nahm sie es noch mal und drehte es für einen Moment unschlüssig in der Hand. Offenbar war es zum Waschen gedacht, warum sonst sollte es hier sein – vielleicht sollte sie es einfach mal ins Wasser halten… Gedacht, getan. Gespannt, ob etwas passieren würde, hielt sie ihre Hand ins Wasser – war dann aber doch überrascht, als es mit einem Mal so glitschig wurde, dass ihre Finger fast den Halt daran verloren. Mit gerunzelter Stirn zog Siv ihre Hand wieder aus dem Wasser und betrachtete das Ding etwas verärgert, das, einmal nass geworden, nicht daran dachte, seine Glitschigkeit aufzugeben. Mehr noch, auf ihren Fingern bildete sich inzwischen ein leichter Film, der dafür sorgte, dass ihr das Ding auf einmal aus der Hand flutschte. "Hey!" Siv griff danach, bekam es zu fassen, nur um es im nächsten Moment wieder zu verlieren, und diesmal landete es tatsächlich auf dem Boden. Mit einem Fluch bückte sie sich danach und hob es auf, und dabei entdeckte sie, dass der Film sich inzwischen zu so etwas wie Schaum gewandelt hatte, der denselben Duft verbreitete wie das Ding selbst, nur intensiver. Dieses Mal rümpfte Siv leicht die Nase wegen des ungewohnten Geruchs, aber sie entdeckte, dass sich der Schmutz von ihrer Hand durch den Film zu lösen begann, und beschloss dass es das war, wozu das Ding gut sein musste.


    Nach ihrem kleinen Abenteuer mit diesem Ding namens Seife, dessen Namen sie vielleicht irgendwann mal lernen würde, entledigte sie sich schließlich mit einem Seufzen ihrer dreckigen Sachen und stieg in das warme Wasser. Ihr Körper trug noch die Spuren der Reise, die Blessuren, die sie dabei davon getragen hatte, aus welchen Gründen auch immer, und es dauerte einen Augenblick, bis sie sich entspannte und die Wärme genießen konnte, die sie umgab. Dann seufzte sie auf und verharrte einige Momente wie sie war, bevor sie ganz untertauchte und anschließend begann, sich zu waschen, wobei sie das Ding zu Hilfe nahm. Und ohne es zu wollen, kehrten ihre Gedanken wieder zu ihrer Situation zurück, was als nächstes kommen würde, was sie hier erwarten würde. Sie genoss es, die Zeit im Bad für sich zu haben, aber gleichzeitig war es auch gefährlich – in Gegenwart anderer konnte sie sich zusammenreißen, konnte ihre Gefühle weitgehend verbergen, sogar vor sich selbst. Aber wenn sie alleine war, fiel es ihr schwer sich nicht einzugestehen, wie verloren sie sich fühlte. Entwurzelt, heimatlos… Bebend holte Siv Luft und blinzelte die Tränen weg, die auf einmal ihre Augen zu füllen drohten. Mit einem wütenden Ruck stand sie auf und verließ das Wasser; sie zitterte in der für ihren nassen Körper kalten Luft, und eine Gänsehaut breitete sich aus, aber sie blieb trotzdem noch einige Momente so stehen, ließ die Kälte wirken, bevor sie nach einem Tuch griff und sich abtrocknete. Schwach, schimpfte sie sich innerlich, und ihre Bewegungen waren grob genug, dass ihre Haut davon brannte und die Blessuren zu schmerzen anfingen. Du bist so schwach. Kein Wunder, dass du hier gelandet bist. Trotzdem konnte Siv nicht verhindern, dass ihre Unterlippe bebte und ihre Augen ständig blinzelten.


    Etwas später tauchte Siv wieder in dem Schlafraum auf, wo Tilla auf sie wartete – sauber, die Haare gewaschen, so dass sie in noch feuchten, glänzenden Wellen weit über ihren Rücken fielen. Unruhig fingerte sie an der Tunika herum, die sie nun trug. Sie fühlte sich unwohl in dem Ding, und das nicht nur, weil es mehr Haut sehen ließ als sie gewohnt war. Es war der Stoff, und wie das Kleidungsstück geschnitten war. Es war so anders als die festen Sachen aus Leder, die sie kannte – es war so leicht, so fließend, umschmeichelte ihren Körper und folgte den Konturen, dass sie das Gefühl bekam, sie könnte genauso gut nackt herumlaufen. "Fertig." Sie zupfte immer noch an dem Stoff herum. "Was… als jetzt?"

    Tilla nahm die Tafel wieder entgegen und schien kurz zu überlegen, dann berührte sie Sivs Handgelenk und machte wieder eine Geste. Diesmal begriff die Germanin, was Tilla von ihr wollte. "Ob ich oben schlafe? Ja, zumindest hat Brix das gesagt." Sie nickte und wiederholte, diesmal auf Latein: "Ja. Brix sagen, das Platz… mir. Mein Bett. Für mich. Für schlafen." Siv seufzte lautlos, als ihr klar wurde, dass sie ein Kauderwelsch von sich gab, jedes Mal wenn sie Latein sprach. Bisher hatte sie das nie gestört, aber bisher hatte sie auch immer nur dann Latein nutzen müssen, wenn sie mit Römern zusammen war. Die übrigen Gefangenen auf dem Weg nach Rom waren auch Germanen gewesen, mit denen sie sich in ihrer Sprache hatte unterhalten können. Das würde sich hier ändern – sie würde sich bemühen müssen, um sich verständlich auszudrücken, nicht nur für Tilla, sondern auch für die anderen Sklaven, wenn sie nicht gerade wie Brix ebenfalls Germanen waren.


    Tilla selbst gab sich jedenfalls Mühe, um einen Weg zu finden, sich Siv mitzuteilen. Sie hatte wieder die Tafel zur Hand genommen und kritzelte erneut darauf herum, und als sie sie Siv das nächste Mal zeigte, waren kleine Bildchen zu sehen. Ein Lächeln huschte über Sivs Gesicht, und die Aussicht auf ein Bad, selbst wenn sie sich dabei letztlich für die Römer herrichten musste, erschien ihr gar nicht mehr so schlimm. Sie nickte erneut. "Putzen. Putzen?" Siv runzelte leicht die Stirn. Sie war sich ziemlich sicher, dass es nicht das richtige Wort für sich waschen war, aber sie wusste kein anderes. "Ich… mich putzen. Und dann… neue Kleidung… Sachen tragen. Brix sagen, du mir hilfst. Wohin?" Sie musterte Tilla und lächelte erneut, während Tilla vorausging, um ihr den Weg zu zeigen. Sie mochte das Mädchen. "Wie lange du hier?"

    Siv war, gelinde gesagt, irritiert. Brix war gegangen, nachdem er ihr noch ein paar Informationen gegeben hatte, und Tilla brauchte nur einen Moment, bevor sie zu gestikulieren anfing. Und die Germanin starrte sie nur verständnislos an. "Das kann ja lustig werden…", murmelte sie. Warum war Brix so schnell verschwunden? Wie um alles in der Welt sollte sie sich mit diesem Mädchen verständigen? Tilla jedoch schien entweder Erfahrung damit zu haben, dass Fremde mit ihrer Gebärdensprache nicht viel anfangen konnten, oder sie hatte etwas von Sivs Verständnislosigkeit auf ihrem Gesicht sehen können – jedenfalls griff sie unter ihr Kopfkissen und zog eine Tafel hervor, auf die sie etwas kritzelte und die sie ihr dann hinhielt. Zögernd nahm Siv die kleine Platte entgegen und sah auf die Zeichen, die ihr genauso wenig sagten wie Tillas Gesten. Sie kannte zwar Runen und deren Bedeutungen – nicht alle, aber doch die wichtigsten. Aber die Zeichen, die die Römer benutzten? Damit war sie zum ersten Mal auf der Reise hierher in Berührung gekommen – und sie war erstaunt gewesen, als sie auch nur ansatzweise begriffen hatte, wie sehr die Römer diese Zeichen benutzten und wie viel sie damit offenbar ausdrücken konnten.


    "Und wie lustig das werden wird… Hör mal, ich kann nicht -" Sie unterbrach sich selbst, als ihr bewusst wurde, dass sie schon wieder Germanisch sprach. Einen Moment überlegte sie und zog die Unterlippe zwischen die Zähne, um darauf herum zu kauen. Es würde schwierig genug werden, sich mit Tilla zu verständigen, selbst mit dem wenigen Latein, das sie tatsächlich beherrschte – auch wenn das Mädchen offenbar verstand, was sie sagte, konnte sie nicht reden, und Siv selbst begriff weder ihre Gesten noch konnte sie lesen. Wenn sie weiter so tat, als ob sie nur das Allernötigste auf Latein begriff, würden sie hier kaum weiter kommen. Schließlich traf Siv eine Entscheidung. Vor den Römern konnte sie immer noch vorgeben, weniger zu verstehen. Sie lächelte Tilla bedauernd an und gab ihr die Tafel zurück. "Ich… Das da – ich nicht kann. Ich nicht - ich kann das nicht lesen." Sie deutete auf die Zeichen, die dort standen, und zuckte etwas hilflos mit den Achseln. "Nicht wissen, was bedeutet.Tut mir leid."

    Wenn die Freiheit dein sehnlichster Wunsch ist, dann diene gut… Ihre Lippen verzogen sich zu einem halb spöttischen, halb bitteren Lächeln. Sie war frei gewesen, bevor die Römer gekommen waren. Für etwas dienen zu müssen, und dann auch gut zu dienen, was sie eigentlich von Geburt an gehabt hatte und ihr nun gegen ihren Willen genommen worden war, dagegen sträubte sich alles in Siv. Damit akzeptierte sie nicht nur die Situation so wie sie war, sondern letztlich auch, dass es seine Richtigkeit hatte, dass sie nun Sklavin war. Und das kam für sie nicht in Frage. Sie gehörte nicht hierher, und sie würde keinen Herrn anerkennen. Ihr war durchaus bewusst, dass ihr vermutlich nichts anderes übrig bleiben würde als wenigstens so zu tun, aber in ihrem Inneren würde sie sich nicht damit abfinden. Sie wollte sich nicht damit abfinden, aber auch hier wusste Siv im Grunde, dass es vermutlich so kommen würde. Irgendwann würde sie aufgeben, weil es einfacher war, als ständig aufzubegehren. Aber das änderte nichts an der Tatsache, dass sie es nicht wollte… Laut sagte Siv allerdings nichts mehr dazu, nicht zuletzt weil Brix den Eindruck machte, dass er tatsächlich ernst meinte, was er sagte. Dass er selbst darauf hoffte. Und sie wollte nicht, dass er den Eindruck bekam, sie würde sich über ihn lustig machen – oder über seine Hoffnung frei zu kommen.


    Der Germane erhob sich anschließend und verließ den Raum, um Tilla zu suchen – mit der sie sich das Stockbett teilen würde. Siv drehte sich mit einem Seufzen um und trat ans Fenster. Das Bett ignorierte sie, wie alles andere um sie herum. Stattdessen wanderten ihre Gedanken zu den letzten Wochen, Monaten, und sie schloss die Augen, während ihr Kopf gegen die Wand sank. Schon da hatte sie angefangen, sich mit ihrem Schicksal abzufinden, auch wenn sie sich immer wieder gezwungen hatte, sich dagegen zu wehren – mit Absicht an das gedacht hatte, was sie verloren hatte, an die Wälder, an ihre Familie, ihre Freiheit. Alles was weh tat, alles was den Schmerz frisch hielt – weil sie dann gegen diesen Schmerz ankämpfen konnte. Und das half ihr nicht aufzugeben, ließ sie gegenüber den Römern stark sein. Sie klammerte sich an ihren Trotz, ihr Temperament, ihren Kampfgeist. Nur abends, wenn sie nicht einschlafen konnte, in dieser seltsamen Zeit zwischen Schlafen und Wachen, zwischen Traum und Wirklichkeit, die die einzigen Momente waren, in denen sie sich unbeobachtet fühlte und in Ruhe gelassen – das war die Zeit, in der sie ihrer Trauer, ihrer Einsamkeit, ihrer Angst nachgab. Die einzigen Momente, in denen sie Schwäche zuließ, und Tränen, die lautlos und heiß über ihre Wangen liefen, bis sie endlich einschlief.


    Als Siv ein Geräusch an der Tür hörte, hob sie ruckartig den Kopf. Ohne es zu merken nahm sie eine abwehrende Haltung ein, indem sie die Arme vor der Brust verschränkte, und ihre Augen bekamen einen gehetzten Ausdruck, ähnlich dem eines gejagten Tieres. Zu sehr war sie noch an den Sklaventransport gewöhnt, wo Geräusche letztlich immer bedeutet hatten, dass Römer kamen. Ihre Arme sanken wieder etwas herab, als sie Brix erkannte, und im nächsten Moment sah sie, dass er nicht alleine gekommen war – halb hinter ihm war eine junge Sklavin, die sie neugierig ansah. Siv legte den Kopf etwas zur Seite und versuchte sich an einem Lächeln. "Bist du Tilla?" Im nächsten Moment verbesserte sie sich, als ihr klar wurde, dass sie das Mädchen auf Germanisch angesprochen hatte – und dass es vielleicht freundlicher war, zuerst sich selbst vorzustellen. Obwohl sie mehr auf Latein hätte sagen können, begnügte sie sich damit, auf sich zu deuten und mit einem erneut angedeuteten Lächeln zu sagen: "Siv. Du Tilla?"

    Siv hörte sich mit ausdruckslosem Gesicht seine Schwärmereien über das Leben bei den Römern an. Nur ihre Augen blitzten verächtlich, und ihre Kiefer pressten sich aufeinander. Natürlich stimmte, was er sagte. Die Winter waren hart, und es verging kein Jahr, in dem Kälte und Hunger keine Opfer forderten. Aber damit war sie aufgewachsen. Diese Gefahr gehörte zu ihrem Leben dazu wie die Wälder, die ihr Dorf umgaben. Hätte sie die Wahl, würde sie mit Freuden das alles in Kauf nehmen, nur um hier weg zu können. Wann ihr Leben schließlich zu Ende sein würde, lag ohnehin in Hels Hand. Aber bis es soweit war, brauchte sie nichts von dem Luxus, den Brix aufzählte. Sie wollte einfach nur tun und lassen können, wonach ihr war.


    Dann allerdings stellte ihr der Germane eine Frage, die sie inne halten ließ. Was würde sie tun… "Reiten", antwortete sie ohne nachzudenken und mehr zu sich selbst als zu ihm. "Im Wald sein. Frei sein…" Siv verstummte, als die Sehnsucht plötzlich in ihr aufwallte und überhand nahm. Wie lange war es schon her, dass sie im Wald herumstreifen konnte? Dass sie hatte reiten können? Sie wusste es nicht mehr. Aber sie wagte stark zu bezweifeln, dass sie hier so etwas würde tun können. Es sei denn, es gab Aufgaben für sie, die eines von beiden erforderte. Aber auch das wagte sie zu bezweifeln. Als Brix dann auf die Soldaten zu sprechen kam, musterte sie ihn, etwas überrascht, dass er offenbar doch nicht alles so großartig fand, was die Römer taten. "Ich sag doch, sie halten sich für was Besseres."


    Fast schon gegen ihren Willen verzogen sich Sivs Lippen dann zu einem Lächeln, als Brix ein dröhnendes Lachen ertönen ließ, und sie stellte fest, dass sie sich nicht mehr daran erinnern konnte, wann sie selbst das letzte Mal wirklich gelacht hatte. "Ich wäre lieber Thor selbst als seine Braut", erwiderte sie grinsend. Dann wurde sie wieder ernster. "Ich hab ohnehin keine Wahl, oder?" Darauf dass sie scheußlich aussah, ging sie nicht ein – sie wusste zu gut, wie recht er damit hatte. Einen Moment schwieg sie, unschlüssig, ob sie noch etwas sagen sollte. Aber dann gab sie sich einen Ruck. Brix hatte es durch seine Art tatsächlich geschafft, sie etwas aufzumuntern, und dafür war sie dankbar – auch wenn sie seine Meinung über die Römer nicht teilte. Sie lächelte ihn etwas schief an. "Aber ich werd daran denken, dass ich es für dich tun soll. Immerhin will ich meine Sachen behalten."

    "Ja, ich bin Chattin." Bei Brix’ nächsten Worten begann Siv die Stirn zu runzeln, und ihre Miene verfinsterte sich zusehends. So etwas wie Verachtung begann sich in ihr zu formen. Der Germane, der ihr gegenüber saß, schien sich mit seinem Sklavendasein abgefunden zu haben, und das war etwas, was sie weder begreifen konnte noch wollte. "Welche Bestrafung ist denn bitte gerechtfertigt? Und wofür, dafür dass ich gegen meinen Willen hier bin? Die Römer halten sich für etwas besseres, aber das sind sie nicht, und sie haben nicht das geringste Recht sich so aufzuführen!" entgegnete sie hitzig. Im nächsten Moment biss sie sich auf die Lippen. Doch, die Römer hatten das Recht, und wenn es nur das des Stärkeren war. Trotzdem weigerte sie sich, sich damit abzufinden, und Siv hätte noch viel mehr sagen können, aber sie schwieg. Es hätte nichts gebracht, und es war nicht sonderlich klug, einen der anderen Sklaven vor den Kopf zu stoßen, wenn er freundlich zu ihr war. Sie wollte es sich nicht mit Brix verscherzen, schon gar nicht am ersten Tag. So kam nur noch ein gemurmeltes "Keiner der Römer weiß, was Gerechtigkeit ist. Dafür sind sie zu selbstgefällig."


    An Cadhla also sollte sie sich halten… Wie hieß nochmal die Sklavin, mit der sie sich das Stockbett teilte? Tilla? Siv prägte sich die Namen ein. Sie würde sich kaum alle auf einmal merken können, aber sie konnte versuchen, so viele wie möglich zu behalten. Nicht unbedingt die von den Römern, auch wenn sie diese wohl auch bald lernen würde; wichtig aber waren die Namen von denen, die dasselbe Schicksal teilten wie sie. So sehr sie auch am liebsten gegen alle und jeden aufbegehrt hätte, wie in den ersten Monaten ihrer Ehe, wusste sie doch, dass es keinen Sinn hatte. Sie war inzwischen älter, vernünftiger. Und wo ihr damals ihre Verwandten und Freunde verziehen hatten, dass sie sich ihnen gegenüber unmöglich benommen hatte in ihrem Glauben, dass ihr himmelschreiendes Unrecht widerfahren war, würde sie hier wahrscheinlich weit weniger Glück haben. Sie wollte nichts mehr als sich wie ein verletztes Tier, das in der Falle saß und blind vor Zorn, Schmerz und Angst war, gegen jeden wehren, jeden angreifen, der ihr zu nahe kam. Aber dann würde sie bald wirklich allein sein. Warum sollten sich die anderen Sklaven großartig um sie bemühen, wenn Siv ihnen gegenüber unfreundlich und ungerecht war? Nein, sie würde sich selbst ständig in Erinnerung rufen müssen, dass die anderen Sklaven dasselbe erleiden mussten wie sie – und genauso wenig wie sie etwas dafür konnten.


    Sie sagte Brix nicht, dass sie inzwischen mehr Latein konnte als nur ein bisschen. Genauso wenig sagte sie ihm, dass sie zwar vorhatte, weiter so viel und so schnell zu lernen, wie sie konnte, aber nicht es auch zu zeigen. Ihren Mund konnte sie allerdings nicht mehr halten, als er ihre – rhetorische – Frage tatsächlich beantwortete und ihr dabei auch noch zuzwinkerte. "Ich will kein Augenschmaus sein. Schon gar nicht für die Römer." Tatsächlich sehnte sie sich danach, endlich aus den schmutzigen Sachen herauszukommen. Sie wollte sich nicht herrichten, nur um den Ansprüchen der Römer zu genügen, aber ihre Haare waren verkrustet, so sehr, dass ihr Kopf juckte, und das was sie am Leib trug fühlte sich nicht mehr sonderlich angenehm auf der Haut an. Da sie aber praktischerweise ohnehin keine Wahl haben würde, musste sie das auch nicht laut sagen.

    Siv konnte nicht verhindern, dass ihre Augen größer wurden, als sie das Haus schließlich betrat. So viel neues sie auch in den letzten Monaten gesehen hatte, war doch nie so etwas Prunkvolles dabei gewesen. Allerdings hielt der Moment nicht lange an – sie zwang sich dazu, ihr Staunen zu unterdrücken. Es war das Haus eines Römers, das war alles, was zählte. Davon abgesehen, so prächtig es auch sein mochte, es war so anders als alles, was sie kannte… Siv hätte es nie zugegeben, aber sie hatte Angst. Angst vor dem, was kommen würde, vor diesem neuen Leben. Sie biss sich auf die Lippen, während der Germane sie zu ihrer Unterkunft brachte. Sie würde sich auflehnen, sie würde sich nicht unterkriegen lassen. Aber insgeheim wusste sie, dass auch sie gebrochen werden konnte. Sie hatte es ja schon in den letzten Wochen auf der Reise hierher gemerkt, wie schwach sie manchmal war, obwohl sie es nicht sein wollte, und sie wusste, sie konnte und würde gebrochen werden, je nachdem wie es von nun an weiterging. Und sie hatte Angst vor diesem Moment. Angst davor, auch noch das letzte bisschen Stolz und Selbstachtung zu verlieren, das ihr geblieben war.


    Auf Brix’ Worte reagierte sie kaum. Die Kiste, die er ihr zeigte, streifte sie nur mit einem Seitenblick – sie hatte nichts außer dem, was sie am Leib trug. Das Zimmer selbst unterzog sie einer genaueren Musterung, und sie konnte ein leichtes Schaudern nicht unterdrücken. Nein, Höhenangst hatte sie keine – aber Platzangst würde sie hier bekommen. Sie konnte jetzt schon nicht mehr genau sagen, auf welchem Weg sie hierher gekommen waren, aber es hatte für ihren Geschmack von der Tür bis zur Unterkunft zu lange gedauert. Der Gedanke, nicht einfach raus an die frische Luft zu können, wann immer sie wollte, schnürte ihr jetzt schon den Atem ab, und sie warf einen sehnsüchtigen Blick zum Fenster, bevor sie sich schließlich zu dem Germanen umdrehte und ihn musterte. Wenigstens hörte sie vertraute Worte, auch wenn er einen anderen Dialekt sprach als sie.


    „Ein bisschen“, antwortete sie endlich auf seine Frage, ob sie Latein könne. Obwohl sie die Sprache der Römer genauso wenig leiden konnte wie die Römer selbst – schon aus Prinzip – hatte sie schon bald nach ihrer Gefangennahme begriffen, dass es für sie nur von Vorteil sein konnte, die Sprache ihrer Feinde zu verstehen. Vor allem, wenn sich diese nicht darüber im Klaren waren, wie viel sie tatsächlich konnte. „Es reicht, um das Nötigste zu verstehen.“ Dann runzelte sie Stirn. Neue Kleidung… Und am besten noch ein Bad. Ihre Lippen verzogen sich spöttisch. „Gepflegt aussehen? Für die Römer? Für Besuch, den die Römer bekommen? Warum sollte ich das?“