Beiträge von Aureliana Siv

    Es war Merit. Als Siv das realisierte, wäre sie beinahe erneut in Tränen ausgebrochen, diesmal vor purer Erleichterung. Sie hatten sie nicht vergessen, sie war nicht allein, sie würde nicht hier unten bleiben müssen… "Merit", trotz aller Versuche, es zu unterdrücken, war das Schluchzen doch zu hören, "oh, Merit…" Siv achtete nicht mehr darauf, dass sie gar nicht sehen konnte, wo sie hinlief, und prompt stolperte sie erneut, riss sich den Stoff der Tunika und ein Knie auf, aber auch das ignorierte sie. Stattdessen sprang sie sofort wieder auf die Beine und tastete sich weiter vorwärts, immer noch zu schnell, aber etwas vorsichtiger diesmal. Dann, endlich, erreichte sie Merit-Amun, rempelte vielmehr gegen sie, schlang die Arme um die zierliche Ägypterin. Nun konnte sie nicht mehr verhindern, dass ihr Tränen über die Wangen liefen. Sie wusste nicht, wie lange sie schon hier unten war, sie hatte jedes Zeitgefühl verloren, aber Merits Worten und dem nur um eine Winzigkeit helleren Fleck nach zu schließen, der die offene Kellertür anzeigte, musste es wohl mitten in der Nacht sein.


    Die Germanin ließ Merit-Amun schon bald wieder los, obwohl sie es eigentlich nicht wollte, obwohl sie sich nach dem Körperkontakt sehnte – stattdessen fuhr sie sich mit beiden Händen über das Gesicht und wischte die Tränen fort, bemühte sich, wieder die Kontrolle zurück zu bekommen, sich nicht zu sehr gehen zu lassen. Trotzdem konnte sie nicht verhindern, dass ihr Atem schnell ging und sie am ganzen Körper zitterte. "Nein, nicht gut. Angst… Ich…" Ihr Tonfall war eine Mischung aus Schluchzen und einem leisen, aber eher verzweifelt klingendem Lachen. Bebend atmete sie ein. "Ich, ja, ich Angst haben, vor, vor Raum, und unten sein, unter Erde, in eng mit Wande und… Geeinsperrt, ohne Luft, das ist…" Siv unterbrach sich selbst und atmete erneut tief ein. Langsam ließ sie sich sinken, setzte sich auf den Fuß der Treppe, die von der Tür noch ein Stück weiter hinunter führte. "Danke, Merit. Für da sein. Dunkel nicht ein Problem, nur allein sein, und Raum…" Dann biss Siv sich auf die Lippen, als sie Merits restliche Worte nachdachte. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, was Matho den anderen erzählt hatte, und vor allem wie. "Untreu? Sein wenn du gebst Wort, und nicht so tust." Sie schlang die Arme um ihren Körper und starrte in die Dunkelheit vor sich, während sie in Gedanken wieder zum Nachmittag zurückwanderte, zu diesem einen Moment, in dem sie wie gebannt gewesen war von dem Anblick, den ihr das offene Stadttor offenbart hatte.


    "Ich gegeht, aus Tor, raus aus Stadt. Ich… nicht haben denken, gedenkt, weißt du? Ich nur gesehen Wald… in Sonne… Und da nicht sein Gedanken, nichts von Menschen hier, von du, oder Hektor oder Cadhla", oder Corvinus "und auch nicht von sein Sklavin, oder frei, oder Familie… nur… da war nur ein Gefühl, ich hab nicht nachgedacht, ich war irgendwie… gar nicht wirklich da, so kommt’s mir jetzt vor… Sein wie… ein wenig wie Traum, weißt du? Bin gegeht auf Tor, durch Tor… dann sein da Soldaten." Jetzt wurde ihre Stimme bitter, und gleichzeitig fing sie wieder an zu zittern – die alte Angst vor allem, was eine römische Uniform trug, konnte sie in ihrem momentanen Zustand noch schwerer unterdrücken als ohnehin schon. "Und ich geben Angst. Kriegen Angst. Soldaten sind…" Sie hob den Kopf und sah Merit an, versuchte ihren Gesichtsausdruck zu erkennen und konnte in der Dunkelheit doch nicht mehr sehen als nur eine vage schimmernde, hellere Fläche mit dunkleren Konturen, wo Augen und Mund waren. "Ich habe Angst, vor Soldaten. Sie tun schlimm, getan schlimm, als sie fangen, mir, bei erster Mal. Sie… Als Soldaten da sein, bei Tor, da… ich, ich gekriegen Angst, viel viel Angst, da nicht eins Gedanken mehr, nur Angst. Und ich gelaufen."

    Siv lehnte mit dem Rücken an der Tür, die Hände fest auf die Augen gepresst, und bemühte sich um einen ruhigen Atem – allerdings war sie nicht sonderlich erfolgreich. Ihre Brust hob und senkte sich in unregelmäßigem Abstand, mal atmete sie flach und schnell, dann wieder gezwungen langsam und tief. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus und sprang auf, in der Absicht durch den Keller zu laufen, um sich abzulenken – aber als sie stand, als sie die Augen offen hatte und in die Dunkelheit starrte, verließ sie der Mut. Sie schämte sich vor sich selbst, aber sie traute sich nicht. Die Finsternis schien eine stoffliche Qualität zu haben, die ihr das Atmen schwer machte und nach ihr zu greifen schien. Siv holte tief Luft, schloss erneut die Augen und konzentrierte sich, drängte die Panik zurück, die von ihr Besitz zu ergreifen drohte. "Komm schon. Beruhig dich", murmelte sie. Die eigene Stimme zu hören half ein bisschen, obwohl sie sich auch dafür schämte, dass sie das brauchte. Aber immerhin konnte sie – noch – das Bedürfnis unterdrücken, irgendwelche Lieder zu summen, die sie von früher kannte. "Du kannst das. Immer mit der Ruhe. Das ist nur ein Keller, mehr nicht." Langsam streckte sie eine Hand aus, bis sie die Mauer unter ihren Fingern fühlte, tastete sich behutsam vorwärts und machte schließlich einen Schritt, bevor sie endlich auch die Augen wieder öffnete. Noch einen Schritt tat sie, fühlte ihren Weg weiter an der Mauer entlang. Sie wusste nicht, warum sie überhaupt weiter in den Keller hinein ging, aber es war Bewegung, es war Ablenkung – wenn sie tatenlos sitzen geblieben wäre, hätte sie die Panik nicht mehr aufhalten können.


    Allerdings gelang ihr das auch so nicht. Siv machte noch einen Schritt und noch einen, stolperte über eine Kiste, stieß sich die Stirn an einem Regal und zuckte erschrocken zusammen, als eine Weinamphore mit einem Klirren zu Boden fiel und zerbrach. Sie ging in die Knie und tastete nach den Scherben – etwas zu tun, irgendetwas zu tun. Ihre Finger wurden nass, und im nächsten Moment fluchte sie aus tiefstem Herzen, als sie sich an einer Scherbe schnitt. "Auch keine Lösung", murmelte sie unverständlich, während sie den Finger in den Mund steckte und die Zunge auf die Wunde presste, die zwar klein, dafür aber tief war und heftig blutete. Sie richtete sich wieder auf, starrte in die Dunkelheit, versuchte sich zu orientieren und stellte fest, dass sie es nicht konnte. Sie konnte nicht mehr sagen, wo die Tür war. Und sofort schlug die Panik zu – so plötzlich, so heftig, dass die Germanin nicht die geringste Chance hatte, sich zu wehren. Einen winzigen Moment blieb sie noch stehen. Ihre Augen weiteten sich, ihr Puls stieg an, und ihr Atem beschleunigte sich schlagartig, so sehr dass ihr schwindelig wurde. Dann machte sie ein paar Schritte rückwärts, stolperte erneut über eine Kiste, und begann schließlich durch den Keller zu laufen. Ein Ausgang, sie musste irgendeinen Ausgang finden, irgendeinen… irgendeinen! Sie bemerkte gar nicht, wie Tränen begannen über ihre Wangen zu laufen, während sie rannte, stolperte, gegen Wände und Regale stieß, auf der Suche nach dem Ausgang. In der Panik, die sie übermannt hatte, kam ihr der Keller vor wie ein riesiges Gewölbe, und die Angst, nie den Weg zur Tür zurück zu finden, hier unten bleiben zu müssen, mochte irrational sein, hatte sie in diesem Moment aber nichtsdestotrotz in festem Griff und gaukelte ihr diese Möglichkeit in fürchterlicher Eindringlichkeit vor.


    Irgendwann kam sie wieder an die Tür, hämmerte erneut dagegen und rief, nach Matho, nach irgendjemandem, zerrte an dem Knauf und hielt überrascht inne, als die Tür sich öffnete – als dahinter aber nur noch mehr Dunkelheit auf sie wartete, begriff sie, dass es nur eine Tür in einen weiteren Kellerraum war. Einen Augenblick stand sie nur da und starrte verzweifelt in den Raum dahinter, dann sank sie zu Boden und schluchzte. "Ich will hier raus. Oh ihr Götter, Hel, bitte, ich will hier raus, ich kann das nicht, ich kann einfach nicht…" Sie zog die Beine an, schlang die Arme darum und vergrub ihren Kopf zwischen den Knien – so saß sie auch noch da, als sich erneut eine Tür öffnete, die andere, richtige diesmal, und Merit-Amun hereinkam. Zuerst glaubte Siv, ihre völlig überreizte Phantasie spiele ihr einen Streich, als sie die leise Stimme hörte, die dennoch durch den Keller trug, bis zu ihr. "Merit? Bist du das? Merit, du? Du bist da, hier?" Siv sprang auf und tastete sich vorwärts, ging in die Richtung, aus der sie die Stimme gehört hatte. Nur mühsam konnte sie das erleichterte Schluchzen unterdrücken, das sich Bahn brechen wollte. "Oh bitte, sag, sag, weiter, was, bitte…"

    Siv nickte zu den Anweisungen, die Sertorio gab, auch wenn sie nur die Hälfte verstand. Fiffalingn? Sie hatte keine Ahnung, was das war, aber sie kannte Puls, und sie verstand genug vom Rest, um sich zusammen zu reimen, was er gemeint hatte – darüber hinaus hatte sie sich angewöhnt, dass es oft das Einfachste war, einfach zu machen. Wenn es falsch war, war sie noch immer darauf hingewiesen worden, und im Großen und Ganzen bedeutete das für sie letztlich weniger Ärger, als wenn sie die Leute ständig durch Nachfragen nervte – und die meisten waren schnell genervt, wenn sie praktisch ständig gebeten wurden noch einmal, am besten langsamer und mit einfacheren Worten, zu wiederholen, was sie gesagt hatten. Oder, noch besser: Worte zu erklären, damit Siv sie lernen konnte. Selbst bei Matho, der einen Kopfstand machte, wenn sie eine Aufgabe anders oder falsch erledigte, war das besser – er antwortete selten auf irgendwelche Nachfragen. Aber Siv konnte inzwischen Latein gut genug, dass sie nur noch selten so wenig verstand, dass sie Probleme bekam.


    Merit-Amun dagegen hatte noch wesentlich mehr Schwierigkeiten, das war Siv durchaus bewusst – sie bemerkte den fast schon hilflosen Blick, der zwischen Sertorio und ihr hin und her wanderte, lächelte ihr aber nur zu und drückte sie sanft auf den Hocker beim Herd. Danach schöpfte sie mit einer Kelle etwas von dem Met in einen Becher, der in einem kleinen Kessel über dem Feuer hing und vor sich hin blubberte, um warm zu bleiben. Den Becher reichte sie der kleinen Ägypterin, danach stellte sie den Topf mit dem Puls in die dafür vorgesehene Vorrichtung, um ihn ebenfalls aufzuwärmen. "Danke, Sertorio." Sie verschwand kurz in der Speisekammer und holte das Gemüse hervor. "Noch was tun, für hier? Was ich kann tun, jetzt, oder für später?" Sie konnte sich vorstellen, dass es für Sertorio gerade etwas anstrengend sein musste, zwischen zwei Haushalten hin und herzugondeln und beide zu verköstigen. Aber Siv verstand nicht viel vom Kochen, wenn es nicht gerade darum ging, Tiere auszunehmen und sie über offenem Feuer zu braten, und sie beschränkte sich in der Küche lieber darauf, das zu tun, was ihr gesagt wurde – dann war die Chance geringer, dass sie es irgendwie verderben konnte. Das Gemüse auf dem Tisch abgeladen, eine Schüssel voll Wasser setzte sie sich zu Merit und grinste sie an. "Du nicht tun musst viel, oder… wirklich. Nur, wenn Matho da und seht du hier, und nicht bei Bett, sein mehr gut wenn du tust haben. Haben… hast tun… Wenn du was zu tun hast. Sonst regt er sich nur wieder auf, so wie bei Tilla damals, als er gemeint hat sie könnte wieder arbeiten, obwohl sie noch wirklich krank war…" Bisher war es eher ein ruhiger Tag gewesen, Matho war in der Stadt unterwegs – allerdings konnte es gut sein, dass er bald nach Hause kam und, wie es seine Angewohnheit war, plötzlich in der Tür stand und loswetterte, wenn man gerade nicht am Arbeiten war. Und wenn er Merit auf den Beinen sah, würde er mit Sicherheit davon ausgehen, dass sie auch in der Lage war, sich wieder nützlich zu machen. Während Siv damit begann, die Karotten zu waschen und dann zu schälen, wartete sie gespannt auf seine Antwort auf Merits Frage, hatte sie mit Sertorio bisher doch auch eher weniger zu tun gehabt – was die Ägypterin meinte, das zu begreifen hatte Siv kaum Mühe gehabt, sprach sie doch selbst noch in dieser Art.

    Siv starrte Matho ein, und obwohl sie seine Züge kaum erkennen, ihn nur als Umriss wahrnehmen konnte, weil er schon in der Tür stand und das Licht in seinem Rücken hatte, meinte sie doch sein höhnisches Grinsen sehen zu können. Sein Tonfall war in jedem Fall deutlich genug. Warten. Siv war für einen Moment wie gelähmt, als sie begriff, dass der Maiordomus Ernst machte – dass er tatsächlich vorhatte, sie hier im Keller zu lassen, vermutlich so lange, bis sie abreisen würden. Und als sie ihren Schreck überwunden hatte und einen Satz nach vorne machte, war die Tür bereits hinter Matho ins Schloss gefallen. Die Germanin prallte schmerzhaft gegen das Holz, während sie gleichzeitig hörte, wie von außen der Riegel vorgeschoben wurde. "Nein. Nein!" Sie hämmerte gegen das Holz, ignorierte das Brennen, als sie sich einen Splitter einzog, hämmerte weiter, trat schließlich sogar dagegen, während sie gleichzeitig nach Matho brüllte. "Lass mich wieder raus! Matho, lass mich… Bei Hel, lass mich Tag und Nacht schuften, wenn du willst, aber lass mich nicht hier unten!"


    Siv steigerte sich einen regelrechten Wutanfall hinein. Sie wollte sich nicht umdrehen, wollte sich nicht dem stellen, was sie erwartete – Kellergewölbe, unter der Erde, ohne Licht und ohne frische Luft. Es war einfacher zu toben, als die beklemmende Stimmung aufkommen zu lassen, die sie jedes Mal ergriff, wenn sie in engen, dunklen Räumen war, von denen sie noch dazu wusste, dass sie unter der Oberfläche lagen. Das Unwohlsein, dass sie anfangs in gemauerten Häusern ergriffen hatte, hatte sich mit der Zeit etwas gelegt – sie hatte sich daran gewöhnt, sie konnte inzwischen sogar einigermaßen gut schlafen, selbst in den Sklavenunterkünften, wenn sie allein im Bett lag und nicht jemanden – Corvinus – neben sich spürte. Aber alle Räume, die eng waren und dunkel und schlecht gelüftet, lösten immer noch Beklemmung und beinahe Panik in ihr aus, und daran würde sie sich auch kaum gewöhnen können. Der Gedanke an Corvinus aber löste etwas in ihr aus, dass sie dazu brachte, schließlich aufzuhören. Mit einem fast schon verzweifelten Laut, der verdächtig an ein Schluchzen erinnerte, ließ sie sich an der Tür zu Boden sinken. Corvinus… Sie konnte sich noch zu gut an die ersten Wochen erinnern, als sie im Grunde jede Nacht schlecht geschlafen hatte, bis auf die, die sie im Garten verbracht hatte – oder bei ihm. Das Haus… die Mauern waren ihr so erdrückend erschienen, und jetzt… Sie starrte in den Keller hinein, und obwohl es so dunkel war, dass sie kaum die Hand vor Augen sehen konnte, meinte sie die Wände zu sehen. Siv presste schließlich die Handballen auf die Augen, um nicht mehr sehen zu müssen, wo sie war, sie wollte sich davor verschließen, wollte sich etwas vormachen – aber sie konnte nichts dagegen tun, dass die Luft schal und abgestanden roch, und sie konnte nichts gegen ihre blühende Phantasie tun, die ihr noch viel lebhafter vorgaukelte, wie schlimm es hier unten war, viel schlimmer als es tatsächlich war, und die mit Visionen davon aufwartete, wie sie hier unten verrotten würde, ohne jemals wieder Licht zu sehen, wenn Matho sie völlig unbeabsichtigt hier unten 'vergaß'.

    Siv holte einmal tief Luft, als Ursus noch einmal bestätigte, dass es so laufen würde. Dass sie den Brief bekam. Dass Corvinus von ihr erfahren würde, was passiert war, mit ihren eigenen Worten, bevor er Ursus’ Bericht bekam. Sie konnte in diesem Moment noch nicht einmal genau sagen wieso, aber die Zusicherung beruhigte sie etwas, und noch nicht einmal die Tatsache, dass sie bald allein sein würde mit Matho, konnte ihr dieses Gefühl nehmen. Allerdings sollte das nicht lange so bleiben.


    Kaum war die Tür hinter Ursus ins Schloss gefallen, veränderte Mathos Gebahren. Siv meinte die Häme regelrecht sehen zu können, die von ihm ausströmte. Sie starrte ihn an, und ihr Temperament begann wieder zu brodeln – allerdings half ihr, für den Moment jedenfalls noch, die Tatsache, dass Ursus offenbar gewillt war, ihr ein bisschen zu vertrauen, und dass sie Corvinus berichten würde. So blieb sie stehen, folgte Matho nur mit ihren Augen, soweit es ihr möglich war, ohne sich zu bewegen, als er um sie herum ging. Ihre Zähne begannen zu knirschen, als der Maiordomus anfing, sie zu beleidigen – und als er ihr Volk angriff, war es um ihre Selbstbeherrschung erneut geschehen, wie schon so oft an diesem Tag. "Was?" Sie würde Speichellecker nicht aussprechen können, ohne sich die Zunge zu verrenken, also versuchte sie es gar nicht erst – aber sie wusste was es bedeutete, mehr oder weniger. Schimpfwörter waren mit das erste gewesen, was sie auf Latein gelernt. Schade nur, dass viele solche Zungenbrecher waren, dass sie sie kaum über die Lippen bekam, sonst hätte Matho bereits eine wahre Flut davon ins Gesicht bekommen. "Du bist doch der, der… du bist der, der schleimt, der…" Siv brach ab. Matho auf Germanisch anzugehen hatte überhaupt keinen Sinn, das wusste sie. Er würde nur verächtlich lächeln, mehr nicht.


    Also sagte sie nichts, oder bemühte sich zumindest – ihre Selbstbeherrschung kam allerdings arg ins Wanken, als Matho weitersprach. Germanenweib… Es klang wie eine Beschimpfung, und es sollte auch eine sein, das wusste sie. Und als er sie am Arm packte, versuchte sie, sich loszureißen, obwohl sie genau wusste, dass er stärker war als sie. Sich befreien konnte sie nicht, stattdessen wurde sie auf den Keller zugezerrt, mit dem sie erst vor ein paar Tagen ausgiebig Bekanntschaft gemacht hatte. Als sie das realisierte, begann sie wirklich sich zu wehren – obwohl sie Angst nicht zeigen wollte, konnte sie nicht verhindern, dass etwas Panik in ihrer Stimme und in ihren Bewegungen mitschwang. "Nein. Nein, nicht…" Die Treppe ging es hinunter, trotz Sivs fast schon verzweifelter Gegenwehr. Als sie unten waren und Matho sich zum Gehen wandte, schrie sie auf und fasste ihn am Arm, um ihn festzuhalten. "Was, was soll das?" fauchte sie, in einer Mischung aus Wut und Verzweiflung. Wie lange wollte er sie hier unten lassen – und was sollte sie tun? Schon die Tage, als sie hier am Putzen war, waren schwierig genug gewesen für sie, gerade für sie, die so naturliebend war, die am liebsten draußen schlief. Jetzt, wo es nichts mehr zu tun gab, würde sie hier unten durchdrehen, wenn sie länger bleiben musste. Sie war sich durchaus im Klaren darüber, dass sie sich selbst verriet, dass Matho gegenüber Schwäche zugab, aber sie konnte nicht anders. Allein der Gedanke daran, die nächsten Tage hier zu verbringen – und die Nächte auch! – ließen sie schwindeln. "Was du hast vor? Was… ich tun soll?"

    Siv tat sich nicht im Geringsten leicht damit, Ursus um etwas zu bitten, erst recht nicht in der Lage, in der sie sich befand – und noch schwerer fiel es ihr, weil sie dafür zugeben musste, etwas falsch gemacht zu haben, obwohl sie noch lange nicht bereit dafür war. Aber ihr blieb keine andere Wahl. Corvinus selbst die Wahrheit zu sagen, dieser Wunsch war dringender als das Bedürfnis, sich zu verkriechen, nicht nachzugeben, den eigenen Stolz zu bewahren. Es war fast schon seltsam, dass Siv, die so aufrichtig war, dass sie um fast nichts in der Welt eine wirkliche Lüge über die Lippen gebracht hätte, sich beinahe leicht damit tat, sich selbst so zu belügen – einfach in dem sie sich hinter Wut verschanzte. Aber wenn es darum ging, dass andere etwas gerade rückten, was sie verbockt hatte, an ihrer Statt einstanden, für sie etwas übernahmen, zeigte sich, dass ihre Aufrichtigkeit doch stärker war als ihr Stolz und ihr Eigensinn.


    Sie zuckte zusammen, kaum merklich, als Ursus davon sprach, dass Corvinus enttäuscht sein würde. Sie wusste, dass er das sein würde. Ursus ahnte vermutlich nicht einmal, wie sehr. Gerade von dir… Siv schloss für einen Moment die Augen, aber sie antwortete darauf nichts. "Danke", war das einzige, was sie sagte. Anschließend nickte sie, als Ursus das weitere Vorgehen erläuterte. "Corvinus wird Brief geben. Äh, haben. Kriegen. So wie du schreibst, wie du… ver…siegst…" Mit dem Wort versiegeln konnte sie nicht wirklich etwas anfangen, noch weniger es aussprechen, aber sie konnte sich denken, was Ursus meinte – bei einem Brief gab es nicht viele Möglichkeiten, und wie die Römer ihre Briefe kennzeichneten, um sicherzustellen, dass der Empfänger zumindest Kenntnis davon hatte, dass ein anderer ihn gelesen hatte, wusste sie. Danach wurde es wieder unangenehm. Ursus wandte sich Matho zu und gab sie in seine Obhut – wo sie sowieso gelandet wäre, aber dass Ursus es noch einmal so ausdrücklich betonte, dass Matho von nun an für sie verantwortlich war, ließ es in Sivs Ohren nur umso schlimmer klingen. Sie brauchte nicht sonderlich viel Phantasie oder Vorhersehungskraft, um zu ahnen, was in Mathos Kopf gerade vor sich ging. Oder was sie erwartete, sobald Ursus das Haus verlassen hatte. Wovon sie nichts ahnte war, dass der Maiordomus nicht daran dachte, ihr bei Corvinus den Vortritt zu lassen, was ihre Beichte anging – und ihr kam auch kein Gedanke daran im Moment. Hätte sie auch nur den leisesten Verdacht gehegt, hätte sie nicht einen Schritt zurück getan und mit einem fast schon ergebenen Gesichtsausdruck abgewartet, was als nächstes passieren würde.

    Siv verschwendete keinen Blick auf Matho, obwohl sie sich seine Reaktion nur zu gut vorstellen konnte. Sie musste Ursus irgendwie dazu bringen, ihr zu vertrauen, einmal noch, wenigstens so weit, dass er ihr den Brief gab. Sie wollte es Corvinus selbst sagen, weil sie dafür einstehen wollte, was sie getan hatte. Auch wenn sie versucht hatte zu fliehen, auch wenn sie störrisch sein könnte und widerspenstig, änderte sich doch nichts an der Tatsache, dass sie ein grundehrlicher Mensch war. Und Corvinus hatte Ehrlichkeit von ihr verdient, nichts anderes. Natürlich war ihr, irgendwo, auch klar, dass dadurch die Chance bestand, dass ihre Strafe geringer ausfallen würde. Aber das war nicht der Grund, und daran dachte sie im Moment auch gar nicht – höchstens noch daran, dass die Chance größer war, dass er ihr zuhören, dass sie vielleicht doch die Möglichkeit haben würde zu erklären, warum sie zum Tor hinausgegangen war. Wenn er vorher schon Bescheid wusste, bevor sie überhaupt in Rom eingetroffen war, dann würde er ihr diese Chance mit Sicherheit nicht mehr geben.


    "Matho weiß. Wenn ich der Brief mache kaputt, er sagt Corvinus. Corvinus weiß, … wird wissen, was ich getun. So oder so." Die Germanin holte tief Luft. Es fiel ihr nicht leicht, weiterzureden. "Ich… ich weiß, das ist Fehler gesein. Weglaufen. Ich… will… sagen. Will… ich will dafür gerade stehen, was ich gemacht hab, ich… Ich will… Verantwortung übernehmen. Verantwortung, meine Verantwortung, sein das. Dafür, für weglaufen."

    Als der Soldat endlich die Fesseln löste, hielt Siv still, und auch als ihre Handgelenke endlich frei waren, rührte sie sich zunächst nicht. Sie war erleichtert, dass das Seil gelöst war und endlich wieder etwas Gefühl in ihre Hände zurückkehrte. Am liebsten hätte sie sie gedreht und die Finger bewegt, hätte die schmerzenden, inzwischen blauschwarz angelaufenen Stellen um ihre Knöchel massiert, aber sie wollte nicht zeigen, wie sehr die Fesseln geschmerzt hatten, also ließ sie bewusst ihre Arme hängen und kreiste die Gelenke erst nach einem Moment, und auch dann nur langsam, mit kleinen Bewegungen. Nebenbei hörte sie den beiden Männern zu, wie sie sich unterhielten, und als sie realisierte, dass Ursus kein weiteres Interesse daran hatte zu hören, was sie zu sagen hatte, hielt sie inne. So groß konnte sein Vertrauen ja nicht gewesen sein – er nahm dem Soldaten offenbar aufs Wort ab, was passiert war. Es hätte ja auch sein können, dass sie gar nicht geflohen war, dass sie einen Auftrag gehabt hatte oder ähnliches… Siv wusste, dass es nicht so war, und die Soldaten, die sie geschnappt hatten, wussten es auch, ihre Reaktion war ja deutlich genug gewesen, und Siv hätte auch niemals versucht, auf diese Art, mit einer Lüge, ihren Kopf aus der Schlinge zu ziehen – aber das ihr noch nicht einmal die Möglichkeit eingeräumt wurde, wurmte sie dann doch. Und überhaupt – Ursus hatte nur ihren Namen gesagt. Genau genommen war das überhaupt gar keine Frage gewesen.


    Siv wusste sehr genau, dass sie sich im Moment nur in etwas hineinsteigerte, womit sie ihr eigenes Verhalten – nun ja, nicht rechtfertigen, auch nicht ungeschehen machen konnte, aber doch zumindest vor sich selbst erst mal verdrängen konnte. Solange sie Gründe fand, auf andere wütend zu sein, musste sie sich nicht mit sich selbst beschäftigen. Mehr aus einem Reflex als aus einer bewussten Handlung heraus machte sie einen Schritt vorwärts und fegte das Glas mit einer schnellen Bewegung vom Tisch, das Ursus dort hatte stehen lassen. "Und du willst nicht wissen, was passiert ist? Von mir? Was überhaupt vorgefallen ist, dass ich nicht weglaufen wollte, nicht wirklich, dass es ein Fehler war, dass ich Angst vor den Soldaten hatte, als die plötzlich aufgetaucht sind?" Siv schrie nicht, aber sie war auch nicht mehr weit davon entfernt – aber viel wichtiger war, dass sie das alles niemals gesagt hätte, wenn sie sich nicht sicher gewesen wäre, dass keiner der beiden Anwesenden ein Wort verstand von dem, was sie von sich gab. Sie hätte nie zugegeben, dass sie Angst gehabt hatte, dass sie gezögert hatte, dass es ein Fehler gewesen war… nicht in diesem Moment jedenfalls. Bis sie soweit war, würde sie noch Zeit brauchen, viel Zeit.

    Siv biss sich – sie wusste schon gar nicht mehr zum wievielten Mal an diesem Tag – auf die Unterlippe, die prompt wieder aufplatzte. Die Germanin verzog das Gesicht, als ein scharfer Schmerz sie durchzuckte, sie etwas Warmes ihr Kinn hinunterlaufen fühlte und gleichzeitig der metallische Geschmack von Blut ihren Mund füllte. Sie ließ ihre Handgelenke kreisen, da das Gefühl in ihre Hände immer noch nicht komplett zurückgekehrt war, und verzog erneut – für Ursus unsichtbar, dafür umso klarer für Matho – das Gesicht, als der Aurelier sie in die Schranken wies, Matho dafür aber auf ihre Provokation nicht weiter reagierte. Ihren Zorn schürte das nur noch mehr, und sie wollte gerade mit der nächsten Beleidigung herausplatzen, als Ursus etwas sagte, was sie, beinahe schon erschrocken, inne halten ließ. Er wollte Corvinus schreiben?


    Einen Moment lang starrte Siv ihn nur an und sagte gar nichts, während ihr Gehirn kurz auszusetzen schien. Dann fing es an, in ihrem Kopf zu arbeiten. Sie wusste, welchen Fehler sie gemacht hatte – so sehr sie sich auch hinter einer Mauer aus Zorn und Trotz verkroch, im Grunde ihres Herzens wusste sie es. Und sie würde, letztlich, dafür gerade stehen. Aber dazu gehörte auch, dass sie selbst Corvinus davon erzählte. Er hatte es verdient, dass er es von ihr, aus ihrem Mund erfuhr. Ohne Matho zu beachten oder Ursus’ Antwort auf dessen Bericht abzuwarten, schob sie sich dazwischen und sah den Aurelier an, mit einer seltsamen Mischung aus immer noch vorhandenen Gefühlen wie Starrsinn, Wut, Uneinsichtigkeit – und Bitten. "Nicht schreibst Corvinus. Nicht, nicht von… von mich, von laufen weg. Ich…" Sie presste für einen Moment die Lippen aufeinander. Sie hatte keine Ahnung, ob Ursus ihrer Bitte entsprechen würde, ob er überhaupt verstehen würde, warum sie das wollte. "Ich nehme Brief, mit mir. Ich gebe Corvinus Brief, aber… ich mögen, möchten sagen, was ich tun, getun habe. Ich möchte sagen. … Bitte."

    Siv betrat das Atrium, immer noch mit starrem Gesicht, Kiefer und Lippen fest aufeinander gepresst. Sie vergrub sich gerade wieder in ihren Zorn, konnte aber nicht verhindern, dass sie zusammenzuckte, als Ursus sie plötzlich doch wieder ansprach, nachdem er ebenso wie sie den Weg hierher keinen Ton von sich gegeben hatte. Ja, sie gehörte Corvinus, das wusste sie nur zu gut – und sie befürchtete, dass er im Gegensatz zu Ursus nicht nach dem Warum fragen würde. Dass er gar nicht würde wissen wollen, was genau passiert war und was sie bewegt hatte in diesem Moment, in dem sie sich mit der Menge hatte treiben lassen. Vermutlich konnte er es sich im Ansatz sogar vorstellen, immerhin hatten sie kurz vor der Abreise einen Zusammenstoß gehabt, was genau dieses Thema betraf – aber es würde ihn vermutlich gar nicht interessieren. Und wieso auch, hatte sie doch sein Vertrauen missbraucht. Sie würde sich auch nicht dafür interessieren, welche Gründe es dafür gab. Sie schloss die Augen und sah für einen winzigen Moment wieder den Wald vor sich, angestrahlt von der Nachmittagssonne, getaucht in warmes, weiches Licht, so nah, so wirklich, so verlockend… Bis Corvinus’ Bild sich dazwischen schob, und Siv ärgerlich die Augen wieder aufriss. Sie wusste, jetzt, was ihr wichtiger war – wusste es seit dem Traum, auch wenn sie es nach wie vor nicht wahrhaben wollte und seit jener Nacht nicht mehr darüber nachgedacht hatte. Aber selbst wenn sie noch nicht bereit war, auch nur sich selbst einzugestehen, was Corvinus wirklich für sie war, wusste sie doch, dass er – und die meisten anderen der Villa – ihr viel bedeuteten, und dass sie inzwischen Wert legte auf ihre Meinung. Warum nur hatte sie daran erst so spät gedacht? Warum war sie durch dieses Tor hindurch gegangen, war vor den Soldaten geflüchtet, hatte erst danach, als es zu spät war, realisiert, was sie im Begriff war zu tun, was es letztlich bedeutete?


    Aber die Fragen, die Zweifel und Selbstvorwürfe halfen ihr auch nicht mehr weiter. Sie konnte nicht ändern, was geschehen war, und noch während sie grübelte, ob – und was – sie Ursus antworten sollte, tauchte auch schon Matho auf. Zuerst wirkte er etwas verwundert, aber schon bald hatte er einen Gesichtsausdruck, den Siv ihm am liebsten aus dem Gesicht geschlagen hätte – er wirkte ganz wie der verantwortungsvolle und vertrauenswürdige Maiordomus, der er irgendwie ja auch war, wenn man nur Wert darauf legte, dass alles erledigt wurde. Aber Siv konnte das Glitzern in seinen Augenwinkeln sehen. Und sie war gereizt, ihre Stimmung, ihr Temperament ohnehin schon dem Siedepunkt nahe – zwischendurch war es etwas abgekühlt, aber jetzt spürte Siv regelrecht, wie es in ihr wieder zu brodeln anfing. Zu viel wirbelte durch ihren Kopf, zu viel, womit sie nur schwer fertig werden konnte, allen voran Corvinus und ihre Schuldgefühle. "Nicht dein Interesse", fauchte sie ihn daher an, obwohl sie wusste, dass es ihn – im Gegensatz zu den anderen Sklaven – als Maiordomus sehr wohl etwas anging.

    Siv schwieg auf dem Rückweg. Was hätte sie auch sagen sollen? Sie hatte versucht zu fliehen, daran gab es nichts zu rütteln. Spielte es eine Rolle warum, oder dass es im Grunde nur eine Reflexhandlung gewesen war, über die sie nicht nachgedacht hatte? Dass es ihr leid tat, im Nachhinein, und zwar nicht nur, weil sie erwischt worden war und bestraft werden würde? Nein, es spielte keine Rolle, und daher hatte sie ihre Gedanken und Gefühle auch weitestgehend für sich behalten, auch wenn ihre trotzige Abwehrhaltung etwas nachgelassen hatte im Verlauf des Rückwegs.


    Und nun standen sie vor der Porta der Villa Aurelia, Siv, flankiert von zwei Soldaten, und Ursus, der ebenfalls mitgekommen war. Im Grunde hatte sie nichts anderes erwartet, nichts anderes erwarten können und dürfen, und trotzdem tat es weh. Ihr Gesicht blieb allerdings unbewegt, zeigte nichts davon, wie es in ihr aussah. Sie wusste, dass sie es verdient hatte, und darüber hinaus war sie ohnehin kein Mensch, der jammerte – ob nun gerechtfertigt oder nicht. Sie war ehrlich, aber sie zeigte nicht gern Gefühle wie Angst, Schuld oder Schmerz. Nichts, was sie selbst in eine schlechtere Position bringen, nichts was ihren Stolz verletzen könnte. Und so zeugte nur ein unruhiges Flackern in ihren Augen davon, dass etwas nicht in Ordnung war, als sie die Villa betraten.

    Erneut ging es über den Platz, Siv mehr gezerrt als dass sie ging, weil sie sich immer noch sträubte. Vorbei an Soldaten, die ihnen hinterher sahen, an Gebäuden, über Straßen, auf ein anderes, größeres Haus zu, das sie gleich darauf auch betraten. Wenig später hielten sie vor einer Tür an, durch die nach dem Klopfen zunächst ein heftiges Husten drang. Danach ertönte eine ihr nur zu bekannte Stimme und forderte sie auf, einzutreten. Und Siv spürte einen plötzlichen Anflug von Übelkeit. Ihre Knie wurden weich, und für einen Moment hatte sie Mühe mit dem Luftholen. Natürlich war klar gewesen, dass es dazu kommen würde, dass früher oder später einer der Menschen, die sie kannte, davon erfahren würde – aber bis jetzt war es eben noch nicht passiert, bis jetzt hatte sie es irgendwie noch verdrängen können. Wenn sie hier erst einmal eingetreten waren, war es die Chance endgültig und unwiderruflich vorbei, dass sie noch irgendeine Möglichkeit fand, ungeschoren aus der Sache heraus zu kommen. Wenn Ursus sie sah, von der Flucht erfuhr, würde aus dem Stein, den sie ins Rollen gebracht hatte, eine Lawine werden, die sie nicht mehr würde aufhalten können. Wenn Ursus von der Flucht erfuhr, würde Corvinus es auch.


    Siv schloss die Augen und biss sich erneut auf ihre ohnehin schon malträtierte Unterlippe, als diese zu zittern begann. Der Römer, zu dem die Soldaten sie gebracht hatten, öffnete die Tür und entließ die anderen drei, bevor sie, diesmal mit etwas weniger Druck, in den Raum zog. Dort blieb sie stehen, starrte den Schreibtisch an, den Boden, die Wand, aber nicht den Aurelier. Sie hörte, wie der Soldat in Kurzfassung von sich gab, was passiert war, hörte Ursus’ Antwort, und sie presste ihre Kiefer so fest aufeinander, dass sie sich deutlich abzeichneten unter ihren Wangen. Erst als ihr Name fiel, in einem fragenden Tonfall, sah sie hoch, sah Ursus an, und sie sah genau das, was sie gefürchtet hatte: Enttäuschung. Und es traf sie noch mehr, als sie geahnt hatte. Vertrauen zu haben bedeutete ihr viel, und man konnte nur jemanden enttäuschen, der einem Vertrauen geschenkt hatte. Sie hielt viel davon, von Vertrauen, Aufrichtigkeit, Verantwortung – gleichzeitig war sie ein Mensch, der nicht gern nachgab, nicht wenn sie Recht hatte und nicht wenn sie im Unrecht war. Wenn sie diejenige war, die enttäuschte, wirklich enttäuschte, konnte sie noch viel schlechter damit umgehen als wenn sie einen normalen Fehler gemacht hatte. Nach einem winzigen Augenblick, in dem die Betroffenheit und die Schuldgefühle, die sie eigentlich empfand, über ihr Gesicht geflackert waren, reagierte Siv wie immer – sie wurde stur, widerspenstig, zornig, kurz: sie tat alles, um zu verdrängen, was ihre Schuld war. Und so starrte sie Ursus nur mit einer Mischung aus Wut und Trotz an, presste die Kiefer aufeinander, machte erneut eine kurze Bewegung, um sich aus dem Griff zu befreien, und sagte kein Wort.

    Keiner der Soldaten lockerte seinen Griff auch nur um einen Deut, im Gegenteil, aber das hatte Siv auch nicht erwartet. Seit die sie sie endgültig geschnappt hatten, wehrte sie sich im Grunde nur noch aus Prinzip – und weil ihr genau das half, ihre Angst im Zaum zu halten. Dafür nahm sie gern in Kauf, dass sie es eigentlich nur noch schlimmer machte. Inzwischen hatte der Mann vor ihr seinen Griff um ihren Unterkiefer so sehr verstärkt, dass sie ihr Gesicht nicht mehr wirklich bewegen konnte, und so hörte sie für den Moment auf, sich zu bewegen – dafür sprühten ihre Augen umso mehr Feindseligkeit. "Ich weiß", fauchte sie zurück, als der Soldat meinte ihr unter die Nase reiben zu müssen, dass sie bestraft werden würde. Natürlich wusste sie das. Aber es war auch nicht die Strafe, vor der sie Angst hatte, denn dass Ursus dabei nicht grausam sein würde, so gut kannte sie ihn inzwischen, um das sagen zu können. Angst hatte sie vor seiner Reaktion, davor, wie er sie ansehen würde – auch Ursus bedeutete ihr inzwischen etwas, sie hielt etwas von seiner Meinung, nicht zuletzt wegen Cadhla. Angst hatte sie auch vor der Reaktion der anderen, wenn sie erst einmal in die Villa zurückgebracht werden würde – wobei sie da noch froh sein konnte, dass Merit oder Caelyn keine Ahnung hatten, dass das Misslingen ihrer Flucht zum guten Teil an ihr selbst lag. Und Angst hatte sie vor dem Moment, in dem sie in Rom eintreffen würde, in dem sie auf Corvinus treffen würde…


    Ihr Fluch zeigte überhaupt keine Wirkung - vielleicht verstand er ja kein Germanisch, aber nicht einmal auf den Ton reagierte er wirklich. Er gab ihrem Kinn nur einen leichten Stoß und ließ es dann los, bevor er sich abwandte, und Siv knirschte in ohnmächtiger Wut mit den Zähnen. Sie konnte es nicht ausstehen, wenn sie so gar nicht beachtet wurde, gerade dann wenn sie provozieren wollte, wenn sie es darauf anlegte. Sie hasste es, auf Menschen zu treffen, die auf ihre offenen Angriffe kaum oder gar nicht reagierten. Es gab nur wenige, bei denen sie sich daran gewöhnt hatte, dass sie sie in solchen Fällen meistens auflaufen ließen, und bei diesen Menschen beherrschte sie sich auch eher – was allerdings nicht hieß, dass es sie nicht trotzdem störte, wenn es doch wieder mal so weit war. Corvinus gehörte genauso dazu wie Cadhla, mit dem kleinen Unterschied, dass die Keltin der einzige Mensch war, dem es gelungen war das auf eine Art anzustellen, dass Siv es nicht einmal wirklich bemerkte und sich daher darüber auch nicht aufregte. Der Mann vor ihr dagegen stachelte ihr Temperament nur noch mehr an, als er sie ignorierte – aber sie ahnte auch, dass er sich von ihr kaum provozieren lassen würde, jedenfalls nicht durch irgendwelche Flüche, die noch dazu auf Germanisch waren. Und er ließ ihr auch gar keine Zeit, weder zum Fluchen noch für irgendeine andere Reaktion. Stattdessen sprach er die Worte aus, die sie die ganze Zeit schon gefürchtet hatte – er wollte sie zu Ursus bringen, und genau dorthin schleppten sie die Soldaten nun.

    Seit der Putzaktion waren ein paar Tage vergangen, und der Keller war blitzte genau wie der Rest vom Haus. Siv hatte noch den gesamten zweiten Tag und ein Gutteil des dritten gebraucht, um ihn so sauber zu bekommen, dass es auch Mathos Ansprüchen genügte – die noch einmal um ein gutes Stück gewachsen zu sein schienen, so kam es ihr jedenfalls vor –, und sie war zu erschöpft gewesen, um sich viele Gedanken zu machen über irgendetwas. Dennoch schien etwas in ihrem Bewusstsein zu haften, schien dort herum zu geistern, oder eher: in ihrem Unterbewusstsein. Sie konnte sich nicht wirklich bewusst an den Traum erinnern, nicht an den ganzen, hieß das – sie wusste, dass sie wieder Zuhause gewesen war… und dass Corvinus sie begleitet hatte. Aber vieles davon waren Bilder, flüchtige Eindrücke. Die meisten waren mit positive Empfindungen verknüpft. Aber es gab auch Verwirrung und Zweifel, und sie wusste nicht einmal genau wieso. Sie wusste nur, dass es sie beschäftigte, und sie war sich nicht sicher, ob sie froh sein sollte über ihre Strafe, die ihr kaum Zeit zum Grübeln ließ, oder nicht.


    Als die Putzaktion dann endlich vorbei war, war Siv nicht die einzige, die aufatmete – ungefähr einen halben Tag. Dann verkündete Matho, dass sich der Putzaktion sich die Entrümpelungsaktion anschließen würde. In seiner unendlichen Güte ließ er ihnen den restlichen Tag, um die anderen Arbeiten zu erledigen, die angefallen und liegen geblieben waren, als sie geputzt hatten, aber am nächsten ging es dann weiter – es wurde aussortiert und fortgeschafft. Und die Villa war groß, und sie waren nicht sonderlich viele. Jeden Abend fiel Siv erschöpft ins Bett, ohne sich großartig mit den seltsamen Gedanken zu beschäftigen, die durch ihren Kopf zogen, als wäre es nicht ihrer. Sie wusste, dass es nicht so weitergehen konnte, aber zumindest im Moment war es eine Lösung. Am dritten Tag der Entrümpelungsaktion passierte es dann. Siv war gerade in dem Raum, den Corvinus während seiner Amtszeit in Germanien als Officium genutzt hatte und sah die Sachen durch, um die auszusortieren, die entweder ganz weg sollten oder mitgenommen werden würden. Da fiel ihr auf einmal ein Briefbeschwerer in die Hand, in Form eines liegenden Löwen, die Vorderpranken locker gekreuzt, der Kopf stolz erhoben. Der Löwe… sein Wappen. Seine Familie. Sie meinte in der Miene des Löwen die gleiche lässige Überlegenheit zu erkennen, die sie so oft bei ihm gesehen hatte. Der Hauch von Arroganz, der ihm gelegentlich innewohnte, gerade so viel, dass es zu spüren war, aber nicht so viel, dass es negativ aufgefallen wäre. Sehnsucht wallte plötzlich in ihr auf, und sie wusste nicht wonach – sie sehnte sich nach ihm, und gleichzeitig sehnte sie sich nach etwas, was sie als Heimat bezeichnet hätte, nur wie konnte das sein, Rom war nicht ihre Heimat, er war nicht ihre Heimat… Verwirrt und zutiefst verunsichert drehte sie den Löwen in ihrer Hand, bevor sie ihn kurz entschlossen zu den Sachen stellte, die mitgenommen werden sollten.


    ~~~


    Und sie zeigt ihm, was ihr wichtig ist. Die Plätze, an denen sie als Kind gespielt hat. Die Schmiede, in der sie so viel Zeit verbracht hat. Das Haus, in dem sie aufgewachsen ist. Sie führt ihn durch das Dorf, grüßt die Menschen und erklärt ihm, wen sie gerade sehen – zwei von ihnen, von ihren Brüdern, die, mit denen sie das innigste Verhältnis hat, stellt sie ihm vor. Und weiter geht es, in den Wald hinein, zu den Orten, die sie so liebt. Sie zeigt ihm die uralte Eiche, in deren knorrigen Ästen Naturgeister hausen, die man flüstern und wispern hören kann, wenn man mit geschlossenen Augen darunter sitzt und Ohr und Herz öffnet. Sie zeigt ihm den kleinen Hain aus Birken, in dessen Mitte eine klare Quelle sprudelt, die Tag und Nacht Geschichten erzählt und Lieder singt. Sie zeigt ihm die Trauerweide, an deren Stamm ein moosüberwucherter Felsbrocken liegt, der Schauplatz ist für Tänze im Mondschein – für die Kreaturen des Waldes und der Nacht ebenso wie für sie. Sie führt ihn hinunter an das Ufer des Baches, weiter den Lauf entlang, wo der Wald düsterer und geheimnisvoll wirkt, bis das Wasser ein paar Felsen hinabstürzt in einen tiefen, dunklen Tümpel hinein – und zeigt ihm dort die kleine Höhle, die für sie ein heiliger Ort ist, seit sie sie das erste Mal betreten hat. Ihre erste eigene Opferung hat sie dort vollbracht, und es ist nicht ihre letzte geblieben. Freya hat sie hier Gaben dargebracht, Thor und Odin, aber vor allem Hel. Alle diese Orte sind privat, nur wenige hat sie – mit noch weniger Menschen – je geteilt, hat offenbart, wie viel sie ihr bedeuten – aber dieser letzte Ort ist ihr privatester, ist ihr letzter Rückzugsort. Wenn sie wütend war, verletzt, traurig, oder auch einfach nur glücklich, ist sie hierher gekommen, hat ihre Gedanken und Gefühle mit ihrer Schutzgöttin geteilt. Wenn sie mit niemandem reden konnte, hier hat sie das Gefühl gehabt, Verständnis zu finden und ein offenes Ohr. Nie hat sie jemanden mitgenommen, nie hat sie jemandem auch nur davon erzählt. Bis zu diesem Moment.


    Jetzt liegt sie mit ihm am Ufer eines kleinen Sees, so kristallklar, dass man fast bis zum Grund sehen kann. Die Nachmittagssonne lässt das Wasser glitzern, und gelegentlich taucht ein Fisch auf oder fällt ein Blatt darauf, bringt die glatte Oberfläche zum Erzittern, zum Kräuseln, bricht die Flüssigkeit in funkelnde Kristalle und löst konzentrische Kreise aus, die sich ausbreiten und schließlich in winzigen Wellen ans Ufer schwappen. Sie atmet tief ein und genießt die Atmosphäre, genießt es, einfach dazuliegen, den Himmel zu betrachten und seine Gegenwart zu spüren. Sie fühlt seinen Blick auf sich, wie er sie betrachtet, aber sie wendet den Kopf nicht, sieht weiter hoch zum Himmel und bleibt still liegen, lässt ihm Zeit, wartet und genießt es zugleich. Wie von einer unsichtbaren Hand gestreift, löst sich auf einmal ein Träger ihres Kleides von seinem Sitz auf ihrer Schulter und rutscht träge hinab, entblößt nackte Haut, aber sie rührt sich immer noch nicht, schiebt ihn nicht zurück. Die Sonnenstrahlen wärmen ihre Haut, und tief atmet sie an, als sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnimmt und im nächsten Moment seine Hand spürt, an ihrer Schulter, in ihren Haaren. Kurz darauf beginnen seine Lippen, über ihre Haut zu wandern, und sie neigt den Kopf zur anderen Seite, streckt den Hals und seufzt genießerisch, während ihr Atem sich um eine Winzigkeit beschleunigt. Sie reagiert auf seine Liebkosungen wie eine Blume, die sich zur Sonne hin öffnet, und sie wundert sich noch nicht einmal darüber, sie nimmt es einfach hin. Sie bleibt immer noch ruhig liegen, als sich seine Lippen wieder von ihr lösen, und erst, als sie seine Stimme hört, die Frage vernimmt, dreht sie den Kopf und sieht ihn an.


    "Fehlt es dir?" Sie schweigt, zunächst. Sie sieht nicht zu den Rauchsäulen, auf die er deutet, aber sie weiß auch so, was er meint. Zögernd zieht sie die Unterlippe zwischen die Zähne, ebenso zögernd lässt sie sie wieder los, bevor sie schließlich antwortet. "Ich weiß es nicht." Jetzt sieht sie doch in die Richtung, in der ihr Dorf liegt. Sie atmet tief ein, fühlt sich ratlos. Natürlich fehlt es ihr, irgendwie. Aber das seltsame Gefühl, das sie hatte, als sie ihren Neffen gesehen hat, ist während der kleinen Führung stärker geworden. "Es fehlt mir, ja. Sie fehlen mir. Das werden sie wohl immer, einem Teil von mir." Wieder schweigt sie für einen Moment, bevor sie zögernd, leise, hinzusetzt: "Aber ich weiß nicht, ob ich dort noch hingehöre." Sie meint sein Erstaunen spüren zu können, obwohl sie erst nach einer kleinen Weile wieder den Kopf zu ihm dreht. Gerade noch rechtzeitig, um seine Zungenspitze zu sehen. "Was lässt dich zweifeln?" Ja, was lässt sie zweifeln? Es ist nicht nur die Tatsache, dass sie lange genug fort gewesen ist, dass ihr Neffe sie nicht mehr erkennt. Es verstärkt nur, was ohnehin schon da ist, das Gefühl, dass ihr Platz nun woanders ist. Dass ihr Platz an seiner Seite ist, wo auch immer das sein mochte. Sie sieht ihn an, die vertrauten Gesichtszüge, und sie spürt eine Welle von warmer Zärtlichkeit in sich aufsteigen. Zum ersten Mal realisiert sie es wirklich. Was der Mann neben ihr ihr tatsächlich bedeutet. Sie hat es ihrem Vater bereits gesagt, aber erst jetzt wird es ihr bewusst – sie erkennt es mit einer solchen Klarheit, beinahe übernatürlichen Schärfe, dass es ihr den Atem wegnimmt: Sie liebt ihn. Ohne jede Erwartung, ohne Bedingung. Nur das: Sie liebt ihn.


    Dennoch ist sie sich nicht sicher, was sie antworten soll. Ob sie ihm sagen soll, was ihr klar geworden ist. Oder ob sie ausweichen soll. Sie haben so viel geteilt, und sie weiß, spürt, hofft, dass sie ihm nicht egal ist, dass sie ihm auch etwas bedeutet. Aber selbst wenn er ebenso empfindet wie sie… Sie weiß, dass es nicht sein kann. Aber sie kann sich nicht selbst belügen, und sie kann ihn nicht belügen. Auch das weiß sie. Und noch bevor sie zu einer Entscheidung kommen kann, bevor auch nur wirklich auffallen kann, dass sie mit der Antwort zögert, fallen auf einmal Tropfen vom Himmel. Er springt auf, fasst ihre Hand und zieht sie hoch, aber schon nach wenigen Schritten sind sie bereits durchnässt, und sie bleiben stehen, mitten im Regen. Sie steht dicht vor ihm, so dicht, dass sie die Wärme seines Körpers spüren kann. Sieht das Wasser in seinen Haaren perlen und sein Gesicht hinabrinnen. Das Rauschen des Regens löscht jeden anderen Laut, umgibt sie wie einen Kokon und vermittelt ihr das Gefühl, dass es nur noch ihn und sie gibt auf der Welt. Er beugt sich zu ihr, und noch bevor sie reagieren kann, haben seine Lippen schon die ihren gefunden, und bereitwillig teilen sie sich, gewähren ihm Einlass und erwidern sein leidenschaftliches Spiel. Wie von selbst heben sich ihre Arme und legen sich auf seine Schultern, um seinen Nacken, lässt sich von ihm an sich pressen und drängt sich ihm noch mehr entgegen. Sie sehnt sich nach ihm, und sie lässt keinen Zweifel daran, während eine ihrer Hände hinabgleitet und sich einen Weg sucht durch nassen Stoff, bis ihre Finger auf regenfeuchte, heiße Haut treffen.


    Ihre Lippen scheinen miteinander zu verschmelzen, während sich auch ihre zweite Hand dazu gesellt und sich beide daran machen, die einfachen Verschnürungen zu lösen, die sein Gewand zusammenhalten. Sie braucht nicht lang dafür, und als sein Oberkörper ohne Schutz dem warmen Regen ausgesetzt ist, lösen sich ihre Lippen erstmals wirklich von seinen. Atemlos sieht sie ihn an, legt beide Hände an sein Gesicht. Zieht ihn erneut zu sich und schmeckt ihn erneut, lässt ihre Zunge mit seiner spielen, bevor ihre Hände auf seine Schultern sinken und ihr Mund beginnt, hinab zu wandern. Sie küsst die Tropfen von seiner Haut, erforscht seinen Hals, seine Schultern, seine Brust mit Lippen und Zunge und Zähnen. Hunger lodert in ihr auf, beinahe unstillbar erscheint er ihr. Mit jeder Berührung zeigt sie ihm, lässt ihn spüren, wie sehr sie nach ihm giert, und jede Berührung schürt ihren Hunger nur noch mehr. Der Regen prasselt weiter auf sie herab, rinnt an ihr hinunter, sucht sich seinen Weg bis auf ihre Haut, aber sie achtet nicht mehr darauf. Mit Fingern und Lippen zeichnet sie die Konturen seiner Muskeln nach, erforscht, erkundet, worauf sie lang, viel zu lang, so erscheint es ihr, verzichtet hat. Ihre Finger gleiten tiefer, lösen seine Beinlinge, und ihr Mund verzieht sich zu einem Lächeln, als sie seine Reaktion spürt, während gleichzeitig Hitze in ihr selbst aufflammt. Sie richtet sich wieder auf, macht einen Schritt vorwärts, presst ihren Körper an den seinen, legt eine Hand auf seine Schulter und drängt ihn mit sanftem Druck nach unten, wo er auf dem Rücken zu liegen kommt. Ihre Hände stützen sich rechts und links von seinem Kopf ab, während sie auf ihm liegt, und ihr Mund umspielt ein verheißungsvolles Grinsen, bevor sie ihre Lippen wieder auf seine Haut senkt und sie nach unten wandern lässt, immer weiter nach unten. Ihr Körper scheint zu brennen, und das Pochen in ihrem Unterleib fordert etwas ganz anderes, aber dieses Mal möchte sie ihn verwöhnen, so lange er sie lässt, und so setzen Finger und Lippen ihr Spiel fort, dort, worauf sich ihre ganze Lust konzentriert.


    Sie genießt jeden Moment, in dem sie freie Hand hat, in dem er sie gewähren lässt und sie ihn in allen Einzelheiten entdecken kann. Und sie nutzt jeden davon, ahnt sie doch, dass ihre Zeit begrenzt ist, dass jeder Augenblick, der verstreicht, sich fast qualvoll in die Länge zieht, sie dem Moment näher bringt, in dem er die Führung übernehmen wird. Sie will, dass es passiert, und gleichzeitig will sie es noch hinauszögern, will ihm weiter schenken, was sie ihm geben kann, und genau das tut sie. Seine Hand krallt sich in ihr Haar, in einer Geste, die gleichzeitig haltsuchend wie antreibend scheint, und sie reagiert auf letzteres, intensiviert ihre Bemühungen noch, während ihr eigener Körper mehr und mehr danach schreit, eins zu werden mit ihm. Regentropfen prasseln auf ihren Rücken, treffen mit dumpf klingenden Lauten auf den vollgesogenen Stoff ihres Kleides, während es um sie herum platscht und zischt und rauscht, so heftig kommt das Wasser vom Himmel herunter. Immer größer wird das Verlangen, immer schwerer fällt es ihr, ihm nicht nachzugeben, und als ob er das spürt, zieht er sie auf einmal hinauf, zu sich. Von einem Moment zum nächsten treffen die Regentropfen auf Haut anstatt auf Stoff, perlen an ihrem nackten Rücken hinab, zeichnen Muster darauf, während ihr Schoss zu brennen beginnt, als sie endlich eins werden. Ihr Herz rast, ihr Atem geht keuchend und ihr Rücken biegt sich durch, während Schauer um Schauer sie durchlaufen. Eingespielt sind sie, kein Zögern ist da, kein Zaudern, nur Reaktionen aufeinander und miteinander, bekannt, vertraut und doch immer wieder neu. Mit geschlossenen Augen folgt sie seinen Bewegungen, fügt ihre hinzu und erschafft mit ihm einen gemeinsamen Rhythmus, der beiden schließlich Genugtuung bringt.


    Langsam lässt sie sich hernach sinken, legt ihren Kopf auf seine Schulter, während Atem und Herzschlag sich nach und nach wieder beruhigen und sie dem Nachhall der verklingenden Lust in sich lauscht. Ein erschöpftes, gleichwohl zufriedenes, wohliges Lächeln umspielt ihre Mundwinkel. Als er sie zu sich zieht, auf seine Seite, mischt sich Zärtlichkeit in das Lächeln, und sie schmiegt sich an ihn, ihre Beine mit seinen verschlungen, ihr Arm über seinem Oberkörper, ihre Fingerspitzen an seinem Kinn, ihr Kopf nach wie vor an seiner Schulter. Wieder ist es erst seine Stimme, die sie dazu bringt, sich mit seiner bloßen Nähe nicht mehr zufrieden zu geben, ihn anzusehen. "Zweifelst du?" Sie muss nicht überlegen. "Nein", antwortet sie leise, aber nichtsdestotrotz in einem Tonfall, der verrät, dass sie die Wahrheit sagt. "Nein", wiederholt sie noch einmal, und dann: "Und du?"


    ~~~


    Langsam glitt Siv ins Wachsein. Sie räkelte sich unter der Decke, wusste nicht was sie aus den Tiefen des Traums befördert hatte, dachte auch nicht weiter darüber nach, war sie doch noch zu gefangen darin. Im Haus war es stockdunkel, nichts rührte sich – es musste noch mitten in der Nacht sein. Und du… Schwerelos schwebten die Worte durch ihr Bewusstsein, hallten, substanzlos und schwer greifbar. Zu träge war ihr Geist, ganz im Gegensatz zu ihrem Körper. Ihr Atem, der während des Traums rasant angestiegen war und sich dann wieder beruhigt hatte, wurde wieder schneller, und ebenso reagierte ihr Herz, als sie sich in die Erinnerung verstrickte an das, was sie im Schlaf erlebt hatte. Ihre Hände wanderten, streichelten, liebkosten und fanden schließlich den Weg zu pulsierender Hitze, während ihr Atem keuchend ging und ihr Herzschlag raste, immer weiter, immer schneller, bis sich die Anspannung schließlich mit einem Schlag entlud. Ermattet lag sie anschließend da, die Augen geschlossen, die Gedanken treibend, keinen Muskel rührend. Der Traum… welche Wirkung hatte er auf sie, wenn er solche Träume auslöste? Und du… Die Frage tauchte wieder auf, und nun, in dem Zustand wohliger Erschöpfung, in dem sie sich befand, war sie nicht in der Lage sie abzuwehren oder zu ignorieren. Und du… Sie hatte die Frage gestellt, aber sie wollte die Antwort nicht hören – ihr Traum-Ich war in der Lage, damit umzugehen, mit allem umzugehen, schien es, aber ihr waches Ich war sich da nicht so sicher. Und trotzdem war die Frage da – genauso wie das, was ihr klar geworden war im Traum. Sie liebte ihn. Tat sie das wirklich? Während Wärme und Zärtlichkeit in ihr aufstieg, als sie an ihn dachte, griffen gleichzeitig Verwirrung, Verunsicherung und Angst nach ihrem Herzen und schienen zuzudrücken, und Siv lag noch lange wach da und grübelte vor sich hin, ohne zu einem Ergebnis zu kommen.

    Siv hörte sich stumm an, wie der Soldat, den sie angespuckt hatte, erzählte, was passiert war. Am liebsten hätte sie irgendetwas gesagt, getan, irgendetwas… aber kaum dass sie eine Bewegung machte, verstärkte sich der Griff um ihre Arme. Sie zuckte kurz zusammen und versuchte erneut, sich loszureißen, einfach um dem Druck auszukommen, aber einziger Erfolg war nur eine erneute Verstärkung. Wieder biss sie die Zähne zusammen, knirschte fast schon mit ihnen, und als sie den letzten Satz hörte, warf sie sich erneut nach vorn, fast so als wollte sie auf ihn losgehen – jedenfalls für den Bruchteil des Augenblicks, in dem sie die Gelegenheit dazu hatte, bevor sie wieder zurückgerissen wurde. "Das hast du auch verdient", fuhr sie ihn an – wie angenehm war es doch zu wissen, dass er sie trotzdem verstehen würde, obwohl sie Germanisch sprach, dass sie nicht auf ihre unzulänglichen Lateinkenntnisse angewiesen war.


    Als sich dann der andere Römer, der offenbar von den Anwesenden am meisten zu sagen hatte, ihr näherte und sich zu ihr beugte, zeigte Siv zum ersten Mal wirklich Nerven. Wäre nicht einer hinter ihr gestanden, wäre sie einen Schritt zurückgewichen, so aber prallte sie nur gegen seine Brust. Sie sah zu dem Mann hoch, und sie konnte nicht verhindern, dass seine Statur, seine Miene, sein ganzes Auftreten ein flaues Gefühl in ihrem Magen auslösten, das sie nicht ignorieren konnte und das – wenn sie es denn zugegeben hätte – nichts anderes als Angst war. Als sie am Kinn gepackt wurde, verstärkte sich die Flauheit noch, und sie versuchte – allerdings erfolglos –, ihr Gesicht wieder zu befreien. Ihre Kiefermuskeln waren stark angespannt, ihre Augen geweitet, während sie sich bemühte, den Römer anzufunkeln. "Das doch… wie hast du’s genannt? Das… du sagst das nichts tut zur, zur Sache. Mein Name", fauchte sie. "Warum du frag dann?" Die Germanin wehrte sich erneut, versuchte sich aus dem Griff zu winden und hatte doch keine Chance. "Du kannst den andern Gesellschaft leisten, wenn die Thursen kommen!"

    Siv konnte ein Zusammenzucken nicht verhindern, als sie die Kommentare der Torwache und die Antwort ihres Römers hörte. Aber sie presste nur die Kiefer so fest aufeinander, dass die Anspannung an ihren Wangen deutlich zu sehen war, während sie sich mehr zerren ließ als dass sie selbst ging. Über einen Platz ging es, vorbei an Männern, die ihnen nachsahen, auf eine kleine Ansammlung von Gebäuden zu. Dass die Blicke teils leicht verwundert wirkten, irritierte Siv etwas, aber sie achtete schon bald nicht mehr darauf. Stattdessen richtete sich ihre Aufmerksamkeit auf das Haus, auf das sie zugingen. Ihr Magen zog sich zusammen, und ohne darüber nachzudenken, welchen Sinn es hatte – nämlich gar keinen, – wurde sie noch langsamer, bis sie schließlich stehen geblieben wäre, wenn die Legionäre sie nicht mitgeschleift hätten. Immer noch sagte sie nichts, fragte nicht, was sie mit ihr vorhatten, wo sie sie hinbringen oder was sie tun würden. Schon als sie das erste Mal verschleppt worden war, hatte sie ihren Atem lieber darauf verschwendet, die Soldaten mit den schillerndsten Ausdrücken zu verfluchen, anstatt darauf zu fragen, was mit ihr passieren würde.


    Trotz Sivs fehlender Bereitschaft, sich weiter zu bewegen, erreichten sie die Tür nur zu bald, die nach dem Klopfen leider nicht in mehrere Stücke zerbrach, die ihnen entgegen kamen und die drei Männer um sie bewusstlos schlugen, sondern sich recht unspektakulär öffnete und ein – wie könnte es auch anders sein? – weiter Soldat zum Vorschein kam. Siv wäre am liebsten zurückgewichen, als sie den scharfen Tonfall hörte, selbst wenn der eher den Soldaten galt als ihr, aber erstens stand hinter ihr einer der Männer, und zweitens wäre das für sie sowieso nicht in Frage gekommen. Ihre Unsicherheit zeigte sich trotzdem, in kleinen Gesten wie die, dass sie die Unterlippe zwischen die Zähne zog. Sie ließ sie sofort wieder los, als sie getrocknetes Blut schmeckte und die Stelle wieder zu schmerzen begann, wo sie sich darauf gebissen hatte, aber das änderte nichts an der Tatsache, dass diese Gesten da waren. Zeig nicht, dass du Angst hast, hämmerte es in ihrem Kopf, und während sie weiter schwieg und versuchte, diese verräterischen Zeichen zu unterdrücken, erwiderte sie den Blick des Mannes vor ihr mit einer Mischung aus Wut und Trotz.

    Siv knirschte mit den Zähnen, als sie die Antwort hörte. Sie hatte nichts anderes erwartet – weil er Römer und Soldat war, redete sie sich ein, aber tief in sich wusste sie, dass etwas anderes der Grund war, auch wenn sie sich das nicht eingestand: sie hatte den Mann angespuckt und wehrte sich nach wie vor wie eine Furie. Sie würde an seiner Stelle nicht anders handeln. Vermutlich würde sie nicht einmal in der Lage sein, so ruhig zu bleiben wie er. Irgendwann später, auf der langen Rückreise nach Rom, auf der sie genug Zeit haben würde zu grübeln über das, was gerade passiert war und noch passierte, würde sie an den Punkt kommen, an dem sie in der Lage war, das wenigstens vor sich selbst zuzugeben. Aber jetzt behielt ihr Temperament und damit der Zorn die Oberhand, und wütend schoss sie ihm einen Blick zu, der ihn auf der Stelle tot hätte umfallen lassen, wenn Blicke töten könnten – zusammen mit einem erneuten Fluch auf Germanisch, den sie gerade so laut murmelte, dass er zu verstehen war, und bei dem blumige Beschreibungen von Eitergeschwüren und abfaulenden Gliedmaßen eine Rolle spielten. Schließlich sollte der Römer wissen, womit er bei den Thursen zu rechnen hatte.


    Nur kurze Zeit später erreichten sie das Tor, und während der Römer, der offenbar das Kommando hatte, kurz mit der Wache sprach, ließ Siv ihre Handgelenke kreisen. Die Finger waren inzwischen nahezu taub, und sie ballte ihre Hände zu Fäusten, presste die sie zusammen und lockerte sie, um die Blutzirkulation wieder etwas mehr in Gang zu bringen. Gleichzeitig lauschte sie dem Römer, und Siv schloss für einen Moment die Augen. Eine Überraschung für den Centurio… Siv fühlte sich, als ob sie gerade über die Gioll-Brücke* ging. Es hatte keinen Sinn mehr. Sich zu wehren. Nur noch ein paar Schritte, und sie befand sich in dem Castellum. Jede Hoffnung auf ein Entkommen, die sie möglicherweise noch gehabt hatte, war damit endgültig vorbei. Und trotzdem weigerte sich etwas in ihr strikt dagegen, einfach aufzugeben. Für die Legionäre nur noch leichtes Spiel zu sein, ganz egal, was sie mit ihr vorhatten. Selbst wenn sie sie sofort zu Ursus brachten… Sie hasste es, so hilflos, so ohnmächtig zu sein, hasste es, wenn andere über sie bestimmten, die Kontrolle über sie hatten – das hatte sie immer schon gehasst. Sie musste sich einfach wehren, und wenn es nur war um sich selbst zu zeigen, dass sie noch Herrin über sich selbst war, dass sie nicht völlig ausgeliefert, nicht völlig wehrlos war. Davon abgesehen hatte ihre Wut einen weiteren entscheidenden Vorteil: sie lenkte sie davon ab, wie es wirklich in ihr aussah – die Angst, die sie hatte, vor dem was nun passieren würde, und vor dem was sie in Rom erwarten würde. Vor der Strafe, und vor allem vor der Enttäuschung, die sie zu verantworten hatte. "Diesem Centurio kannst du sicher ein paar von deinen Schwären abgeben…" fauchte sie, während sie durch das Tor hindurch gezerrt wurde.


    Sim-Off:

    *Von Zwergen erbaute Brücke über den schwarzen Fluss Slidur in Nifelheim. Wer über diese Brücke geht, muss alle Hoffnung fahren lassen.

    Siv presste die Lippen zusammen, wütend auf sich selbst, dass sie dem Römer gesagt hatte, was er wissen wollte. Ihr Kopf fuhr hoch, und ihre Augen blitzte ihn an, als sie seine Antwort hörte, aber weder sagte sie etwas dazu, noch reagierte sie sonst wie darauf, obwohl sie ihn am liebsten wieder angespuckt hätte. Stattdessen zerrte sie erneut an ihren Armen, was völlig sinnlos war, zumal sie diesmal kaum Kraft in die Bewegung legte, aber sie wollte wenigstens irgendetwas tun, wollte nicht wie ein Schaf von den Soldaten abgeführt werden. Ihre Haltung war verkrampft, angespannt und machte dadurch nur zu deutlich, dass sie jeden Augenblick wieder losschnellen könnte, auch wenn sie das zumindest für den Moment unterließ. Stattdessen wirbelten ihre Gedanken immer schneller um das, was passiert war und noch passieren würde. Warum nur hatte sie das Angebot der Frau ausgeschlagen? Warum war sie nicht in den Wagen geklettert? Sie hätte frei sein können… Aber so sehr sie sich in dieser Situation auch wünschte, den Soldaten entkommen zu sein, wusste sie auch, warum sie gezögert hatte. Warum sie stehen geblieben war. Warum sie das Angebot letztlich nicht angenommen hatte. Sie gäbe viel dafür, wenn sie den Römern ein Schnippchen schlagen und doch noch fliehen könnte, aber sie war sich nicht sicher, ob ihr Weg sie dann immer noch nach draußen, in die Freiheit führen würde – im Gegenteil. Sie war sich sogar ziemlich sicher, dass sie zurück gehen würde. Zur Villa. Zu den anderen. Und irgendwann, in ein paar Wochen, zurück nach Rom. Ein Gesicht blitzte vor ihrem inneren Auge auf, lächelnd. Siv hörte für ein paar Momente ganz auf, sich gegen den Griff zu wehren, während sie ihren Gedanken nachhing. Dann wandelte sich der Ausdruck, das Lächeln verschwand, machte Enttäuschung Platz und nur einen Augenblick später wurde das Gesicht kühl und abweisend.


    Eine eisige Hand schien nach ihrem Herz zu greifen und zuzudrücken, und im selben Moment griffen Hände nach den ihren, um sie zu fesseln. Und Siv bäumte sich erneut auf, schrie auf und riss einen Arm los, schlug dem Legionär ihren Handrücken ins Gesicht, während sie gleichzeitig versuchte mit ihren Füßen zu treten. Sie konnte nicht zurück, nicht so. Irgendwie musste sie weg, musste verhindern, dass bekannt wurde, was hier passiert war, dass sie versucht hatte zu fliehen. Sie wusste, eigentlich, wie sinnlos ihr Unterfangen war – selbst wenn sie sich hätte befreien können, die Soldaten wussten nun, wem sie gehörte. Sie würden so oder so Meldung machen. Aber der Tumult in Siv ließ klares Denken kaum zu. Er wird nicht verstehen… Der Legionär, der sie fesseln sollte, revanchierte sich für den Schlag ins Gesicht auf die gleiche Weise, bevor er nach ihrer freien Hand griff und sie wieder schmerzhaft auf den Rücken bog, wo die andere noch war. Siv keuchte auf und stöhnte, als zuerst ihre Unterlippe wieder aufplatzte und dann das Seil um ihre Handgelenke geschlungen und festgezogen wurde, so sehr, dass ihre Finger schon kurze Zeit später zu schmerzen begannen. Die Fasern des Seils rieben an ihrer Haut und scheuerten sie schon bald auf, während sie vorwärts gestoßen wurde, zurück durch das Stadttor, durch die Straßen, auf das Castellum zu. Nachdem sie schon eine Weile gegangen waren, ergriff der Soldat neben ihr das Wort, und für einen Moment war Siv hin und hergerissen. Ihr erster Impuls, den ihr Zorn ihr eingab, war, dem Mann einen Tritt zu verpassen, weil sie keine Freundlichkeit von einem römischen Soldaten wollte und weil er offenbar der Meinung war, sie würde zusammenklappen, wovon sie noch weit entfernt war. Auf der anderen Seite schmerzten ihre Finger mittlerweile nicht mehr, sondern waren dabei taub zu werden, während ihre Handgelenke bei jeder noch so kleinen Bewegung brannten, und sie war dankbar für den Vorschlag. Siv biss die Zähne zusammen, um ein Stöhnen zu unterdrücken, und reagierte gar nicht auf die Worte, versuchte nicht einmal zu erkennen zu geben, ob sie sie verstanden hatte, während sie schließlich das Castellum erreichten.


    I shall be telling this with a sigh
    Somewhere ages and ages hence:
    Two roads diverged in a wood, and I –
    I took the one less travelled by,
    And that has made all the difference.


    – Robert Frost


    Sim-Off:

    Ich würd vorschlagen, dass der nächste im Castellum weitermacht :)

    Als Siv sich an diesem Abend endlich in die kleine Kammer schleppte, die sie für sich allein hatte – so wenig wie sie waren, hatten sie jeder eine für sich –, war sie völlig erschöpft. Der Tag war lang gewesen, und es hatte noch länger gedauert, bis er endlich zu einem Ende gekommen war. Matho hatte es sich in den Kopf gesetzt gehabt, an diesem einen Tag das komplette Haus zu putzen – nicht er, wohlgemerkt. Sich selbst hatte er die Aufgabe gestellt, alle Räume dahingehend zu überprüfen, was gerichtet oder ersetzt werden musste. Der Rest hatte sich dementsprechend darum kümmern müssen, besagte Räume vorher in einen Zustand zu versetzen, in dem Matho sie betreten würde. Also hatten sie Decken von Möbeln gezogen und zum Waschen gebracht, Spinnweben entfernt, Staub gewischt, der fingerdick in Ecken lag… und das den ganzen Tag. Zwischendurch hatten sich sowohl die Germanin als auch die anderen abwechselnd immer wieder zu Merit geschlichen, die sich ziemlich langweilte, um ihr zwischendurch etwas Gesellschaft zu leisten – was Matho allerdings anders aufgefasst hatte, als er ausgerechnet Siv am frühen Nachmittag dabei erwischte. Von der Standpauke, die er vom Stapel gelassen hatte, klingelten ihr jetzt noch die Ohren – und der Strafe hatte sie es zu verdanken, dass sie erst jetzt ins Bett kam und ihr alles weh tat. Der Maiordomus hatte sie – nach der Standpauke – am Kragen gepackt und in den Keller geschleift. Diese Räume waren die einzigen, die Matho von einer peniblen Reinigung eigentlich ausgespart hatte, sondern sie nur grob gefegt sehen wollte. Eigentlich. Nachdem er Siv bei Merit erwischt hatte, verkündete er jedoch genussvoll, dass er seine Meinung geändert habe, und seine Worte kamen so sicher und überlegt, dass Siv den Verdacht hegte, dass Matho den Keller mit Absicht ausgespart hatte – um ihn für genau so einen Fall als Strafaktion einsetzen zu können. Nachdem Siv den Rest des Nachmittags und den gesamten Abend dort verbracht hatte, um die Räume auf Hochglanz zu polieren, hatte sich dieser Verdacht zur Gewissheit erhärtet.


    Mit einem Seufzen fiel Siv auf ihr Bett und schwor sich, nie wieder einen Finger zu rühren. Sie war verdreckt, hatte Spinnweben im Haar und trug noch die verschwitzte und schmutzige Tunika. Und sie wusste, morgen würde sie sich wünschen, dass sie sich die Zeit genommen hätte, sich noch zu waschen – spätestens wenn sie sich bewegte und die verhärteten Muskeln protestieren würden. Aber jetzt war sie einfach zu müde, und der morgige Tag stand ohnehin wie ein Schreckgespenst vor ihren Augen. Fertig geworden war sie nicht, aber als die anderen schon längst im Bett waren, hatte Matho dann doch ein Einsehen gehabt und ihr gönnerhaft mitgeteilt, dass sie den Rest am nächsten Tag machen könnte. Siv seufzte erneut und drehte sich auf die Seite
    schloss die Augen, entspannte sich und ließ ihr Bewusstsein treiben, sah einen Garten im Mondlicht, hörte leise Worte und spürte eine vertraute Gegenwart, spürte Arme, die sich schützend um ihren Körper geschlungen hatten, während ein leichter Wind in ihrem Haar spielte…


    ~~~


    Donnernde Hufe. Ein Pferdekörper, nassgeschwitzt, in ständigem Auf und Ab. Stetige Bewegung, stetiger Dreiklang – ein Huf, zwei Hufe, ein Huf – und Pause. Ein winziger Moment des Schwebens in der Luft, bevor wieder ein Huf den Boden berührt und eine neue Welle des Rhythmus auslöst, der Pferd und Reiter in seinem Bann hat. Peitschende Mähne, vermischt mit Haaren, flattern im Wind. Sie tauchen ein in ein kleines Wäldchen, Erdklumpen spritzen hoch unter Hufen, die Regelmäßigkeit des Rhythmus’ ist unterbrochen, als der geschmeidige Pferdeleib sich hierhin und dorthin wendet, sich seinen Weg durch den lichten Hain sucht, im Zickzack zwischen den Bäumen hindurch jagt, durch deren Kronen Sonnenlicht fällt und goldene Muster auf grüne Blätter und dunkle Erde zeichnet. Ein Baumstamm, vor ihnen – ein kurzes Zucken läuft durch Pferd und Reiter, Anspannung baut sich auf, als sie auf das Hindernis zuhalten. Mit einem Ruck lösen sich die Hufe vom Boden und schnellen die Körper hinüber, landen weich auf der anderen Seite und lösen sich sofort wieder, als wäre die Bewegung der einzige Sinn. Hinaus aus dem Wald und wieder über eine Wiese. Sie genießt die stetige Bewegung, beugt sich vor, treibt das Pferd zu noch größerer Schnelligkeit an. Ein vages Gefühl der Trauer baut sich in ihr auf, weiß sie doch, dass das Ende ihres Ritts nun in greifbarer Nähe liegt – schon ist die kleine Ansammlung von Hütten zu sehen, die ihr Ziel ist. Sie könnte noch eine Runde drehen, könnte noch einmal durch den Wald reiten, und sie spürt, dass das Pferd sich ebenfalls danach sehnt, dass es noch lange nicht erschöpft ist, dass es drauf brennt, weiter zu rennen, immer weiter. Aber da sind Arme, die sich um ihre Körpermitte schlingen. Waren sie eben schon da? Hat sie sie ignoriert? Sie weiß es nicht, und sie wundert sich auch nicht darüber – sie sind jetzt da, und der Griff sagt ihr, dass es genug ist.


    "Du." Eine Stimme erklingt – bekannt, und doch hat sie für einen Moment das Gefühl, dass sie hier fehl am Platz ist. Mit wem reitet sie? Ein Teil von ihr weiß die Antwort, wusste sie schon, als sie das erste Mal den Griff um ihre Taille gespürt hat, lange bevor die Stimme erklang. Sie verlagert ihr Gewicht, gibt dem Pferd dadurch zu verstehen, langsamer zu werden, und es gehorcht, wenn auch nur ungern. Der Rhythmus der Hufe wandelt sich erneut, während sie sich der Siedlung nähern, Menschen sehen, Geräusche hören, Düfte wahrnehmen. Noch einmal verändert sie ihre Haltung, zupft diesmal an den Zügeln, und aus dem immer noch flotten Zweiklang wird ein gemächlicher Viererschritt. Weit greifen die Hufe aus, während sich der Pferdeleib unter ihnen streckt und der Hals sich lang macht. Sie schließt die Augen und genießt das Gefühl, die Bewegung – und Präsenz, die sie hinter sich spürt. Noch immer ist ihr nicht ganz klar, mit wem sie reitet – sie weiß es, und sie weiß es auch wieder nicht, fühlt es nur und akzeptiert es gleichermaßen. Es spielt keine Rolle. Sie fühlt sich geborgen, das ist was zählt, auch wenn während dem Ritt eher sie diejenige war, die Sicherheit gegeben hat.


    Sie antwortet nicht auf seine Feststellung, sondern lehnt sich nur zurück, lehnt sich an, während sie dem Tier freie Zügel lässt. Erneut wünscht sie sich, den Ritt verlängern zu können – diesmal nicht um der wilde Jagd willen, sondern um dessen, was nun ist. Sie ist gerade so groß, dass ihr Kopf genau unter sein Kinn passt, stellt sie fast vergnügt fest, während sie die ersten Hütten erreichen und ein paar Kinder mit einem fröhlichen Lachen auf sie zeigen und dann davon rennen. "Wir sind da." Der Hauch des Bedauerns, den sie nach wie vor empfindet, schwingt auch in ihrer Stimme mit. Für einen Moment bleibt sie noch, wie sie ist, während das Pferd schnauft und den Hals so lang streckt, als wollte es damit eine Rutsche für sie bilden. Ihre Finger streichen kurz über seinen Arm, der immer noch um ihre Taille geschlungen ist, dann löst sie sich, schwingt ihr rechtes Bein über den Pferdehals und gleitet zu Boden. "Wo sind wir hier?" Die Frage dringt an ihr Ohr, kaum dass er ebenfalls abgestiegen ist. Einen Moment hält sie inne, verwirrt. Weiß er das nicht? Fühlt er es nicht? "Zu Hause", antwortet sie dann, lächelnd. "Wir sind zu Hause." Sie beobachtet die Katze, die herbeikommt und ihren Kopf an seinen Beinen reibt, so als wollte sie ihre Worte unterstreichen. Als sich dann eine Tür öffnet, hebt sie den Kopf wieder, und auf ihrem Gesicht breitet sich ein strahlendes Lächeln aus, als sie den alten Mann sieht, der herauskommt. Sie wundert sich nicht, dass er da ist. Auch sein Gesicht fängt an zu strahlen, seine Augen leuchten, und die Haut bildet Dutzende von Fältchen – sie zeigen, dass er oft und gerne lacht, auch wenn das Leben ebenso andere Falten in seinem Gesicht hinterlassen hat, Spuren von Schicksalsschlägen, die ihn getroffen haben. "Endlich", sagt er. "Endlich bist du wieder da, duhter. Kleiner skradan." Ihr Lächeln wird noch sonniger, als sie den vertrauten Kosenamen hört. "Ja, fader. Endlich." Der Blick des Alten wendet sich ihrem Begleiter zu, mustert ihn. Immer noch lächelt er, aber dennoch ist der Ausdruck undeutbar geworden, für den Moment. "Dein fridilaz?"


    Wieder hält sie inne. Überlegt. Sie weiß es nicht, ist sich nicht ganz sicher – Erinnerungsfetzen taumeln durch ihren Kopf, Eindrücke, von Haut an schweißnasser Haut, von hungrigen Lippen und geflüsterten Worten der Begierde. Sie weiß, dass sie mit ihm geteilt hat, was Geliebte teilen. Aber ist er deswegen ihr fridilaz? Ihre Hand sucht nach der seinen, ergreift sie, ihre Finger mit seinen verschlingend. Sie fühlt sich geborgen bei ihm, sicher. Sie vertraut ihm. "Ja", antwortet sie schlicht. Keine Erklärung, kein Versuch einer Rechtfertigung. Das hat sie nicht nötig, und der Mann in der Tür, der sie seit ihrer Geburt kennt, weiß das. Noch einmal musterte er den Mann neben ihr. Was er denkt, ist schwer zu erkennen – aber er akzeptiert, was sie sagt. "Willkommen", meint er, ebenso schlicht wie sie zuvor, dann wendet er sich wieder ihr zu: "Wenn ihr fertig seid, skradan, dann kommt mich besuchen." Sie nickt, lächelt. Der alte Mann bleibt draußen, setzt sich auf eine kleine Bank vor der Tür und beginnt, die Katze zu kraulen, die sich inzwischen zu ihm gesellt hat. Sie hingegen wendet sich um, streicht mit der freien Hand über die Mähne des Pferdes und lässt einen Blick über die Hütten schweifen, auf der Suche nach der, die ihr gehört hat. Danach suchen ihre Augen zum ersten Mal die seinen. Er erwidert ihren Blick, und kurz verliert sie sich in seinen braunen Augen, die ihr von Zeit zu Zeit immer noch so ungewöhnlich erscheinen. Aber der Moment hält nicht lange an. Sie spürt sein Unbehagen, spürt, dass er sich unwohl fühlt. Kinder toben um sie herum, an ihnen vorbei. Er macht einen kleinen Schritt, weicht einem kleinen Jungen aus. Jede seiner Bewegungen scheint ihr so vertraut zu sein… Ebenso vertraut wie sein Gesicht, das im Moment nichts von der Freude zeigt, die sie empfindet. "Dein Dorf." Die Worte treffen sie, obwohl sie weiß, dass er Recht hat. Ihre Finger lösen sich langsam von seinen. "Dein Zuhause. Nicht meines." Er sieht sie dabei an, auch wenn es ihm sichtbar schwer fällt – und schließlich ist sie diejenige, die den Blick senkt. Die ihm ausweicht. "Ich weiß." Jetzt ist ihre Stimme nur ein Wispern. Sie weiß nicht, was sie noch sagen soll. Es gibt nichts zu sagen.


    Ihr Blick richtet sich auf den Boden, schweift dann wieder über die Ansammlung der kleinen Hütten, unruhig diesmal. Sie weiß, dass er Recht hat, was ihn betrifft. Aber hat er auch Recht, was sie angeht? Wieder tauchen die Kinder auf, und diesmal bleibt ein kleiner Junge stehen – derselbe, dem er vorher ausgewichen ist. Blaue Augen starren sie an, rund vor Staunen. Und sie erkennt einen Neffen in ihm. Aber ihre Gedanken weilen anderswo, und bevor der Kleine etwas sagen kann, wird er schon von seinen Freunden mitgerissen, tobt weiter und hat vermutlich schon vergessen, weshalb er stehen geblieben ist, dass ihm die Fremde plötzlich so bekannt vorgekommen ist. Heute Abend wird es ihm wieder einfallen, wenn er seinem Vater gute Nacht sagt, der der Frau so ähnlich ist, und er wird es ihm erzählen, ganz aufgeregt. Aber jetzt läuft er weiter, rennt seinen Freunden nach und juchzt vor Freude. Ihr Blick dagegen hängt noch wie gebannt an der Stelle, an der die Kinder kurz zuvor noch waren. Langsam wird ihr klar, wer das war. Seine Worte klingen erneut in ihren Ohren. Dein Zuhause. Nicht meines. Ohne es zu wollen, drängt sich ihr die Frage auf, ob es das wirklich noch ist. Ihr Neffe. Und er erkennt sie nicht. "Ist es noch mein Zuhause?" Noch leiser sind diese Worte. Sie ist sich nicht einmal bewusst, dass sie sie laut ausspricht.


    Sie schüttelt die Gedanken ab und wendet sich wieder ihm zu. Lächelt, etwas gezwungen, vor allem aber wehmütig. Auch seine Lippen verziehen sich zu einem Lächeln, und seine Hand hebt sich und berührt ihre Wange. Leicht neigt sie den Kopf, will der sachten Liebkosung entgegen kommen, aber der Handrücken ist nicht dafür geformt, um sich in ihn hinein zu schmiegen. Also verharrt sie nur still. Sie fühlt kein Unbehagen, dafür aber eine vage Trauer, ähnlich der, die sie überkommen hat, als der Ritt dem Ende zuging. Und sie kann es nicht verbergen, auch wenn sie es gern möchte – weil sie nicht will, dass er sich wegen ihr Gedanken macht, dass es ihm schlecht geht, dass er sich schuldig fühlt. Es gibt nichts, was er tun kann, um zu ändern, was ist, ebenso wenig wie sie. Sie weiß das, auch wenn sie es nicht immer wahrhaben will. Aber etwas gibt es, was sie tun können, jetzt. "Lass uns so tun als ob." Ihrer Stimme gelingt, was ihr Lächeln nicht vermag – sie klingt locker, fröhlich. Die Wehmut ist kaum zu hören, spielt dafür umso deutlicher um ihre Mundwinkel. Und nur in ihren Augen ist die stumme Bitte zu sehen, die ihre Worte formulieren, ohne dass der Ton sie so wirken lässt. "Für diesen Moment." Sie mustert ihn, registriert jede Veränderung in seinem Gesicht. Immer noch ist sie ruhig, so viel ruhiger als sie es sonst von sich kennt. Sie wartet ab, wartet auf seine Antwort, sieht ihn an, während seine Hand sinkt. Wieder lächelt er, und diesmal ist es ein Lächeln, das sie kennt und liebt, das ein Kribbeln in ihr auslöst. "Das ist ein Traum. Und in einem Traum kann man tun, was man will. Zeige mir deine Heimat. Zeige mir, was dir wichtig ist." Seine Lippen nähern sich den ihren, immer noch verzogen zu diesem verwegenen Lächeln, von dem sie ihren Blick erst losreißen kann, als er so nahe ist, dass sie zurückweichen müsste, um es noch zu sehen. Ihr Mund umspielt ebenfalls ein Lächeln, ein ehrliches, als sich ihre Lippen berühren. "Für diesen Moment…"


    ~~~


    Siv wollte nicht aufwachen, versuchte die Fühler zurückzuhalten, die ihr Bewusstsein tastend in die Wirklichkeit aussandte, wehrte sich gegen die Realität, die nach ihr griff. Ihre Lippen waren noch halb geöffnet und leicht gewölbt. Aber der Traum ließ sich nicht festhalten, entglitt ihr immer schneller. Zarte Sonnenstrahlen kitzelten sie an der Nase und zupften an den Lidern, und mühsam hob sie eine Hand, um ihre Augen abzuschirmen. So wenig sie sich gegen das Auftauchen aus dem Traum hatte wehren können, so schwer fiel ihr nun das endgültige Aufwachen. Ein leichter Schmerz zuckte durch ihren Arm, als sie ihn bewegte, und ein leises Stöhnen kam über ihre Lippen. Nur langsam kam die Erinnerung an den gestrigen Abend wieder, wie sie ins Bett gefallen war, sogar zu müde, um noch die Vorhänge zuzuziehen… Sie drehte sich auf die Seite, wandte sich von der aufgehenden Sonne ab, erwartete fast, ihn neben sich liegen zu sehen, aber da war niemand. Mit einem Seufzen schloss sie die Augen erneut und schlief wieder ein, ohne daran zu denken, dass das nur dazu führen würde, dass in gar nicht allzu ferner Zukunft Matho gegen ihre Tür trommeln und sich noch eine Strafarbeit für sie ausdenken würde.

    "Gesundheit", sagte Siv automatisch, als Sertorio nieste. Für einen Moment musterte sie seine eher missmutige Miene und unterdrückte ein Seufzen – irgendwie schien jeder außer ihr der Meinung zu sein, dass nach Germanien geschickt worden zu sein das Schlimmste war, was hätte passieren können. Hektor war auch nicht glücklich darüber, und Caelyn… nun, Caelyn konnte Siv verstehen. Sie selbst hätte sich strikt geweigert, im Castellum zu leben, zusammen mit jeder Menge Soldaten… Siv schauderte allein bei dem Gedanken daran. Dann wurde sie aber abgelenkt von Merits schuldbewusstem Blick, und sie seufzte. So wie die Ägypterin schaute, konnte sie ihr nicht böse sein, zumal sie sie verstehen konnte – Merit war schwer krank gewesen, und sie gehörte einfach noch ins Bett, aber sie selbst hätte es auch nicht ausgehalten, und vor allem: sie wäre bei weitem keine so brave Patientin gewesen wie Merit es war. Sie hätte vermutlich vor lauter Langeweile und Missmut auf Dauer jeden vergrault, der in ihre Nähe gekommen wäre, und sie hätte sich in der Situation, in der Merit sich gerade befand, mit Sicherheit nicht entschuldigt, sondern gemotzt. Und so wie Merit sprach, wie sie sie ansah… tat sie ihr einfach leid. Wider besseren Wissens seufzte Siv. "In Ordnung. Komm." Sie hob die Blätter vom Boden auf und schob die Ägypterin dann sacht vor sich her, an Sertorio vorbei und in die Küche hinein. "Sertorio, du… Merit kann was machen? Tun, irgendwas leichtes, wo sie sich nicht überanstrengt… und was sie im Sitzen machen kann. Was leicht tun?" Derweil dirigierte sie Merit zu einem Sitz neben dem Feuer, damit sie nicht zu frieren anfing.