Beiträge von Aureliana Siv

    Noch jemand huschte an diesem Abend, der bereits an der Schwelle zur Nacht stand, durch die Gänge. Siv war unterwegs, vorsichtig, leise, schlich an den Wänden entlang, bemüht, kein Geräusch zu verursachen. Eine Decke über dem Arm, war sie auf dem Weg in den Garten. Seit sie aus Germanien zurück war, war ihr Schlaf alles andere als erholsam, sofern sie im Haus war. Es war wie ganz am Anfang, als sie neu hier war. Sie meinte zu ersticken, meinte die Wände auf sich zukommen zu sehen, sobald sie im Bett lag, und wenn sie endlich eingeschlafen war, war ihr Schlaf unruhig – so sehr, dass sie schon des öfteren aufgeweckt worden war, weil ihre heftigen Bewegungen und ihr unbewusstes Sprechen die anderen störte. Hatte vor der Reise noch festgestanden, dass sie Cadhlas Platz einnehmen würde, war jetzt nicht mehr die Rede davon, und sie fragte auch nicht danach. Cadhla… Wie oft hatte Siv sich in den letzten Tagen und Wochen gewünscht, die Keltin wäre hier, nur um dann wieder froh zu sein, dass sie es nicht war. Sie hatte Angst vor ihrer Reaktion. Angst vor Unverständnis – und, seltsam genug, Angst vor Verständnis. Es gab im Moment nur wenige, deren Gesellschaft die Germanin ertrug. Von den meisten in der Sklavenschaft wurde sie ohnehin geschnitten, den Rest mied sie weitestgehend. Sie ertrug das Mitleid nicht, das manche für sie hatten. Sie hatte selbst kein Mitleid für sich übrig, und im selben Maß, in dem andere Verständnis für sie aufbrachten, verringerte sich das, das sie selbst für sich hatte. Am liebsten schob sie alle Gedanken weit weg, die ihren Fluchtversuch betrafen, aber jeder, den sie traf, erinnerte sie in irgendeiner Form daran – sei es weil er sie mit Verachtung strafte, oder sei es weil er sie aufmuntern wollte. Daher hatte sie sich zurückgezogen, weitestgehend, erledigte ihre Arbeiten, klagte nicht darüber, dass sie seit Wochen die schwersten und unangenehmsten bekam, die sonst, wenn nicht gerade einer sie als Strafe ein paar Tage hintereinander erledigen musste, im Wechsel verteilt wurden. Es interessierte sie auch kaum. Im Gegenteil, sie war eher froh darüber, dass sie dadurch nur selten Zeit hatte darüber nachzudenken, wie sehr sich ihr Leben verändert hatte. Es waren nicht nur die anderen Sklaven, mit denen sie am meisten zu tun hatte. Corvinus weigerte sich, sie auch nur anzusehen – wenn sie sich denn überhaupt begegneten. Anfangs hatte sie noch nach seiner Nähe gesucht, hatte versucht ihn zu treffen, um mit ihm zu reden, aber er ließ keine Gelegenheit zu. Wenn sie vor ihm stand, ignorierte er sie, wenn sie zu sprechen begann, verschwand er oder gab anderen ein Zeichen, sie wegzubringen. Und schon bald hatte dieses Benehmen dazu geführt, dass sie es aufgab. Es mochte untypisch für sie sein, aber Corvinus so ablehnend zu sehen, seine abweisende Haltung zu spüren, tat ihr einfach zu weh. Sie hatte nach wie vor das Gefühl, dass sie ihr Verhalten erklären konnte, dass er es verstehen könnte, wenn er nur zuhören würde. Aber sie konnte ihn nicht zwingen. Und so, von den einen geschnitten, von den anderen selbst abgekapselt, fühlte sie sich einsam.


    Allerdings machte sich dieses Leben bemerkbar. Sie war schmal geblieben – Matho hatte zwar keine Gelegenheit mehr, ihr Essen zu rationieren, aber oft genug hatte sie keinen Appetit. Sie war blass und hatte Ringe unter den Augen – selbst wenn sie es schaffte sich nachts in den Garten zu schleichen, wurde sie häufig von Träumen geplagt, wenn auch ihr Schlaf besser war als drinnen. Und auch die Einsamkeit hatte Auswirkungen – alles in allem ging es ihr im Moment nicht wirklich gut, auch wenn sie sich bemühte, sich nichts davon anmerken zu lassen. Besorgten Blicken wich sie aus oder ignorierte sie, Bemerkungen oder Fragen ließ sie abprallen. Es geht mir gut, war ihre Standardantwort, und dann verschwand sie oder war auf Anhieb so beschäftigt, dass sie keine Zeit zum Reden fand. Trotzdem konnte sie nicht verbergen, dass es ihr eben nicht gut ging, und so bemühte sie sich, wenigstens nach außen hin den Anschein zu wahren. Sie versuchte mehr zu essen, aber bereits nach ein paar Bissen musste sie die Nahrung oft mehr runterwürgen als alles andere, weswegen es in der Regel bei dem Versuch blieb. Aber sie schlich sich öfter in den Garten, nachts, und auch wenn sich ihr Schlaf nur langsam besserte, tat er es doch inzwischen spürbar, wann immer sie draußen schlief. Das war das einzige, wo sie selbst den Erfolg einigermaßen spüren konnte, inzwischen wenigstens, und so war sie auch diese Nacht unterwegs. Leise, weil sie wusste, dass sie um keinen Preis erwischt werden durfte. Sie ging davon aus, dass schon alles schlief, aber gelegentlich war Matho noch um diese Zeit unterwegs, um abzuschließen, oder andere, um was auch immer zu tun.


    Als sie plötzlich ein Geräusch hörte, blieb sie wie angewurzelt stehen. Ein Schlüsselbund klirrte. Matho war also noch unterwegs. Siv stockte der Atem, während sie ein Stoßgebet zu Hel schickte, dass der Maiordomus sie nicht erwischen möge. Sonst würde er ihr vermutlich einen zweiten Fluchtversuch anhängen, und nach dem was Corvinus inzwischen von ihr hielt, würde er das glauben. Und was dann mit ihr geschehen würde, daran wagte sie gar nicht zu denken. Es blieb still, und nach ein paar Augenblicken schlich sie, noch leiser als bisher, weiter. Dann hielt sie erneut inne. Ein Lichtschein tauchte auf, und sie fluchte lautlos, während sie sich in die Schatten presste. Matho kam direkt auf sie zu, und insgeheim machte sie sich bereits darauf gefasst, dass er im nächsten Moment Zeter und Mordio schreien würde. Umso überraschter war sie, als auf einmal eine weitere Gestalt auftauchte. Im Schein der Öllampe erkannte sie Fhionn, und für einen kurzen Augenblick fragte sie sich, was die Keltin von Matho wollte. Fhionn hatte, wie auch Merit und ein paar der anderen, sich bemüht, Siv das Leben wenigstens etwas zu erleichtern – nur mit dem kleinen Unterschied, dass Matho die Keltin erwischt hatte. Im Gegensatz zu Siv setzte er aber die andere Sklavin nicht offen unter Druck, sondern tat es heimlich. Die Germanin war die einzige, die wenigstens annähernd Bescheid wusste, und sie hätte den anderen etwas gesagt, damit wenigstens die Keltin ihre Ruhe hatte. Aber Fhionn hatte nicht gewollt, dass etwas bekannt wurde, und obwohl Siv ahnte, dass nach dieser ersten Begegnung nicht alles ausgestanden war, hatten es sowohl die Keltin als auch der Maiordomus verstanden, alles weitere vor allzu neugierigen Augen zu verbergen. Fhionn hatte, auch Siv gegenüber, keinen Anlass gegeben, Schlimmeres zu vermuten, und so hatte sie es auf sich beruhen lassen. Sie konnte, gerade jetzt, nur zu gut verstehen, wenn jemand nicht bedrängt werden wollte, und so ließ sie Fhionn in Ruhe. Jetzt aber begann in ihr die Erkenntnis aufzublühen, dass das womöglich die falsche Entscheidung gewesen war. Fassungslos sah sie, wie Fhionn ein Messer hob. Sonderbar irreal, und wie in Zeitlupe, senkte sich die Hand, berührte das Messer Mathos Brust, versank fast zärtlich in ihm. Löste sich wieder und hinterließ einen roten Fleck, der auf der Tunika zu einer unregelmäßig geformten Blume erblühte. Versank erneut, ohne allzu viele Geräusche, ohne Gegenwehr, ohne sichtbaren Widerstand, tauchte ein wie ein Fisch, der aus dem Wasser gesprungen war, erhob sich wieder, ohne Wellen auszulösen, versank ein weiteres Mal. Die Öllampe zersprang auf dem Boden, flackernder Schein breitete sich aus. Der Maiordomus strauchelte, sank zu Boden, während das Messer seine merkwürdige Weise weiter fortführte, einem für Siv unhörbaren Rhythmus folgend, der aber da war, da die Flammen ihm ebenfalls zu folgen schienen, zuckten und sich wanden, Reflexe auf der Klinge hervorriefen und sich mit Fhionns Bewegungen zu einem grotesken Tanz vereinten. Sie meinte ihren Namen zu hören, gehaucht von einem Sterbenden, und auch dieses Wort wob sich auf unheimliche Art ein in das Gesamtbild. Sie blieb im Schatten, war wie erstarrt, unfähig sich zu rühren, stumme Beobachterin, ohne selbst gesehen werden zu können. Vor ihren Augen spielte sich die Szene immer noch ab, als Fhionn schließlich von Matho abließ und verschwand. Erst nach einem weiteren Moment bewegte Siv sich, trat aus den Schatten und in den flackernden Schein des Feuers, das bereits kleiner wurde, da es das ausgelaufene Öl rasend schnell verbrauchte und auf dem Stein keine zusätzliche Nahrung mehr fand. Wie in Trance setzte sie einen Schritt vor den anderen, ließ sich neben Matho auf die Knie sinken. Ihre Hände schwebten einen Moment über dem Maiordomus, ohne ihn zu berühren, während ihre nackten Füße und der Saum ihrer Schlaftunika sich blutig färbten in der Lache, die sich um Matho ausbreitete. Dann, schließlich, senkten sich ihre Finger, tasteten über die Wunden, fühlten nach dem Puls, aber da war nichts. Und nach einem weiteren Augenblick, in dem der Schreck Siv nur noch mehr in seine Gewalt zog, erhob sie sich und hastete durch die Gänge. Sie begriff nicht wirklich, was soeben geschehen war. Sie wusste nur, dass sie irgendjemandem Bescheid sagen musste, und so trugen ihre Füße sie zu dem Menschen, der ihr in dieser Villa – trotz der Ablehnung, die sie in den letzten Wochen von eben diesem Menschen erfahren hatte – am meisten bedeutete, dem sie vertraute wie keinem anderen hier.

    Siv kam nicht dazu, mehr zu sagen. Corvinus wandte sich ab von ihr, und im selben Moment verstummte sie, noch bevor er seine Hand hob, um ihr das Wort abzuschneiden. Sie musterte ihn, seinen harten Gesichtsausdruck, suchte nach irgendeinem Zeichen darin, das ihr hätte Hoffnung geben können, aber sie fand nichts, war sie sich doch viel zu sicher, dass sie nichts finden würde, nicht nachdem Corvinus von jemand anderem erfahren hatte, was passiert war. Als er erneut das Wort ergriff, biss sie die Zähne zusammen. Für einen Augenblick flackerte der Schmerz deutlich auf, auf ihrem Gesicht, in ihren Augen, aber schon im nächsten Moment bemühte sie sich, ihn zu unterdrücken, in sich zu verschließen. Wirklich gelingen wollte es ihr nicht, aber sie kämpfte darum, sich nicht noch mehr gehen zu lassen als ohnehin schon. Das hatte sie bereits viel zu sehr. Auch wenn sie Matho nicht ansah, war ihr doch nur zu bewusst, dass er nach wie vor auf dem Boden kauerte. Sie wusste nicht, ob sie ihn derart schlimm getroffen hatte, aber das war auch egal. Sie hatte die Beherrschung verloren, auf eine Art, von der sie eigentlich gedacht hatte, dass sie sie abgelegt hatte. Und sie hatte viel zu viel von sich gezeigt, von dem, wie sie sich wirklich fühlte.


    Sie starrte Corvinus an, während er Worte sprach, die für sich schon wie ein Urteil für sie klangen. Ihr Magen krampfte sich zusammen, weil allein sein Tonfall sie so viel mehr traf, als es eine tatsächliche Strafe gekonnt hätte. Er wollte nichts mehr von ihr wissen, und in diesem Augenblick war sie überzeugt davon, dass sich das nicht mehr ändern würde, auch wenn er sich entschieden hatte, was er mit ihr machen würde. Für einen Moment stand sie noch da, hilflos, versuchte verzweifelt etwas zu finden, was sie tun oder sagen könnte, um das Blatt noch einmal zu wenden, aber ihr wollte nichts einfallen. Und auf einmal fühlte sie sich müde, unendlich müde. Sie hätte ihm sagen können, dass sie von Anfang an vorgehabt hatte, ehrlich zu sein, ihm davon zu erzählen, hätte ihm sagen können, dass Ursus ihr das bewusst gewährt hatte. Aber Corvinus war deutlich gewesen, und sie kannte ihn inzwischen gut genug um zu wissen, dass jedes weitere Wort vergebens gewesen wäre. Und so gern sie ihn angebettelt hätte, ihr wenigstens zuzuhören, war da doch immer noch ihr Stolz, der sich langsam, in einer reinen Schutzreaktion, wieder meldete. Sie nickte abgehackt und wich seinem Blick dann aus. Noch einen weiteren Moment blieb sie stehen, dann zog sie, immer noch seltsam steif, Ursus’ Brief aus der Tasche, den sie zuvor aus Versehen schon etwas zerknittert hatte und der noch mehr in Mitleidenschaft gezogen worden war, als sie auf Matho losgegangen war. Sie starrte das Pergament kurz an, dann trat sie zu dem Schreibtisch, zu Corvinus, reichte ihm den Brief, und tatsächlich, nach einem winzigen Augenblick nahm er ihn – nur um ihn in den Abfallkorb neben sich fallen zu lassen. Als Siv das sah, konnte sie ein Zusammenzucken nicht mehr verhindern. Mühsam, fast wie eine Ertrinkende, sog sie Luft in die Lungen, während in ihrem Brustkorb tausende von kleinen Spinnen herum zu krabbeln schien. Sie starrte den halb zerknäulten Brief an, der in dem Korb gelandet war, dann biss sie sich auf die Unterlippe, und ohne ein weiteres Wort, ohne Corvinus noch einmal anzusehen, drehte sie sich um und verschwand endgültig aus dem Officium.

    Siv schloss die Augen und schob jeden Gedanken darüber, was es wohl bedeuten mochte, dass Corvinus sie in diese zärtliche, fast schon schützende Umarmung genommen hatte, beiseite und genoss einfach nur das warme Gefühl der Geborgenheit, dass sich in ihr ausbreitete. "Ja. Funken. Kleine Lichter. Kleiner, sehr sehr kleiner Feuer." Sie folgte seinen Weisungen mit ihren Blicken und betrachtete die Sterne, Augenbrauen zusammengezogen, und nach ein paar Augenblicken konzentrierten Hinsehens meinte sie tatsächlich den Kopf eines Fohlens zu erkennen. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, und sie lehnte sich wieder zurück, die Arme auf den Knien des Römers, während sie gleichzeitig fasziniert der Geschichte lauschte, die er erzählte. "Pegasos? Das Pferd mit, mit Fliegen, ja? Mit Flügeln?" Von den griechischen Sagen hatte sie schon ein paar gehört – sie war neugierig auf alles Neue, was sie lernen konnte, und sie liebte diese Geschichten. Wann immer sie mit den anderen Sklaven einer Arbeit nachging, die es erlaubte, und sie diese überreden konnte, ließ sie sich Sagen erzählen, die diese kannten, gleich woher sie kamen. Sie wusste, dass es ein geflügeltes Pferd bei den Griechen gab, aber zu erzählen wie diese Sage genau gestrickt war, dazu hatte sie noch niemanden bringen können, und Kastor und Polydeukes waren ihr noch gänzlich unbekannt. "Kastor und… Pol… Poli… Was mit den? Was, was getan? Was mit Pegasos?"


    Unbewusst kuschelte sie sich etwas enger an ihn, als ihr kühl wurde – nicht wegen der inzwischen frischen Nachtluft, sondern wegen des Themas, das sie inzwischen angeschnitten hatten. "Ja, lernen… lernen sein, ist Freude. Es macht mir einfach Spaß…" Für einen Moment schwieg sie, als ihr plötzlich so klar wie nie zuvor wurde, wie viel ihr Leben hier ihr bot, wie viel ihr entgangen wäre, wäre sie nicht in Rom gelandet. Unangenehm berührt, weil das letztlich bedeutete, dass ihr Dasein als Sklavin auch seine guten Seiten hatte, schob sie die Gedanken weg und lauschte seinen weiteren Worten, die für sie aber nicht wirklich angenehmer waren. "Ich weiß", murmelte sie, während eine Mischung aus Verlegenheit und eben angesprochenem Stolz in hier hochstieg. "Ich weiß, Stolz ist… intens…? Ist stark. Du meinen das, ja? Mein Stolz sein stark. Und viel, haben viel davon. Ich weiß…" Sie starrte in den Nachthimmel, ohne diesmal die Sterne zu sehen, die dort oben funkelten, und ihre Stimme wurde leise und nachdenklich. "Vater auch gesagt, immer, dass Stolz bei mir stark. Viel. Zu viel. Auch gesagt, dass… dass Ur…teil… das sein Meinung, von, für über anderes Mensch? Er gesagt dass sein nicht gut. Nicht gut wenn zu viel, oder zu… vor, vor Zeit… zu… Wenn man sich einfach zu früh ein Urteil bildet. Er gesein gut. Ich lernen viel, gelernt viel, von er."


    Sie verstummte erneut und hing ihren Gedanken nach, dachte an ihren Vater, den sie das letzte Mal gesehen hatte bei dem Überfall, wie er von einem Speer durchbohrt worden war, wie er vom Pferd gefallen war… Sie selbst war von drei Römern gepackt gewesen, hatte sich gewehrt nach Leibeskräften, und sie hatte zu ihm gesehen, hatte gesehen, wie das Lebenslicht in seinen Augen erloschen war… Und sie war wie erstarrt gewesen, hatte sich nicht mehr gerührt, hatte nur entsetzt zu ihrem Vater gesehen, und erst nach Momenten, als die Römer sie so weit wegschleppt hatten, dass sie ihn aus den Augen verlor, hatte sie wieder begonnen sich zu wehren. Aber da war es zu spät gewesen. Erneut wechselte sie das Thema, und bei Corvinus’ Antwort musste sie dann grinsen. "Tun wir, ja? Wir Recht damit. Römer nicht alles, nicht, nicht mehr gut. Nur mehr Kämpfer. Mehr, und mehr gut Waffen. Mehr gut als Germanen, da wo Sonne im Mittag und Abend. Da wo Sonne nie, da Germanen mehr gut." Ihre Stimme klang genauso verschmitzt, wie es ihr Grinsen war. Bei den nächsten Worten dann mischte sich etwas hinein, das freundschaftlich war, warm, fast schon zärtlich. "Kein Abstieg, nein. Nicht schlecht, das. Ich mage Sterne. Mage Geschichten. Und du nicht langweilig, nicht langweilig erzählen, und nicht langweilig seid. Bist."

    Siv war außer sich. Einen derartigen Wutanfall hatte sie nicht mehr gehabt, seit sie verheiratet worden war. Der Schmerz über die Enttäuschung in Corvinus’ Gesicht, die Wut auf Matho, die Entbehrung und Erschöpfung der letzten Wochen, die Angst und Nervosität, die sie jeden Tag mal mehr, mal weniger stark empfunden hatte, die aber letztlich immer stärker geworden war, das alles wurde einfach zu viel für sie in diesem Moment, überschwemmten sie, rissen ihr klares Bewusstsein einfach mit sich. Sie schrie weiter auf ihn ein, setzte ihm erneut nach, griff nach dem Ausschnitt seiner Tunika und versuchte ihn wieder hoch zu zerren – selbst in diesem Zustand schlug sie nicht auf jemanden ein, der am Boden lag –, und das Tintenfass, das Matho mit sich gerissen hatte, ergoss seinen Inhalt über ihre Arme und ihre Tunika. Irgendjemand brüllte ihren Namen, aber sie reagierte gar nicht darauf, sah immer noch nur Matho – bis sie nach einem Schreckmoment realisierte, dass sie die Stimme kannte. Wozu es sonst vermutlich zwei der anderen Sklaven gebraucht hätte, die sie hätten zurückreißen müssen, schaffte allein der Klang dieser Stimme, als Siv sie erkannte.


    Sie ließ von Matho ab und sah hoch, und der Ausdruck auf Corvinus’ Gesicht war von einer Art, die sie unwillkürlich einen Schritt zurückgehen ließ. Während sie langsam begriff, was gerade passiert war, erwiderte sie unverwandt seinen Blick, in dem die Enttäuschung mit jedem Augenblick nur größer zu werden schien – es fehlte nicht viel, und sie hätte sich gewunden darunter wie ein Hund, der von seinem Herrchen geschimpft wird. Siv hatte sich unter Kontrolle, aber der Schmerz in ihr gewann in diesem Augenblick die Oberhand. Corvinus wirkte so enttäuscht. So unnahbar. Zugleich schien er etwas von Endgültigkeit auszustrahlen, zumindest kam es Siv so vor. Und seine Worte schienen das nur zu bestätigen. Sie sollte gehen. Er wollte sie nicht sehen, wollte nicht hören, was sie zu sagen hatte, wollte nichts von ihr wissen. Der Ausdruck in ihren Augen bekam etwas Flehendes. "Corvinus…" Es kam selten vor, dass sie ihn direkt ansprach, wesentlich seltener, als die anderen Sklaven es taten – normalerweise umging sie es immer, wenn irgend möglich, nannte ihn weder beim Namen noch Herr. Dieses Mal war einer dieser seltenen Momente. "Corvinus, bitte. Nicht schecke weg mich. Ich will erklären, ich kann… kann sagen, was gesein, will sagen, was gesein. Bitte…"

    Siv riss die Tür auf, und die Worte, die sie aufschnappte, rauschten so an ihr vorbei, dass sie zuerst gar nicht realisierte, was Matho da genau gesagt hatte. Zu gefangen war sie von Corvinus’ Blick, der den ihren festzuhalten schien und nichts von dem widerspiegelte, was sie sich erhofft hatte, wenigstens für den ersten Moment des Wiedersehens. Keine Freude, nicht einmal die Andeutung eines Lächelns. Nicht einmal die Andeutung einer Frage. Stattdessen nur Ärger und das, was sie so gefürchtet hatte – Enttäuschung. Und der Maiordomus war gerade munter dabei zu erzählen, was passiert war, aus seiner Sicht, obwohl er sich nie die Mühe gemacht hatte, mit ihr zu reden, aber bevor sie etwas sagen – oder die wahre Bedeutung dessen, was Matho gerade erzählte, realisieren – konnte, kam Sofia heran und schnauzte sie unwillig an. Siv starrte sie für einen Moment an, sprachlos, verwirrt, nicht weil die Griechin überhaupt etwas sagte, sondern weil sie in diesem Moment gar nicht damit gerechnet hatte, und so durcheinander, dass sie gar nicht mehr wusste, wie sie reagieren sollte. Und sie kam auch gar nicht dazu, wieder ihre Gedanken einigermaßen zu sammeln, denn bei Sofias Worten traute sie ihren Ohren nicht. Haust du undankbar ab… Woher wusste Sofia das? Sie waren gerade erst angekommen, keiner hatte einen Ton gesagt, keiner hätte einen Ton gesagt, Fhionn nicht und Hektor, und Merit schon gleich gar nicht, außer Matho, und der war doch… Wie ein Schlag traf es Siv, als sie jetzt, endlich, begriff, was der Maiordomus zu Corvinus gesagt hatte. Schrieb. Schreiben. Er hatte Corvinus geschrieben.


    Fassungslos drehte sie ihren Kopf wieder zu den beiden Männern im Zimmer. Corvinus sah sie unverwandt an, während er Matho die Anweisung gab, die Tür wieder zu schließen – die dieser unverzüglich befolgte, dieses Mal mit einem noch hämischeren Grinsen. Die Germanin stand unterdessen für einen Augenblick da und rührte sich gar nicht. Matho hatte geschrieben. Hatte Corvinus geschrieben, was sie getan hatte. Vor ihrem inneren Auge sah sie die einzige Chance zerbrechen, die sie gehabt hatte. Matho war ihr nicht nur zuvorgekommen, er war ihr um Wochen zuvorgekommen – und Corvinus hatte Zeit genug gehabt, sich eine Meinung zu bilden über sie. Zeit genug, sich eine Strafe zu überlegen. Zeit genug, um ihre Seite vielleicht gar nicht mehr hören zu wollen. Immerhin war sie ja nur eine Sklavin, eine, die sein Vertrauen missbraucht hatte. Siv starrte Corvinus an, hörte innerlich wieder, was er über Merit gesagt hatte, und auf ihrem Gesicht wechselten sich die unterschiedlichsten Emotionen ab – Schmerz, Trotz, Angst und Wut, alles bunt durcheinander. Dann wurde ihr Blick abgelenkt von der Tür, die sich zu bewegen begann, und blieb schließlich an Matho hängen, der ihr nach wie vor entgegen grinste. Und Siv sah rot. Matho war schuld – nicht daran, dass sie geflohen war und was es für Konsequenzen haben würde, das hatte sie sich selbst zuzuschreiben und sie stand auch dazu, aber Matho war schuld, dass Corvinus ihr keine Chance geben würde. Das einzige, was sie gewollt hatte, wofür sie auch weitere Wochen im Keller in Kauf nehmen würde, hatte er geschafft, ihr zu nehmen. Mit einem Wutschrei stürzte sie sich auf den Maiordomus und versetzte ihm mit ihrer Rechten einen Haken, der seinen Kopf zur Seite fliegen ließ. "Du Mistkerl! Hel soll dich holen, die Thursen sollen dich mit Geschwüren übersäen, du verdammter Drecksack! Ursus hat mir versprochen, dass ich es ihm erzählen kann, ich wollte es ihm sagen, ich wollte es erklären, ich hätte es gekonnt…" Bevor er sich fassen konnte, war sie bei ihm und versetzte ihm einen Tritt mit dem Fuß, während sie weiter auf ihn einschrie und ihn mit den derbsten Beleidigungen überschüttete. Dass sie inzwischen die Aufmerksamkeit der Sklaven draußen im Atrium erregten und mehrere zu ihnen kamen, entging ihr komplett. Sie konzentrierte sich nur auf Matho, der ihr in diesem Moment als Ursache allen Übels erschien. Dieser begann sich zu wehren, aber obwohl er größer und stärker war als sie, hatte sie doch das Element der Überraschung auf ihrer Seite, und die Wut – und die Angst vor Corvinus’ Reaktion – setzte ungeahnte Kräfte in ihr frei, und Matho stolperte rückwärts und verlor den Halt, und Siv setzte ihm erneut nach.

    Matho hatte sich Zeit gelassen, und als Sivs Fesseln endlich gelöst waren, waren schon die meisten der aurelischen Sklaven hinausgelaufen und hatten sie empfangen. Sie rieb sich das Handgelenk und verzog das Gesicht, als ihr Rücken und ihre Knie protestierten, kaum dass sie sie gestreckt hatte. Ihr Blick huschte über die Menschen, aber Corvinus konnte sie noch nicht entdecken, und so blieb sie für einen Moment etwas ratlos neben dem Karren stehen – bevor sie dann mit den anderen begann, die Sachen ins Atrium zu bringen. Jedes Mal, wenn sie begrüßt wurde, zwang sie sich zu einem Lächeln und ignorierte die seltsamen Blicke genauso wie die Fragen wegen ihres Aussehens, aber die Nervosität wurde mit jedem Augenblick größer, in dem Corvinus auf sich warten ließ. Es fiel ihr immer schwerer, sich selbst zu beherrschen, und als Brix sie lachend auf Germanisch begrüßte, musste sie sich zusammenreißen, um ihn nicht anzuschnauzen.


    Als Corvinus schließlich das Atrium betrat, fiel es Siv zunächst gar nicht auf, weil sie gerade eines der letzten Gepäckstücke hineinbrachte und bei den anderen verstaute. Erst als sie sich herumdrehte, bemerkte sie ihn, und für einen Moment erstarrte sie. Sogar den Atem hielt sie an, und ihr Kopf war wie leergefegt. Sie folgte ihm mit ihren Blicken, wie er durch die Menge ging, wie er Fhionn und Hektor zu begrüßen schien, aber sie schien er nicht zu sehen. Stattdessen ging er schnurstracks auf Matho zu, und kaum einen Moment später drehte er sich wieder um, wieder ohne einen Blick in ihre Richtung zu werfen. Matho dagegen sah zu ihr und grinste sie auf diese bestimmte Art an, die sie vor allem in den letzten Wochen so gut kennen gelernt hatte, um dann Corvinus zu folgen. Erst in diesem Moment erwachte Siv aus ihrer Starre und setzte den beiden hinterher. "Wartet! Hey! Wartet! Warte!" Sie wich Alexandros aus und Dhina, schlängelte sich durch die Menge, sprang über eine Kiste, und vielleicht hätte sie die zwei noch rechtzeitig erwischt, wenn Sofia ihr nicht im Weg gewesen wäre. Die beiden prallten zusammen, stolperten, Soffchen hielt sich an Siv fest, und dann landeten beide auf dem Boden. Ohne auf die Griechin zu achten, sprang Siv wieder hoch und hetzte weiter, aber in diesem Moment schloss sich bereits die Tür hinter Matho. Und die Germanin blieb abrupt stehen.


    Wieder wurde ihr Kopf leer. Was sollte sie jetzt tun? Sie war überzeugt davon, wenn es überhaupt eine Chance gab, dass Corvinus verstand, wirklich verstand, was passiert war, dann wenn sie zuerst mit ihm sprach. Sie hatte gewusst, dass Matho das nicht gepasst hatte, aber sie hatte gedacht, er würde Ursus’ Wort respektieren, und der war deutlich gewesen. Ihre Hand glitt in die Tasche und krampfte sich um den Brief, zerknitterte ihn, während in ihrem Kopf die Gedanken zu rasen begannen. Warum hatte Corvinus Matho sofort mitgenommen? War irgendetwas passiert, hier? Und warum hatte er sie keines Blickes gewürdigt? Hatte er das bewusst getan? Sie wusste es nicht, und sie konnte auch nicht wirklich einen klaren Gedanken fassen, aber sie wusste, dass es mit jedem Augenblick, den Matho alleine Zeit hatte, mit Corvinus zu reden, schwieriger wurde für sie. Wie um alles in der Welt war es Matho überhaupt gelungen, doch die Oberhand zu behalten? An diesem Punkt angelangt, nur wenige Augenblicke nachdem sie stehen geblieben war, begann Sivs Temperament wieder zu brodeln, und ohne weiter nachzudenken legte sie die letzten Schritte zurück und riss die Tür auf, die sich kurz zuvor geschlossen hatte.

    Die Reise war lang gewesen, und vor allem für Siv beschwerlich. Sie hatte buchstäblich die gesamte Zeit, die sie unterwegs gewesen waren, auf dem Wagen verbracht, eingekeilt zwischen den ganzen Sachen, die sie mitgenommen hatten. Es war kaum genug Platz da gewesen, dass sie ihre Füße hätte ausstrecken können, und ihr einziger Trost war Idolum, der recht lustlos hinter dem Karren, an dem er angebunden war, hertrottete – den sie so aber immerhin die ganze Zeit sehen konnte. Nur wenn sie bei einem Gasthaus Halt gemacht hatten oder sie wirklich ein dringendes Bedürfnis verspürte, wurde sie von dem Eisenring losgemacht, den Matho auf der Ladefläche des Karrens hatte anbringen lassen. Und natürlich, wenn es darum irgendwelche unangenehmen Arbeiten zu verrichten – Latrinen ausheben zum Beispiel, wenn sie kein Gasthaus rechtzeitig vor der Dunkelheit erreichten und draußen übernachten mussten. Und jedes Mal war sie so versteift, dass ihr alles weh tat und sie zuerst immer nur gebückt humpeln konnte, bis sich ihre Glieder wieder einigermaßen gestreckt und an aufrechte Haltung gewöhnt hatten. Zum Schlafen selbst musste sie allerdings wieder auf den Karren. Siv hatte sich zu Beginn der Reise noch gegen diese Maßnahme gewehrt, und sie wusste, dass die anderen eigentlich auf ihrer Seite waren, aber Matho hatte nun mal das Sagen, und er hatte ihre Gegenwehr nur als zusätzliches Argument genutzt, warum er sie unter keinen Umständen losmachen durfte. Natürlich hatte er die Maßnahmen auch nicht gelockert, als sie ihren Widerstand nach und nach aufgegeben hatte. Darüber hinaus hatte sie nur das allernötigste zum Essen bekommen – nur Wasser bekam sie nach einer im wahrsten Sinne des Wortes Durststrecke zu Beginn der Reise genug. Matho wusste sehr genau, dass er sie halbwegs gesund und bei Kräften in Rom abliefern musste, wollte er nicht Gefahr laufen, dass er unter Beschuss geriet. Aber es gab noch andere Methoden, seine Machtstellung zu unterstreichen – eine weitere davon war, dass Siv und die anderen nur selten miteinander reden durften. Woran sie sich zuerst nicht wirklich gehalten hatten, bis Matho mit kleineren Strafaktionen für die anderen – zum Beispiel eine Zeitlang hinter dem Karren herlaufen müssen anstatt zu reiten – deutlich gemacht hatte, dass es ihm ernst war. Und Siv hatte niemanden in Schwierigkeiten bringen wollen, also hatten sie die Gespräche schon bald auf die Momente beschränkt, in denen sie sich einigermaßen sicher sein konnten.


    So war Siv, als sie vor der Villa Aurelia ankamen, zwar, diesmal deutlich, schmaler geworden, und sie wirkte müde – im Grunde befand sie sich tatsächlich in einem Zustand dauerhafter Erschöpfung, sowohl körperlich als auch geistig, den je wieder loszuwerden sie die Hoffnung schon fast aufgegeben hatte. Und nun waren sie da, endlich. Die ganze Reise über hatte sie sich Gedanken gemacht, hatte geschwankt, hatte Bilder im Kopf gehabt von diesem Moment, und die Szenen reichten von absolutem Verständnis für sie bis hin zum sofortigen Verkauf an den nächstbesten, oder eher nächstschlechtesten, Sklaventreiber. Sivs Magen zog sich zusammen, jetzt, wo der Moment des Wiedersehens so unmittelbar bevorstand. Ihre Finger schlossen sich um den Löwen, den sie in seinem Arbeitszimmer entdeckt hatte. Irgendwie war der Briefbeschwerer wieder bei den Sachen gelandet, die irgendwo herumstanden und nicht mitgenommen werden würden, aber Siv hatte das Bedürfnis gehabt, ihn mitzunehmen, also hatte sie ihn kurzerhand eingesteckt. Darüber hatte sie auch gegrübelt. Was Corvinus tatsächlich für sie bedeutete. Ob sie sich wirklich in ihn verliebt hatte, ob sie ihn liebte – und wenn ja, was eigentlich, wenn sie wirklich ehrlich zu sich war, keiner Überlegung mehr bedurfte, was es bedeutete. Was sie tun sollte. Ob sie es ihm sagen sollte. Wie sie damit umgehen sollte. Sie wusste es einfach nicht, zu verwirrend war nach wie vor allein die Tatsache, dass sie, ausgerechnet sie!, schließlich doch Liebe empfand, obwohl sie das immer als abwegig abgetan hatte. Und dann das Gefühl selbst… manchmal war es einfach und so klar, dass es keine Rolle spielte, was ihr alles an Problemen bevorstand – alles, was sie wollte, war für ihn da zu sein. Und dann wieder war es so verwirrend, und es tat weh, schon allein die Vorstellung, dass er nicht verstehen würde, die in ihren Augen so abwegig nicht war. Und sie würde das Geständnis nicht hinauszögern können, denn so wie sie aussah, allein schon die Tatsache, dass sie nicht auf Idolum saß, würde Corvinus zeigen, dass irgendetwas nicht stimmte. Sie wollte es gar nicht hinauszögern, aber sie sehnte sich nach einem freundlichen Wort, einem liebevollen Blick von ihm, bevor sie ihm erzählte, was passiert war. Nur kurz… Irgendwo zwischen banger Erwartung und vager Hoffnung wartete sie, bis Matho sie von der Fessel gelöst hatte, bevor sie sich steif erhob, von dem Karren hinunter kletterte und versuchte, wieder gelenkig zu werden – während sie gleichzeitig die ganze Zeit nach Corvinus Ausschau hielt.

    Siv machte eine Bewegung, die sowohl als Achselzucken als auch als Nicken ausgelegt werden konnte, aber sie wusste nicht recht, was sie antworten sollte. Dass sie offen und ehrlich sein würde, schon allein weil für sie nichts anderes in Frage kam – wenn ihr nicht gerade ihr Temperament dazwischen funkte? Und selbst dann log sie nicht, sondern zeigte sich nur störrisch und verbockt. Aber: sie hatte versucht zu fliehen. Wieso sollte Ursus noch davon ausgehen, dass sie aufrichtig war? Und: sie hatte sich gewehrt, war stur gewesen, hatte jede Zusammenarbeit mit den Soldaten verweigert – aus welchen Gründen das geschehen war war letztlich egal. Wieso sollte er ihr also glauben, wenn sie ihm sagte, dass es ihr leid tat? Also reagierte sie ziemlich einsilbig – dass ihr Verhalten auffallen musste, war ihr irgendwie schon klar. Dass Merit-Amun inzwischen besorgt war, fiel Siv dagegen nicht wirklich auf. "Ja. Ich werde leben… sehen… erleben. Was er tut." Sie presste kurz die Lippen aufeinander, dann, als sie Ursus’ Hand auf ihrem Arm spürte, sah sie hoch und ihn an, und zum ersten Mal flog, in Erwiderung zu seinem, ein zaghaftes Lächeln über ihre Züge. "Ich aufpasse – und sein warm. Und… danke. Noch mal. Für geben Brief, an mich, für geben Corvinus."


    Einen Moment noch blieben sie beieinander stehen, und Siv genoss den kurzen Moment der Berührung, zeigte er ihr doch, dass zumindest Ursus… nun ja, vielleicht nicht verstand, immerhin wusste er auch ja gar nichts von dem, was sie umgetrieben hatte, sie hatte ihm ja nichts erklärt… aber dass er doch irgendwie Verständnis hatte, und dass er ihr nicht wirklich etwas nachtrug. In diesem Moment ahnte Siv, wieso Cadhla sich in diesen Mann verliebt hatte. Für einen Augenblick noch lächelte sie ihm zu, dann trat sie einen Schritt zurück, zu den anderen, lauschte Ursus’ kurzer Ansprache, sah Matho geschäftig hin und her eilen, sah ihn sich mit Ursus kurz unterhalten, zum letzten Mal… Und konnte es gar nicht glauben, als er ihr bedeutete, zu Idolum zu gehen und aufzusitzen. Für einen Moment verriet sie sich, einfach durch die großen Augen, die sie machte – aber das hämische Grinsen, das Matho ihr in einem unbeobachteten Augenblick zuwarf, sagte ihr deutlich: Freu dich nicht zu früh. Und ein Blick auf Ursus sagte ihr auch, warum Matho sie vorerst reiten ließ. Die Germanin biss sich auf die kaum verheilte Unterlippe, aber sie beschloss nichts zu sagen – so lange sie die Möglichkeit hatte, auf Idolum zu reiten, wollte sie sie nutzen. Sie verabschiedete sich von Caelyn und Sertorio, nickte Ursus noch einmal zu und schwang sich dann auf den Hengst. Der Karren setzte sich in Bewegung, die Reiter folgten, und schon bald hatten sie die Villa hinter sich gelassen und machten sich auf den Weg, Mogontiacum – und irgendwann Germanien – zu verlassen.


    Sim-Off:

    Auch umgemeldet :)

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    „Nein, du, sie hat gar nichts gesagt, also ich glaube dass sie geschimpft hat, mei das hätt ich wahrscheinlich auch, und wir kennen ja Siv… Aber mehr weiß ich auch nicht. Ich bin ja nur gespannt was jetzt noch passieren wird, mit Siv vor allem, und wie lange wir noch hier bleiben!“ Alexandros beugte sich vor und drückte sowohl Caelyn als auch Fhionn kurz an sich, in Verbindung mit einem gehauchten Küsschen auf die linke Wange, dann wedelte er schon aufgeregt mit einer Hand durch die Luft. „Mei des tut mir jetzt vei furchtbar leid, aber ich muss weiter – Matho wird keine gute Laune haben, oder vielleicht doch, jetzt kann er sich ja wieder aufspielen, aber ich glaube nicht, dass sich das für uns positiv auswirken wird, wie auch immer, ich hab noch sooo viel zu erledigen… Wir sehen uns!“ Mit diesen Worten verschwand der Grieche um die nächste Ecke, nicht ohne noch einmal die rechte Hand zu heben und zu winken.


    Sim-Off:

    Wie bei Merit: ich werd mich heut noch ummelden. Viel Spaß noch beim Posten hier und bis bald in Rom :)

    Die Zeit, die sie im Keller verbrachte, verging schleppend. Irgendwie versuchte Siv, sich abzulenken, vor allem in den Stunden, in denen oben, in einer für sie scheinbar anderen Welt, die Sonne schien, was sie nur daran sagen konnte, dass niemand kam. Und obwohl sie des Nachts Besuch bekam, fiel Siv es schwer einzuschätzen, wie die Zeit verging. Sie schlief, sie tastete sich durch den Keller, wenn sie den Mut aufbrachte, sie rannte durch den Keller, wenn die Panik sie wieder überwältigte, und sie saß oder lag einfach nur zusammengekrümmt da, wenn sie die Kraft verließ. Schlafen konnte sie nur schlecht – zum einen war da der harte Steinboden, der schon nach kurzer Zeit dazu führte, dass ihr alles weh tat, und zwar so sehr, dass sie meistens davon wieder aufwachte. Zum anderen gab es die Grübeleien, die sie fest im Griff hatten. So viel schwirrte durch ihren Kopf, zu viel, und wenn sie endlich völlig erschöpft einschlief, dann verfolgten sie die Gedanken bis in ihre Träume hinein, die in diesen Tagen, in der Dunkelheit, nie erholsame Bilder für sie bereit hielten.


    ~~~


    Sie liegt neben ihm, in strömendem Regen. Eine Frage schwebt durch ihren Kopf… Und du? Hat er geantwortet? Hat sie sie überhaupt gestellt? Sie weiß es nicht, vermag sich nicht zu erinnern. Sie schließt die Augen, genießt die warmen Tropfen, die auf sie fallen, die sie einhüllen, jeden Laut dämpfen. Fühlt sich geborgen, in seinem Arm.


    Von einem Moment zum anderen ist der Regen eiskalt und stechend, prallt winzigen Hagelkörnern gleich von ihrer Haut ab und hinterlässt kleine, brennende Male. Erschrocken springt sie auf, hält Ausschau nach einem Unterschlupf, aber die Wiese ist verschwunden, der Wald, der See, die Rauchsäulen am Himmel. Um sie herum ist nur noch Dunkelheit. Sie dreht sich zu ihm um, eher verwirrt als verängstigt, aber er ist ebenfalls nicht mehr da. Verschwunden. Fort. Er hat sie allein gelassen. Allein in dieser Finsternis. Erneut dreht sie sich um, hastig diesmal, kann nur schwer einen ersten Anflug von Panik unterdrücken. Sie weiß nicht, was sie tun soll – sie will losgehen, nach etwas Bekanntem suchen, will nicht an diesem Ort bleiben. Aber was wenn er zurückkommt, und sie ist nicht mehr da? Was wenn sie sich nicht mehr finden? Die Dunkelheit schließt sich immer mehr um sie, dringt auf sie ein, scheint ihr die Luft zum Atmen abzuschnüren, und schließlich hält sie es nicht mehr aus, sie geht los, gezwungen langsam zuerst, aber schon nach wenigen Schritten läuft sie, rennt schließlich.


    Irgendwann bleibt sie wieder stehen. Sie hat nichts gefunden, was ihr helfen könnte, keinen Ausweg aus der Dunkelheit, keine Lichtquelle, nichts. Sie hat ihn nicht gefunden. Warum ist er gegangen? Sie spürt, dass es ihre Schuld ist, dass sie etwas getan hat, dass sie ihn enttäuscht hat, aber dennoch fragt sie sich beinahe verzweifelt, warum er fort ist. Warum er sie nicht hat erklären lassen, denn dass da eine Erklärung ist, das spürt sie ebenso, wenn er nur gewillt ist, sie zu hören, sie zu verstehen. Hoffnungslos steht sie in der Finsternis, lässt den Kopf sinken, und das Gefühl der Reue, der Einsamkeit, der Sehnsucht nach ihm zerreißt ihr schier das Herz. Sie weiß nicht, wie lange sie so dasteht, als plötzlich eine Stimme ertönt, seine Stimme. "Warum, Siv. Warum. Wie konntest du nur." Leise sind die Worte, und der Vorwurf, der darin klingt, trifft sie stärker als ein Hieb. Dennoch hebt sie den Kopf, sieht sich nach ihm um, sucht nach ihm – aber die Finsternis ist undurchdringlich. Sie vermag ihn nicht zu sehen, und sie kann noch nicht einmal genau sagen, aus welcher Richtung die Stimme gekommen ist, weil die Schwärze alles einhüllt und sogar die Geräusche zu verzerren scheint. Sie hebt die Hände, tastet nach ihm, macht zögernd ein paar Schritte, aber schon bald bleibt sie wieder stehen, aus Angst, sich von ihm fortzubewegen. Tränen sammeln sich in ihren Augen, ziehen selbst in der Dunkelheit sacht glitzernde Spuren über ihre Wangen. "Wo bist du?" Ihre Hände sind immer noch ausgestreckt, fassen aber nur ins Leere. "Lass mich nicht allein", wispert sie, flehend, aber sie weiß nicht, ob ihre Stimme bis zu ihm trägt. Die Worte haben ihren Mund verlassen, aber je mehr sie spricht, desto mehr hat sie den Eindruck, dass die Finsternis um sie herum die Worte aufsaugt, abfängt, sie nicht zu ihm dringen lässt. "Es tut mir leid. Es tut mir so leid…"


    Die Dunkelheit lichtet sich nicht, aber sie bekommt eine andere Qualität. Partikel verschieben sich, lassen zu, dass ihre Augen sich an die Finsternis gewöhnen und einen schemenhaften Schatten erkennen. Sie wendet sich in diese Richtung, ohne zu wissen, ob es die richtige ist, aber sie bewegt sich nicht, scheint nicht in der Lage dazu zu sein. Noch mehr scheint sich die Dunkelheit zu verändern, ohne an eigentlicher Dunkelheit zu verlieren, aber sie wird weniger greifbar, weniger stofflich, und langsam scheint aus dem Schatten eine Gestalt zu werden – eine Gestalt, die kalt wirkt, abweisend. Die keine Regung zeigt. Nichts. Nur Kälte kommt ihr entgegen, so stark, dass sie fast meint, sie wie einen eisigen Windhauch im Gesicht zu spüren. Ihre Augen weiten sich um eine Winzigkeit, sie starrt ihn an, den sie immer noch nicht im eigentlichen Sinn sehen kann, vielmehr spürt sie ihn, spürt seine ablehnende Haltung, die Kälte, den Zorn, die seiner Gestalt vage Umrisse verleihen. Unwillkürlich prallt sie einen Schritt zurück, als seine Stimme erneut ertönt, laut, scharf, anklagend. "Dir tut es leid? DIR?" Sie wimmert, zuckt unter jedem seiner Worte zusammen wie unter einem Hieb. "Und das soll ich dir glauben? Nachdem du mich so hintergangen hast?" So sehr sie es möchte, aber sie kann nicht mehr vermeiden, dass ihr Tränen über die Wangen laufen. "Es tut mir leid. Wirklich, es… tut mir so leid…", stammelt sie. Es scheint, als ob sie nicht fähig wäre, etwas anderes zu sagen als das. Immer noch weiß sie nicht, was sie tatsächlich getan hat, ahnt es nur, ahnt dass sie enttäuscht hat, zutiefst enttäuscht. Und genauso hat sie nur eine Ahnung, dass es etwas gibt, was sie sagen könnte – aber ahnt noch nicht einmal was es ist. Jetzt, in diesem Moment, gibt es nichts, was sie sagen könnte. Kraftlos und mutlos sinkt sie gen Boden, streckt erneut ihre Hand nach ihm aus, ohne ihn auch nur berühren zu können. "Bitte… bleib bei mir… es tut mir doch leid…" Ihre Worte werden wieder zu einem Wispern, dann weiten sich ihre Augen erneut, diesmal sichtbar, als die Dunkelheit sich erneut wandelt, sich wieder wie ein Tuch über sie legt. "Marcus?" wispert sie, dann ein leiser Aufschrei: "Marcus!" Sie steht auf, ohne ihre übliche katzenhafte Geschmeidigkeit, aber nichtsdestotrotz schnell – aber da scheint niemand mehr zu sein. Wieder tasten ihre Hände, suchen, aber die Finsternis verdichtet sich immer mehr um sie, immer mehr, und die Panik nimmt wieder zu, wirft sich wie ein wildes Tier gegen die Fesseln, die sie ihm angelegt hat. "Oh bitte…" Ein Schluchzen entringt sich ihrer Kehle, dann sprengt die Panik in ihr die Ketten, und sie läuft los, rennt schon bald, rennt und rennt und rennt, aber egal wohin sie rennt, die Dunkelheit scheint überall.


    ~~~


    Unruhig warf Siv sich auf dem harten Boden hin und her. Leise, wimmernde Laute kamen über ihre Lippen, und nur langsam tauchte sie auf aus den Tiefen des Traums, der sie gefangen hielt. Löste sich schließlich aus diesen Fängen, nur um in genauso tiefer Dunkelheit zu erwachen, so dass sie zunächst fast glaubte, doch noch zu träumen. Für einen Moment klammerte sie sich sogar an den Gedanken, dass sie noch träumte, denn das hätte bedeutet, dass das Erwachen noch bevor stand, und damit die Hoffnung bestand, dass sie in einem weichen Bett lag, und neben sich den Mann spüren würde, den sie einfach nicht mehr aus ihrem Kopf und ihrem Herz bekam, und der sie in den Arm nehmen würde, wenn sie nun mit wild klopfendem Herzen aus diesem Alptraum erwachte… Sie wusste, dass es nur Wunschdenken war. Dennoch drehte sie sich auf den Rücken und starrte in die Dunkelheit über sich, ohne sich zu rühren, ohne sich zu regen, und gab sich dieser Vorstellung hin. Aber es dauerte nicht lange, und auch in ihrem Tagtraum nahm Corvinus’ Gesicht vorwurfsvolle Züge an.

    Siv blieb, entgegen ihrer sonstigen Art, an der Tür stehen und wartete darauf, dass jemand auf sie aufmerksam wurde und zu ihr kam, anstatt sich selbst einzumischen. Ihr fiel das für sie untypische Verhalten durchaus auf, und sie wusste nicht so recht, warum sie das tat – aber einfach hinzugehen und sich dazu zu gesellen schien irgendwie falsch zu sein. Selbst Merit, die sie in den letzten Tagen noch am häufigsten gesehen hatte, schien ihr auf eine bestimmte Art… fremd zu sein, hier im Tageslicht. Sie blinzelte kurz in die Sonne, aber sie hatte nicht lange Gelegenheit, sich seltsam und ausgeschlossen zu fühlen, denn schon sprang die Ägypterin auf sie zu, während Alexandros kurz zu ihr herüber grinste und dann weiter Sachen verstaute. Sie lächelte der kleineren Sklavin zu und nickte, immer noch etwas zögernd. "Ja. Gut. Was auch immer gut heißen mag", seufzte sie, etwas leiser. Wirklich gut im eigentlichen Sinn ging es ihr nicht. Abgesehen von den Schuldgefühlen, der Angst und ihren Gedanken, die nur zu oft um Corvinus und seine Reaktion schwirrten, fühlte sie sich körperlich einfach nicht gut. Ihre Augen schmerzten nach wie vor, die Blessuren von der Flucht waren noch nicht verheilt, ihr Körper schmerzte, weil es im Keller keine Schlafgelegenheit gegeben hatte außer dem Steinboden – und so sehr Siv auch früher daran gewöhnt gewesen auf, auf dem Grund zu schlafen, zum einen war Waldboden, eine Wiese oder gar festgestampfte Erde immer noch etwas anderes als harter Stein, und zum anderen war sie es eben nicht mehr wirklich gewöhnt. Sie hatte Monate in einem gutgestellten römischen Haushalt verbracht, in einem Bett geschlafen, oder, wenn sie im Garten gewesen war, zumindest mit einer dicken Decke.


    Die Germanin streckte sich etwas und ließ ihre Wirbel knacken. Gut war relativ. Gemessen an den letzten Tagen genügten allein schon die frische Luft und das Licht, um ihre Sinne zu beleben – da hatte Merit-Amun Recht. Also lächelte sie, um ihre letzten Worte – und vor allem den Tonfall – zu entkräften, und nickte. "Luft und Licht, das ist gut, ja. Und sein, bleiben können draußen, weil Reise." Sie wusste nicht, ob und wenn ja was Matho sich für sie ausgedacht hatte, aber es konnte einfach nicht so schlimm werden wie die Zeit im Keller. Mit etwas Vergleichbarem würde sie erst wieder zumindest rechnen müssen, wenn sie in Rom angekommen waren. Sie wollte die Ägypterin gerade fragen, wie weit die Vorbereitungen waren, als Ursus sie ansprach, und mit einem erneuten, kurzen Lächeln zu Merit machte Siv ein paar Schritte auf den Aurelier zu. Sie fror im Moment nicht, sondern fühlte sich eher unwohl, aber sie hätte sich wärmer angezogen – nur, viel Auswahl hatte es im Balneum nicht gegeben, und ihre Sachen waren wohl schon verstaut. "Nicht krank, nein. Aber ich anziehe Umhang, noch. Und gebt Decken." Sie hatte gerade Alexandros mit einem Stapel vorbei huschen sehen. Mit regungslosem Gesicht sah sie zu, wie Ursus Matho einen Beutel mit Geld überreichte und sich dann wieder an sie wandte. Siv sah sich kurz nach Matho um – so weit sie wusste, hatte er keine Ahnung davon, dass Caelyn den Brief vorbei gebracht und sie ihn über Merit bekommen hatte, und sie wollte vermeiden, dass das herauskam, denn dann würde zumindest die Ägypterin Ärger bekommen. Aber der Maiordomus war, nachdem er sich für die zusätzliche Reiseunterstützung bedankt hatte, gerade ins Haus verschwunden, hinter Alexandros her, den er offenbar zusammenstauchen wollte, und hatte Ursus’ Frage nicht einmal mitbekommen. Siv wandte sich endgültig wieder an Ursus. "Ja, der Brief ich habe." Sie zog den versiegelten Papyrus kurz aus der Seitentasche der Tunika, um ihn Ursus zu zeigen.

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    Die beiden Sklavinnen mochten vielleicht zunächst beim Geräusch der Schritte aufschrecken, aber schon nach wenigen Augenblicken musste ihnen einfach klar werden, dass kein Grund zur Besorgnis bestand – es sei denn der Maiordomus wäre auf einmal dazu übergegangen, mit kleinen Trippelschritten durch die Gänge zu stolzieren. Schon bald bog Alexandros um den Knick, den der Gang nicht weit von den beiden Sklavinnen machte, blieb für einen Moment mit Überraschung auf den Zügen stehen, als er sie erblickte – um dann die Hände zusammenzuschlagen und auf sie zuzueilen, mit einem Gesichtsausdruck, der irgendwo zwischen Freude, auf die beiden getroffen zu sein, Betroffenheit über das, was er soeben in Erfahrung gebracht hatte, und dringendem Mitteilungsbedürfnis, was aus Letztgenanntem resultierte und ersteres noch verstärkte. „Mädels!“ rief er aus, als er die beiden erreicht hatte. „Du, ich muss euch vei unbedingt was erzähln, wissts ihr schon das Neueste?“ Sowohl Gesten als auch Mimik unterstrichen noch die Aufregung, die der Grieche versprühte. „Mei, wissts, ich geh so meiner Wege, so wie immer halt, wollt ein paar Sachen verstauen, die nicht mitgenommen werden müssen, und da bin ich halt am Atrium vorbei gekommen, und wissts ihr was? Da ist grad der Ursus reingekommen, also gesehen hab ich ihn nicht, leider, der ist ja schon ein Schnuckelchen, aber ich hab ihn schreien hören, nach Matho, in einer Laaautstärke sag ich euch, da hab ich mir gedacht, mei, da bleibst lieber in Deckung… Jedenfalls, der Matho ist natürlich gekommen, zum Glück aus einer anderen Richtung, darum hat mich keiner gesehen, und was hör ich da? Siv. Die Siv, die hat er zurückgebracht, der Ursus, UND er hat gesagt, sie wär abgehauen. Und für den Matho war das natürlich ein gefundenes Fressen, des könnts euch ja vorstellen, der kann ja keinen von uns leiden, vor allem keinen von euch Frischlingen, die nicht schon Jahr und Tag bei den Aureliern sind… Was sagts ihr denn dazu, ich kann des noch gar nicht wirklich glauben!“

    Siv war an der untersten Treppenstufe stehen geblieben, aber nicht für lange – kaum war sie da, hatte Matho schon ihren Arm gepackt und zog sie die Stufen hoch. Sie biss einen Schmerzlaut zurück, war ihr Handgelenk doch nach wie vor von den Spuren der Fesseln gezeichnet, die die Soldaten ihr angelegt hatten, während gleichzeitig Tränen in ihre Augen schossen in der ungewohnten Helligkeit. Aber schon im nächsten Moment wurde sie abgelenkt von Matho, der sich über sie lustig machte. Mit einem Ruck versuchte Siv, die Tränen fortblinzelnd, sich aus Mathos Griff zu befreien – was natürlich erfolglos blieb. Selbst wenn die Germanin nicht die letzten acht Tage im Dunkeln und mit nur wenig Nahrung verbracht hätte, wäre der Maiordomus schlicht stärker gewesen als sie. Also gab sie es schnell wieder auf und fauchte stattdessen: "Ein Wunder wär’s, wenn du mal ein bisschen Verstand finden würdest in dem hohlen Ding auf deinen Schultern." Zornig setzte sie sich erneut für einen kurzen Moment zur Wehr, als Matho sie durch die Küche schubste, dann blieb sie stehen, als er sie losließ. "Ich stinkt, aber du, du bist ein Mistkerl, du bist… übel, Übelmensch, Dreck, das alles!" Am liebsten hätte sie vor ihm ausgespuckt, aber ihr Mund war viel zu trocken, als dass sie genug Spucke gehabt hätte, und so musste ihr feindseliger Blick reichen.


    Immer noch wütend starrte sie ihm einen Moment nach, als er die Küche verließ, dann drehte sie sich um und suchte nach etwas Essbarem, ohne etwas zu finden. Alles war bereits zusammengepackt, und so blieb ihr nur, zum Waschraum der Sklaven zu gehen, wo sie erst mal ausgiebig von dem frischen Wasser trank, das bereit stand. Ihre Augen schmerzten noch immer etwas, aber in dem Gang und im Balneum war das Licht nicht ganz so grell, und langsam gewöhnten sie sich daran, wieder vernünftig sehen zu können. Mit einem Seufzer entledigte sie sich anschließend ihrer Tunika und begann, sich zu waschen – einen der Zuber zu füllen, dafür hatte sie keine Zeit, genauso wenig dafür, etwas Wasser zu erwärmen. Matho war deutlich gewesen, und sie konnte sich lebhaft vorstellen, was er dazu sagen würde, wenn sie sich doch Zeit ließ. Und so wenig sie den Maiordomus ausstehen konnte, so gern sie ihre Grenzen bei ihm austestete, wusste sie doch seit ihrem ersten Aufeinandertreffen, dass er am längeren Hebel saß. Und sie wollte nicht riskieren, sich doch nicht waschen zu dürfen – oder auf dem Rückweg härter angepackt zu werden als ohnehin schon. Die Reise würde auch so lang genug werden. Siv seufzte erneut und zuckte gleich darauf zusammen, als das kalte Wasser ihre Haut berührte, fuhr aber fort, sich zu waschen. Der Rückweg… Rom. Sie war froh, endlich dem Keller und der Dunkelheit entkommen zu sein, aber sie wusste nicht, ob sie schnell in Rom ankommen wollte oder nicht. Sie wollte es hinter sich haben, aber gleichzeitig fürchtete sie sich vor dem Moment, in dem sie Corvinus würde gegenüber treten müssen. Kurz hielt sie inne, stützte sich mit beiden Händen auf der Waschschüssel ab und betrachtete ihr Gesicht in der sich bewegenden Wasseroberfläche. Sie war blass, blasser als gewöhnlich, ihr Gesicht schien etwas schmaler zu sein, und unter ihren Augen waren Ringe zu sehen, aber das deutlichste Anzeichen für die vergangenen Tage im Keller war das unruhige Flackern in ihren Augen. Abrupt schlug sie mit einer Hand ins Wasser und ließ ihr Spiegelbild damit regelrecht zerspringen, bevor sie sich nacheinander mehrere Hände voll Wasser ins Gesicht schöpfte und sich dann endgültig aufrichtete. Eine halbwegs passende Tunika war schnell gefunden in den Kisten, die herum standen, und sie kämmte sich schnell ihre nassen Haare, bevor sie alles wegräumte und verstaute, was sie benutzt hatte, und durch die Küche hindurch ins Atrium ging und schließlich vor die Tür trat, wo sie nicht nur Matho, Merit-Amun und Alexandros sah, sondern auch Ursus, Caelyn und Sertorio. Zögernd, mit zusammengepressten Zähnen, aber nahezu regungslosem Gesicht, blieb sie stehen, schlang die Arme um ihren Körper und wartete ab.

    Die Krähen schrein
    Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
    Bald wird es schnein, -
    Wohl dem, der jetzt noch - Heimat hat!

    Nun stehst du starr,
    Schaust rückwärts, ach! wie lange schon!
    Was bist du Narr
    Vor Winters in die Welt entflohn?

    Die Welt - ein Tor
    Zu tausend Wüsten stumm und kalt!
    Wer das verlor,
    Was du verlorst, macht nirgends Halt.

    Nun stehst du bleich,
    Zur Winter-Wanderschaft verflucht,
    Dem Rauche gleich,
    Der stets nach kältern Himmeln sucht.

    Flieg, Vogel, schnarr
    Dein Lied im Wüstenvogel-Ton! -
    Versteck, du Narr,
    Dein blutend Herz in Eis und Hohn!


    Die Krähen schrein
    Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
    Bald wird es schnein, -
    Weh dem, der keine Heimat hat!


    - Friedrich Nietzsche


    Als Merit-Amun gegangen war, war dumpfe Verzweiflung über Siv zusammengeschlagen. Das wenige, dunkelgraue Zwielicht, das durch die offene Tür gefallen war, war ausgesperrt worden in dem Augenblick, in dem die Ägypterin die Tür hinter sich zugezogen hatte, und das leise Geräusch, als sie den Riegel vorlegte, ließ die Germanin zusammenzucken. Einige Momente – sie wusste nicht wie lange – saß sie einfach nur da und starrte in die Dunkelheit, zehrte von der Erinnerung an die Begegnung gerade eben, an die Zuversicht, die Merit ausgestrahlt hatte, aber nur zu bald war die Wärme aufgebraucht, die sie mit sich gebracht hatte. Die Hände vor das Gesicht geschlagen, glitt Siv schließlich seitlich von der Kiste herab, auf der sie saß, bis sie auf dem Boden aufkam. Verharrte kurz in einer zusammengekauerten Stellung. Sank dann weiter, zur Seite, rollte sich zusammen, der Rücken gekrümmt, die Beine eng an den Körper gezogen, die Arme darum geschlungen, während ihr Gesicht nun von ihren Knien geborgen wurden. Heiße, aber stumme Tränen liefen über ihre Wangen. Sie war allein. Allein. Und sie würde es bleiben. Jede Chance, eines Tages wieder nach Hause zu können, zu ihrer Familie, ihren Brüdern, hatte sie sich verbaut – nie wieder würde sie die Möglichkeit zur Flucht bekommen, davon war sie überzeugt, mehr noch, sie würde Germanien nicht mehr wieder sehen, wenn sie es, nun zum zweiten Mal in ihrem Leben, erst verlassen hatte. Das allein wäre aber nicht so schlimm gewesen, wäre sie nicht auch davon überzeugt gewesen, dass sie sich jede Chance darauf verbaut hatte, in Rom ein Leben zu führen, mit dem sie zufrieden sein konnte. Sie war zufrieden gewesen mit ihrem Leben – sicher hatte sie ihre Probleme damit gehabt, Sklavin zu sein, aber alles in allem war es ein gutes Leben gewesen. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, dann wusste sie, dass sie auch zu Hause nicht alles hatte tun und lassen können, was sie wollte. Sie hatte es versucht, sicher – aber spätestens als sie verheiratet worden war, war auch für sie der Ernst des Lebens angebrochen. Sie hatte jede Freiheit genutzt, die ihr geblieben war, und das waren vergleichsweise viele gewesen, war Ragin doch vernarrt in sie gewesen. Aber sie hatte auch ihre Pflichten gehabt, und sie erfüllt – und sie wusste nur zu gut, dass Ragin ein wahrer Glücksfall für sie gewesen war, dass kaum ein anderer Mann ihr so viel Freiraum gelassen hätte. Sie gab es nicht gern zu, aber verglichen mit dem, was ihr zu Hause hätte widerfahren können, hatte ihr Leben in Rom ihr mehr Freiheiten geboten.


    Nein, sie gab es nicht gern zu, selbst jetzt noch nicht, wo sie es verspielt hatte. Aber das war ohnehin nur noch zweitrangig. Sie würde damit leben müssen, so einfach war das. Was ihr wirklich Schwierigkeiten machte, war etwas anderes, was sie sich noch viel weniger gern eingestand – welche Gefühle sie dem Mann entgegen brachte, dem sie das zu verdanken hatte. "Corvinus…" Ein leises Wispern war es nur, das über ihre Lippen kam, selbst für ihre eigenen Ohren kaum hörbar. Ich vertraue dir. Noch etwas enger zog sie die Beine an ihren Körper, noch etwas fester schlangen sich die Arme um ihre Knie. Ein leises Schluchzen drang aus ihrer Kehle. "Es tut mir leid…" Bilder wirbelten durch ihren Kopf, Bilder von gemeinsam Erlebtem – halb belustigte, halb verzweifelte Versuche, ihm ihre Sprache näher zu bringen; Scherben, die sich unter ihren festen, aber sanften Fingern aus winzigen Wunden lösten; gutmütiger Spott als einzige Reaktion auf ihre zahlreichen Ausbrüche, bereits am ersten Abend schon; stilles, gegenseitiges Verständnis, in einer mondhellen Nacht… Eine ihrer Hände löste sich etwas, wanderte an ihrem Knie vorbei zu ihrem Hals, wo ihre Finger nach dem Anhänger tasteten und ihn umschlossen. Wie hatte sie sich nur in ihn verlieben können. Sie hatte sich, im besten Fall, lustig gemacht über die Liebe, hatte immer weit von sich gewiesen, dass ihr das mal passieren könnte, hatte auch Cadhla gegenüber noch zugegeben, dass sie davon nichts wusste… Und auch nichts wissen wollte. Ihrem Vater hatte die Liebe nur weh getan, nie war er über den Tod ihrer Mutter weggekommen. Und sie, als einziges Mädchen, ihrer Mutter so ähnlich und zugleich das Kind, dessen Leben mit dem ihrer Mutter gemeinsam an einem hauchdünnen Faden gehangen hatte, hatte die Trauer, den leisen Schmerz am meisten gespürt, mehr als ihre Brüder. Wie ihr Vater sie hatte schützen wollen vor allem Unbill; wie er ihr nie etwas hatte abschlagen können; und wie er sie manchmal angesehen hatte, mit dieser wehmütigen Zärtlichkeit im Blick, die seinen Schmerz viel deutlicher verriet, als er es je geahnt hatte.


    Sie hatte nie etwas von Liebe wissen wollen. Nicht von dieser Art von Liebe. Und sie hatte auch gar nicht daran glauben können, dass ihr das je passieren könnte. Hatte es nicht erwartet, nicht damit gerechnet. Wie war es dann trotzdem geschehen? Wie hatte sie sich verlieben können, noch dazu in einen Mann, der ihr letztlich so fremd war, so fern, schon allein weil er Römer war und sie Germanin, der in einer ganz anderen Welt lebte, der es sich nicht leisten konnte, ihre Gefühle zu erwidern – und es wohl auch gar nicht tat? Sie war nichts weiter als eine Sklavin, seine Sklavin, die ihm gehorchen musste, und die nun noch dazu versucht hatte zu fliehen, die sich seines Vertrauens als unwürdig erwiesen hatte. Siv presste Lider und Lippen so fest zusammen, dass sie vor ihren Augen Sterne sah und ihr Mund zu einem blutleeren Strich wurde. Es hatte wohl seinen Grund, dass ihre Frage in ihrem Traum unbeantwortet geblieben war. Sie war ihm nicht egal, jedenfalls war sie ihm nicht egal gewesen, das war ihr selbst in diesem Moment klar – aber wenn sie ihm erst einmal gestanden hatte, was passiert war, würde es damit vorbei sein. Sie hatte doch gesehen, wie er Merit behandelt hatte, sie hatte ihn darauf angesprochen, und er hatte es ihr ins Gesicht gesagt… ohne Reue, ohne Verständnis, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Sie waren Sklaven, alle miteinander, nichts weiter. Wenn einer ihn enttäuschte, war er in seinen Augen nur noch ein Hund, ein Nichtsnutz – nicht einmal mehr einen Moment seiner Aufmerksamkeit wert. Sie wollte es nicht glauben, versuchte beinahe verzweifelt, sich vom Gegenteil zu überzeugen, sich an das zu klammern, was Merit gesagt hatte – aber die beklemmende Atmosphäre um sie, das was heute passiert war, das Zusammentreffen mit den Soldaten, das durch ihre alten Ängste so nervenaufreibend für sie gewesen war, das absolute Unverständnis, das ihr von Ursus, und die Verachtung, die ihr von Matho entgegen geschlagen war… Sie befand sich viel zu sehr in einem Wirbel aus düsteren, unheilschwangeren Gedanken, als dass sie sich momentan daraus aus eigener Kraft hätte befreien können. Er würde sie nicht verstehen. Der Gedanke schien mit eisigen Fingern nach ihr zu greifen und sie zu umklammern. Er würde nicht verstehen. Es war ihr egal, welche Strafe er sich für sie ausdachte, solange sie nur die Gewissheit hatte, dass er verstand, irgendwie, was passiert war, was sie getrieben hatte, und dass es nicht daran lag, dass er ihr nichts bedeutete oder er ihr nicht vertrauen konnte – aber er würde nicht verstehen. Und schon gar nicht würde er sie wieder an sich heranlassen, würde wieder Momente der Nähe, des Vertrauens, der Intimität zulassen. Er würde vermutlich nicht einmal mehr an sie denken, und die Gewissheit, zu der sich diese Gedanken in ihr formten, brach ihr fast das Herz, weil sie weder ändern konnte, was sie empfand, noch es wieder verdrängen, nachdem es ihr einmal klar geworden war. Und so lag sie auf dem Boden, zusammengekrümmt, beinahe lautlos schluchzend, überwältigt von Hoffnungslosigkeit und Einsamkeit, bis sie irgendwann einschlief.

    Die acht Tage waren Siv vorgekommen wie eine halbe Ewigkeit. Acht Tage im Keller, in der Dunkelheit, völlig alleine, bis auf die Besuche in der Nacht – die für die Germanin auch die einzige Möglichkeit gewesen waren, das Verstreichen der Tage einschätzen zu können. Ohne die Besuche hätte sie nicht gewusst, wie sie die Zeit durchgestanden hätte, aber auch so war es hart genug gewesen. Anfangs hatte sie noch Phasen gehabt, in denen sie getobt hatte, gegen die Tür getrommelt, gerufen, aber das hatte schon bald aufgehört. Stattdessen waren die Momente, in denen sie entweder von Verzweiflung oder beinahe von Panik übermannt wurde, immer häufiger geworden. Sie bemühte sich, versuchte, sich abzulenken, dachte an Wälder, an Pferde, wie sie dahinjagte auf Idolum, über blühende Wiesen, und manchmal gelang es ihr sogar für eine Zeitlang, in diese Tagträume zu versinken – aber meistens wurde sie schon bald wieder daraus gerissen, und die Wirklichkeit griff nach ihr mit dunklen, eisigen Spinnenfingern, tasteten durch ihren Geist und wühlten die Dinge auf, die sie belasteten, zerrten sie ins Licht, an die Oberfläche ihres Bewusstseins, wo Siv sie nicht mehr ignorieren konnte. Der Keller und die Enge, die so sehr an ihren Nerven zerrten, der Hunger und der Durst, die sie trotz dem, was ihr nachts vorbei gebracht wurde, plagten, und Corvinus… Corvinus und ihr Vertrauensmissbrauch. Corvinus war es auch, der meistens dafür verantwortlich war, dass ihre Tagträume endeten. Früher oder später tauchte er auf, in irgendeiner Form, und zuerst freute sie sich immer, ihn zu sehen, stellte sich vor, von ihm in den Arm genommen zu werden, mit ihm zu reden, sich einfach nur auszuruhen… Aber jedes Mal veränderte sich dann sein Gesichtsausdruck, wurde enttäuscht, und er stieß sie von sich. Und sie konnte nicht verhindern, dass ihre Tagträume immer wieder in diese Richtung gingen, einfach weil ihre Gedanken immer wieder in diese Richtung wanderten.


    Als Matho dann endlich, endlich die Tür öffnete und sagte, dass es los ging, hätte sie am liebsten erleichtert aufgeschluchzt, aber sie kontrollierte sich, biss jeden Laut zurück, der dem Maiordomus hätte verraten können, wie erleichtert sie war – und konnte doch nicht verhindern, dass ein Seufzer, ein tiefes Aufatmen ihr entwich. Vermutlich würde die Reise um keinen Deut angenehmer werden – eher im Gegenteil, denn dort konnte Matho viel besser auf sie aufpassen und dafür sorgen, dass sie tatsächlich nur das zu essen bekam, was er ihr zugestand, um nur ein Beispiel zu nennen. Aber immerhin würde sie draußen sein, an der frischen Luft. Siv atmete noch einmal tief ein und ging auf den vagen Lichtfleck zu, in dem sie den Umriss des Maiordomus erkennen konnte, und musste blinzeln, je näher sie kam. Das letzte Mal, als sie Licht gesehen hatte, war vergangene Nacht gewesen, und es war wie immer nur eine kleine Lampe gewesen – nichts im Vergleich zu dem Tageslicht, das sie nun erwartete. Sie hoffte nur, dass Matho ihr Gelegenheit geben würde sich zu waschen, sich umzuziehen – sie hatte ihr Bestes getan, aber acht Tage in einem dunklen Keller begrenzten die Möglichkeiten dahingehend schlicht und ergreifend, und genauso wie beim Essen hatte sie versucht darauf zu achten, nicht zu viel zu tun, was die nächtlichen Besuche hätte verraten können. Am Fuß der Treppe blieb sie stehen und sah, immer stärker blinzelnd, zu Matho hoch, den sie im Gegenlicht kaum erkennen konnte. Am liebsten hätte sie ihm irgendetwas entgegen geschleudert… aber ihr Trotz, selbst dem Maiordomus gegenüber, war in den letzten Tagen stark in Mitleidenschaft gezogen worden, und so schwieg sie vorerst.

    Siv grinste etwas schief bei Merit-Amuns Vorschlag. "Ich kann versuchen, mindest." Auch wenn sie dieselben Zweifel hegte wie die Ägypterin insgeheim – es würde ihr schwer fallen, die Zeit richtig einzuschätzen, ganz davon abgesehen, dass das wieder etwas war, was Matho auffallen würde. Nein… sie würde so sehen müssen, wie sie zurecht kam. Damit dem Maiordomus nicht auffiel, dass jemand hier gewesen war außer ihr und ihm. Wahrscheinlich würde er vermuten, dass von den anderen jemand vorbei gekommen war – aber solange nichts wirklich darauf hindeutete, konnte er auch niemanden bestrafen. Danach musste Siv wieder lachen, wenn auch unter Tränen. Aber immerhin lachte sie, wobei sie diesmal darauf achtete, leise zu sein. Sie verstand nicht alles, was Merit sagen wollte, aber sie meinte zumindest den Sinn zu begreifen. "Ich, Hauptsklave? Nein, nicht bin. Aber… ach, ich nicht mag weinen. Ich bin stark, sein stark, nächste Tagen." Sie biss sich auf die Unterlippe. Es hatte gut getan, mit Merit zu reden, sich etwas zu öffnen – zumal die Panik sie zuvor beinahe überwältigt hatte. Aber das war eigentlich nicht ihre Art, das war nicht sie… jedenfalls glaubte sie das, nach wie vor, und langsam begann sich ein Teil von ihr dafür zu schämen. Dennoch freute sie sich über Merits Zuspruch, auch wenn sie ihn nicht ganz teilen konnte. "Ich sehen. Werde sehen, wenn da bin, in Rom. Ursus gesagt hat, ich kann Corvinus Brief geben, Brief wo geschreibt was gesein. Ich kann reden mit Corvinus, erst. Vielleicht… ich denke das gut, das ist… Chance." Doch obwohl sie das selbst sagte, konnte sie nicht so recht daran glauben. Vielleicht lag es an der bedrückenden Atmosphäre hier im Keller, aber sie war mutlos. Als sie das Kussgeräusch hörte, musste sie unwillkürlich grinsen, aber gleich darauf seufzte sie wieder, diesmal lautlos. Corvinus würde sie nicht küssen, so sehr sie sich auch wünschte, dass es so passieren würde – dass er verstand, und dass er ihr verzieh… Noch ein Seufzer hob ihre Brust. Er würde sie nicht küssen, er würde wütend sein und enttäuscht… und er würde ihr nicht mehr vertrauen. Vielleicht nie mehr. Aber sie sagte nichts mehr dazu.


    Stattdessen schrak sie, ebenso wie Merit-Amun, zusammen, als plötzlich ein Geräusch ertönte. Ein Moment verging in atemlosem Schweigen, angespannt lauschte sie, mit klopfendem Herzen, ihre Gedanken rasten bereits auf der Suche nach einer Möglichkeit, Merit irgendwie zu beschützen, falls Matho auftauchen sollte – aber was auch immer das Geräusch verursacht hatte, Matho war es nicht gewesen. Ein weiterer Moment verging, dann atmete Siv erleichtert auf und wandte sich wieder Merit zu. "Käse und Brot ist gut", versicherte sie, eingedenk daran, dass sie Matho würde täuschen müssen. Als die Ägypterin dann davon sprach, dass sie nun besser ging, biss Siv sich erneut auf die Unterlippe. Der Keller flößte ihr immer noch Furcht ein, und sie hatte immer noch Angst vor dem Treffen mit Corvinus – und ihr graute davor, wieder allein zu sein, weil sie dann weder das eine noch das andere auf Dauer würde verdrängen können. Aber Merit-Amun hatte Recht. Es war besser wenn sie ging – beim nächsten Geräusch war es vielleicht wirklich Matho. Die Germanin griff nach der schmalen Hand der Ägypterin. "Ja, du Recht. Besser du gehst. Danke, viele Danke, für hier sein. Für kommst wieder. Sei vorsichtig."

    Als die Ägypterin von den Problemen anfing, die es bedeuten konnte, wenn Siv länger hier unten blieb und körperlichen Bedürfnissen nachging – was sie irgendwann tun musste –, konnte die Germanin nicht anders, als in Merits helles Lachen einzufallen. Es hatte etwas Befreiendes an sich, und es schien die Dunkelheit ein bisschen zu vertreiben – wenigstens bis Mathos Name wieder fiel, und Siv erschrocken schwieg. Ihr konnte es kaum noch schlechter ergehen als sowieso schon, aber sie wollte Merit nicht in Schwierigkeiten bringen. "Ich tut leid. Aufpassen, ja – du auch krieg Strafe sonst, wenn Matho seht dich hier." Und eigentlich war das Thema auch nicht sonderlich lustig – Siv hatte wenig Lust, sich einfach in irgendeine Ecke zu setzen, um sich zu erleichtern, aber so dunkel wie es hier war, würde sie kaum Erfolg haben, wenn sie auf die Suche ging nach einem irgendeinem Gefäß, das sie verwenden konnte. Und der Krug, den Merit-Amun mitgebracht hatte – wenn sie den nutzte, würde Matho Wind davon bekommen, dass jemand da war. Oder gab es solche Krüge hier unten? Siv versuchte es sich ins Gedächtnis zu rufen, hatte sie doch erst neulich hier alles blitzblank geputzt… Sie meinte sich zu erinnern, ähnliche Krüge gesehen zu haben, die hier unten aufbewahrt wurden, aber ganz sicher war sie sich nicht. Mit einem Seufzen schob sie dieses Problem schließlich weg und beschloss sich damit zu beschäftigen, wenn es soweit war.


    Nach Sivs geflüstertem Geständnis – für sie jedenfalls war es eines –, herrschte eine Weile Schweigen. Merit schien darüber nachzudenken, und Siv wusste nicht so recht, was sie sagen sollte, also knabberte sie erneut an dem Brot herum. Sollte Matho morgen nicht vorbei kommen und ihr etwas zu essen und trinken bringen, würde sie darauf auch achten müssen – wenn Matho dann kam, musste sie dementsprechend entkräftet sein, oder zumindest so wirken, und das konnte sie am besten, wenn sie tatsächlich Hunger und Durst hatte. Also legte sie mit einem Seufzen das Brot wieder weg. Sie wollte um jeden Preis vermeiden, dass Merit dafür büßen musste, dass sie ihr half. Die Ägypterin dagegen schien fertig zu sein mit ihren Grübeleien, denn sie begann wieder zu reden. Zuerst begriff Siv nicht ganz, was sie sagen wollte – nur, dass Merit-Amun versuchte, eine Lösung zu finden. "Gleiches finden. Gleiches? Wie, was… gleiches…" Siv seufzte leise, dann ging ihr ein Licht auf. "Du meinst einen Vergleich? Aber… ich wüsste nicht was, nichts, womit ich wirklich dafür sorgen kann, dass er versteht…" Sie zuckte hilflos mit den Achseln und musste schon wieder Tränen unterdrücken. Langsam nahm es wirklich überhand, aber zumindest im Moment war Siv in keiner Verfassung, um sich besser zu beherrschen. "Ich nicht weiß was. Und… ich nicht weiß, dass er nicht versteht – oder nicht will versteht. Weißt du? Wenn er nicht will versteht… dann nichts gleichen finden kann, nichts was kann ändern, wie er denkt." Einen Moment schwieg sie, dann starrte sie überrascht in Merits Richtung, ohne sie wirklich sehen zu können. "Ihm gesagt? Dass ich ihn mag? Nein! Also… ja… ich meine… ich gesagt, dass er nett, dass ich ihn mag. Aber nicht, dass ich ihn mag so. Wie. Wie sehr. Ich… ich nicht weiß, was das ist. Oder wie das ist, ich nie gehaben das, und er ist Römer, ist Herr, und ich gar nicht wollen gehaben das, weißt du? Nicht mit egal wen Mann, und nicht Römer, und jetzt…"


    Siv zog die Beine an, schlang die Arme um ihre Knie und seufzte. Sie konnte sich doch nicht tatsächlich in diesen Mann verliebt haben, ausgerechnet sie, die gegen die Liebe gewettert hatte seit sie denken konnte… Dass sie sich jetzt so unwohl fühlte, wenn sie nur an ihn dachte, lag sicher daran, dass sie einfach ein Mensch war, der nicht gern sein Wort brach und Vertrauen missbrauchte, egal wessen es war. Darüber hinaus mochte sie ihn ja, das war gefahrlos zuzugeben. Und doch… wusste sie, dass es mehr war. Und genau das verwirrte sie so sehr. "Ich nicht mag unehrlich sein. Nicht von andere, nicht von mir. Nicht mag enttäuschen, wenn Vertrauen da – und Corvinus Vertrauen für mir. Sicher da ist Grund, weil Angst habe." Gleich darauf sah sie Merit zunächst erfreut, dann irritiert, dann belustigt an. "Du kommst morgen, das schön. Aber nicht essen mich – essen mit mich. Mit mir. Wenn du essen mich, ich bin weg. Wobei… vielleicht wär das ja eine Lösung… Was du meinst, sondern? Sonderbar?"

    Unwillkürlich musste Siv lächeln, diesmal wirklich, als Merit ihr in gebrochenem Latein mitteilte, dass sie sich Sorgen gemacht hatte. "Nein, nicht weiß wie lange. Aber ich Matho kenne. Ich muss sein hier bis gehen weg, nach Rom, ich denke." Dass Merit zu ihr hielt, ließ das Schreckgespenst der kommenden Tage hier im Keller etwas kleiner werden. Siv wollte sich gar nicht vorstellen, was die anderen sagen würden, vor allem dann nicht, wenn sie erst auf sie traf, nachdem Matho in aller Ruhe Zeit gehabt hatte, irgendwelche Schauergeschichten über sie zu erzählen. Sie hatte doch nicht fliehen wollen… Sie hätte nachdenken sollen, das wusste sie nun, aber in dem Moment war sie gefangen gewesen in dem Anblick, und die Sehnsucht war so groß gewesen, die Sehnsucht nach Freiheit, nach dem Leben im Wald, in einer einfachen Hütte, immer in unmittelbarer Nähe zur Natur, die Sehnsucht nach frischer Luft und danach, eben nicht alles planen und vorhersehen zu können, sich den Unwägbarkeiten eines solchen Lebens auszusetzen, im Vertrauen auf sich selbst und auf die Götter… Sie war nun mal ein Naturkind, ein Skradan, Waldteufel, wie ihr Vater sie immer liebevoll genannt hatte. Sie hatte sich an das Leben in einem steinernen Haus, inmitten einer steinernen Stadt voll solcher Häuser, gewöhnt, was zum großen Teil daran lag, dass das Haus, in dem sie wohnte, groß war, mit großen, hellen Räumen und einem großen Garten. Aber es änderte nichts an dem, was sie war, und das ein Teil von ihr sich nach dem sehnte, womit sie aufgewachsen war – und diese Sehnsucht hatte einfach überhand genommen, in jenem Augenblick. Trotzdem bedeutete das nicht, dass sie wirklich wieder zurück wollte. Sie konnte dort leben, in der aurelischen Villa, und sie wusste durchaus auch die Annehmlichkeiten zu schätzen, die ein solches Leben mit sich brachte – was sie betraf vor allem, dass ihre Neugier, ihr Wissenshunger auf eine Art befriedigt wurde, wie sie es sich noch vor einem Jahr nicht einmal in ihren kühnsten Träumen hätte vorstellen können. Und die Menschen, die sie kennen gelernt hatte… Und Corvinus. Siv fuhr sich mit beiden Händen über ihr Gesicht. Sie hatte so großes Glück gehabt, von jemandem wie ihm gekauft worden zu sein, das war ihr klar. Ein ganz anderes Schicksal hätte sie treffen können, sie hätte gebrochen werden können – andere hätten es versucht, und auf Dauer wäre es ihnen gelungen. Corvinus hatte nichts dergleichen getan, obwohl sie mehr als einmal seine Geduld strapaziert hatte, in einer Weise, die selbst dann unangemessen gewesen wäre, wäre sie nicht seine Sklavin gewesen. Und das war noch lange nicht alles, was er ihr bedeutete, er war mehr für sie als nur ihr Herr, so viel mehr… Und das wusste sie, auch wenn sie es immer noch verdrängte – jetzt, im Bewusstsein dessen, was sie erwartete, erst recht. Sie hatte Angst vor dem Moment, in dem sie ihm gegenüber treten musste, hatte Angst nicht die richtigen Worte zu finden, die ihr Verhalten erklärten, und die deutlich machten, warum sie nicht geflohen war… Ihr wurde flau im Magen, wenn sie nur daran dachte, aber gleichzeitig gab es für keine andere Alternative.


    Und Merits Worte erinnerten sie wieder an den Zusammenstoß, den sie mit ihm gehabt hatte. Ihr seid nur Sklaven… Erneut wollte ein Schluchzen in ihrer Kehle aufsteigen, als die Worte in ihrem Kopf hallten. Spätestens wenn er von dem erfuhr, was sie getan hatte, würde sie vermutlich nicht mehr sein als das. "Ja, das gesein Absicht. Nicht zu sehen, nicht zu merken dich. Zeigt dass du Sklave, genau das… Aber er nicht gewollt dass du tot bist auf Reise. Er gewollt…" … dass du merkst, dass du eine Sklavin bist. Dass du Unrecht getan hast, als du geflohen bist. Und genau das war der Punkt, an dem Siv immer noch zu knabbern hatte. Natürlich hatte Corvinus Konsequenzen ergreifen müssen, natürlich hatte er sie auf die ein oder andere Art bestrafen müssen, und natürlich war es von seinem Standpunkt aus Unrecht – aber vom Standpunkt jedes Sklaven aus, zumindest jedes Sklaven, der irgendwann mal frei gewesen war, war es doch kein Unrecht, sondern nur zu verständlich, es wenigstens zu versuchen… Hatte er das einfach nur nicht zugeben wollen? Dass er es wenigstens ein stückweit verstehen konnte? Oder hatte er es tatsächlich nicht verstanden… Siv seufzte, als Merit meinte, Corvinus würde sie mögen. Sie wollte es glauben, hoffte es und wusste es irgendwie auch – nur, wie sehr würde er sie noch mögen, wenn sie erst zurück war, wenn er Bescheid wusste? "Ich denke, er mich geschickt hier… Weil hier meine Heimat. Weil, wegen Gefallen. Weil er weiß, das freut mich." Dass das der Grund gewesen war, war deutlich gewesen, als er ihr gesagt hatte, sie würde mit nach Germanien reisen können. "Er sein werden wütend. Er… Er gebt Gefallen, und ich enttäuschen. Ich bin versuchen, zu erklären. Zu sagen warum, was gesein hier. Aber… ich nicht weiß, wie reagiert, er, wenn er hört das. Ich habe Angst, nicht weil Strafe, aber weil wenn er nicht versteht… weil ich ihn mag." Das letzte war nur noch geflüstert.

    Siv versuchte zu lächeln – und war zum ersten Mal dankbar für die Dunkelheit, spürte sie doch selbst, wie kläglich es ihr misslang. "Ich versucht, vorstellen. Aber Luft hier unten nicht ist frisch, nicht wie bei Wald, wie bei draußen…" Sie atmete erneut tief ein und grub gleichzeitig ihre Fingernägel in die Handinnenflächen. Der scharfe Schmerz, der sie durchzuckte, half ihr etwas – mit dem Erfolg, dass sie wieder die zahllosen anderen kleinen Blessuren zu spüren begann, die sie sich zugezogen hatte in den letzten Stunden. Aber sie biss die Zähne zusammen und war letztlich froh darüber, bedeutete es doch Ablenkung. "Ich weiß. Weiß wie ist, mit wenig Worte können. Aber du lernst." Siv lächelte erneut, und diesmal gelang es ihr etwas besser. Merit aufmuntern zu können, oder es wenigstens zu versuchen, half ihr auch selbst. Aber schon bald wandte sich das Gespräch wieder ihr zu, ihrer Situation, und die Germanin musste wieder mehr Selbstbeherrschung aufbringen, musste sich wieder bewusst zusammenreißen, um ruhig zu bleiben. Sie wollte raus hier, sie wollte nicht hier unten bleiben… Aber sie wusste auch, dass Merit nichts tun konnte, dass allein ihr Hiersein schon riskant war – wenn Matho davon Wind bekam, würde sie darunter leiden müssen, und das wollte Siv um jeden Preis vermeiden. Als die Ägypterin ihr den Käse in die Hand drückte, stiegen ihr erneut Tränen in die Augen, aber diesmal blieben sie dort. Stattdessen bemühte sie sich erneut um ein Lächeln. "Danke. Vielen Dank. Ich tun weg, der Krug, wenn Matho kommt." Sie griff nach dem Krug und nahm einen tiefen Schluck daraus, bevor sie in das Brot biss. Erst jetzt merkte sie, wie hungrig und durstig sie tatsächlich war – die Panik hatte sie bisher in so festem Griff gehabt, dass diese Bedürfnisse gar nicht wirklich durchgedrungen waren. Dafür machte sich vor allem der Durst umso mehr bemerkbar, und in kürzester Zeit hatte sie die Hälfte des Krugs geleert, bevor sie absetzte und sich erneut dem Brot und nun auch dem Käse widmete.


    Erst als Merit das Schweigen unterbrach und zu reden begann, wurde Siv etwas langsamer. Sie starrte vor sich hin, während sie der Ägypterin zuhörte und mit jedem Wort betroffener wurde. Sie wusste es. Sie wusste es nur zu gut, dass sie bestraft werden würde. Und auch wenn sie es sich im Moment kaum vorstellen konnte, wusste sie auch, dass die Strafe möglicherweise schlimmer ausfiel, als hier im Keller eingesperrt zu sein. Ihr Magen zog sich unangenehm zusammen, und plötzlich verging ihr der Hunger, der einen Moment zuvor noch da gewesen war. Plötzlich mutlos geworden, ließ sie Brot und Käse sinken und stellte es neben dem Krug auf der Kiste ab, während sie Merits Erzählung von ihrer Geschichte lauschte. Ihre Zeit in Freiheit schien nicht schön gewesen zu sein – Siv seufzte lautlos, als sie daran dachte, dass das bei ihr mit Sicherheit anders gewesen wäre. Ihre Heimat war nach wie vor frei, nicht in römischer Hand, im Gegensatz zu Merits. Zögernd streckte sie ihre Hand aus und ergriff die der Ägypterin. "Nein, Corvinus nicht will, dass du bist tot, auf Reise. Er nicht so ist." Dann schwieg sie wieder, während Merit versuchte, sie aufzubauen. Wieder stiegen Tränen in ihr auf, diesmal, als sie begann von Corvinus zu sprechen. Sie hatte ihn doch nicht enttäuschen wollen… aber sie meinte zu wissen, zu ahnen, wie er reagieren würde. Sie wusste, wie sie reagieren würde. "Er werden böse. Ich weiß das. Er werden böse, und nicht mehr wird mögen mich. Er sein enttäuscht… Und ich nicht kann sagen, dass wie Traum, und wie gesein, mit Soldaten. Er nicht versteht. Nicht geversteht, wenn ich gebin bei ihm wegen dir. Und nicht wird versteht, wenn ich zurück sein, in Rom."

    Zitat

    Original von Titus Aurelius Ursus


    Dass der Soldat hinter ihr inzwischen den Raum verlassen hatte, hatte Siv nicht wirklich mitbekommen, und registrierte auch kaum, dass Ursus zusammenzuckte, als das Glas auf dem Boden zerschellte. Umso mehr bemerkte sie den eisigen Tonfall seiner Stimme, die kalte Wut, die daraus klang – und hätte am liebsten noch etwas zerstört. Wie er da stand, sie ansah und auf ihren Ausbruch so ganz anders reagierte, als sie es umgekehrt getan hätte… Es war deutlich, dass er Konsequenzen ergreifen würde, aber er ließ sich von ihr nicht dahingehend provozieren, dass er ebenfalls anfing zu streiten, richtig zu streiten. Und hatte allein damit schon die Oberhand. Siv bebte vor Zorn, aber sie zügelte sich, mühsam, wusste sie doch, dass es überhaupt keinen Sinn hatte, weiterzutoben – genauso wie sie wusste, dass sie im Unrecht war, auch wenn sie diesen Gedanken momentan noch weit von sich schob. Aber es reichte zu wissen, dass Ursus sie wieder fesseln lassen würde, dass sie nicht – wie früher zu Hause – einfach wegrennen und sich verkriechen konnte, wenn sie es wirklich übertrieb, und vor allem: dass hier niemand nachgeben würde, wenn sie weiter ihrem Temperament freien Lauf ließ, um sie dazu zu bringen, ihre Wut einzudämmen, wenigstens oberflächlich. Also funkelte sie Ursus nur an und sagte nichts mehr, ließ sich von ihm am Arm fassen und hinauszerren, wo zwei Soldaten sie in Empfang nahmen. Im ersten Moment begehrte sie wieder auf, als die beiden sie grob packten und in einen festen Griff nahmen, aber schon im nächsten hörte sie damit auf. Langsam, aber unaufhaltsam drang zu ihrem Bewusstsein durch, wogegen sie sich zwar wehrte, aber was sie im Grunde die ganze Zeit schon gewusst hatte: es war vorbei. Und so ließ sie sich stumm, ohne weitere Gegenwehr, zur Villa bringen.