Noch jemand huschte an diesem Abend, der bereits an der Schwelle zur Nacht stand, durch die Gänge. Siv war unterwegs, vorsichtig, leise, schlich an den Wänden entlang, bemüht, kein Geräusch zu verursachen. Eine Decke über dem Arm, war sie auf dem Weg in den Garten. Seit sie aus Germanien zurück war, war ihr Schlaf alles andere als erholsam, sofern sie im Haus war. Es war wie ganz am Anfang, als sie neu hier war. Sie meinte zu ersticken, meinte die Wände auf sich zukommen zu sehen, sobald sie im Bett lag, und wenn sie endlich eingeschlafen war, war ihr Schlaf unruhig – so sehr, dass sie schon des öfteren aufgeweckt worden war, weil ihre heftigen Bewegungen und ihr unbewusstes Sprechen die anderen störte. Hatte vor der Reise noch festgestanden, dass sie Cadhlas Platz einnehmen würde, war jetzt nicht mehr die Rede davon, und sie fragte auch nicht danach. Cadhla… Wie oft hatte Siv sich in den letzten Tagen und Wochen gewünscht, die Keltin wäre hier, nur um dann wieder froh zu sein, dass sie es nicht war. Sie hatte Angst vor ihrer Reaktion. Angst vor Unverständnis – und, seltsam genug, Angst vor Verständnis. Es gab im Moment nur wenige, deren Gesellschaft die Germanin ertrug. Von den meisten in der Sklavenschaft wurde sie ohnehin geschnitten, den Rest mied sie weitestgehend. Sie ertrug das Mitleid nicht, das manche für sie hatten. Sie hatte selbst kein Mitleid für sich übrig, und im selben Maß, in dem andere Verständnis für sie aufbrachten, verringerte sich das, das sie selbst für sich hatte. Am liebsten schob sie alle Gedanken weit weg, die ihren Fluchtversuch betrafen, aber jeder, den sie traf, erinnerte sie in irgendeiner Form daran – sei es weil er sie mit Verachtung strafte, oder sei es weil er sie aufmuntern wollte. Daher hatte sie sich zurückgezogen, weitestgehend, erledigte ihre Arbeiten, klagte nicht darüber, dass sie seit Wochen die schwersten und unangenehmsten bekam, die sonst, wenn nicht gerade einer sie als Strafe ein paar Tage hintereinander erledigen musste, im Wechsel verteilt wurden. Es interessierte sie auch kaum. Im Gegenteil, sie war eher froh darüber, dass sie dadurch nur selten Zeit hatte darüber nachzudenken, wie sehr sich ihr Leben verändert hatte. Es waren nicht nur die anderen Sklaven, mit denen sie am meisten zu tun hatte. Corvinus weigerte sich, sie auch nur anzusehen – wenn sie sich denn überhaupt begegneten. Anfangs hatte sie noch nach seiner Nähe gesucht, hatte versucht ihn zu treffen, um mit ihm zu reden, aber er ließ keine Gelegenheit zu. Wenn sie vor ihm stand, ignorierte er sie, wenn sie zu sprechen begann, verschwand er oder gab anderen ein Zeichen, sie wegzubringen. Und schon bald hatte dieses Benehmen dazu geführt, dass sie es aufgab. Es mochte untypisch für sie sein, aber Corvinus so ablehnend zu sehen, seine abweisende Haltung zu spüren, tat ihr einfach zu weh. Sie hatte nach wie vor das Gefühl, dass sie ihr Verhalten erklären konnte, dass er es verstehen könnte, wenn er nur zuhören würde. Aber sie konnte ihn nicht zwingen. Und so, von den einen geschnitten, von den anderen selbst abgekapselt, fühlte sie sich einsam.
Allerdings machte sich dieses Leben bemerkbar. Sie war schmal geblieben – Matho hatte zwar keine Gelegenheit mehr, ihr Essen zu rationieren, aber oft genug hatte sie keinen Appetit. Sie war blass und hatte Ringe unter den Augen – selbst wenn sie es schaffte sich nachts in den Garten zu schleichen, wurde sie häufig von Träumen geplagt, wenn auch ihr Schlaf besser war als drinnen. Und auch die Einsamkeit hatte Auswirkungen – alles in allem ging es ihr im Moment nicht wirklich gut, auch wenn sie sich bemühte, sich nichts davon anmerken zu lassen. Besorgten Blicken wich sie aus oder ignorierte sie, Bemerkungen oder Fragen ließ sie abprallen. Es geht mir gut, war ihre Standardantwort, und dann verschwand sie oder war auf Anhieb so beschäftigt, dass sie keine Zeit zum Reden fand. Trotzdem konnte sie nicht verbergen, dass es ihr eben nicht gut ging, und so bemühte sie sich, wenigstens nach außen hin den Anschein zu wahren. Sie versuchte mehr zu essen, aber bereits nach ein paar Bissen musste sie die Nahrung oft mehr runterwürgen als alles andere, weswegen es in der Regel bei dem Versuch blieb. Aber sie schlich sich öfter in den Garten, nachts, und auch wenn sich ihr Schlaf nur langsam besserte, tat er es doch inzwischen spürbar, wann immer sie draußen schlief. Das war das einzige, wo sie selbst den Erfolg einigermaßen spüren konnte, inzwischen wenigstens, und so war sie auch diese Nacht unterwegs. Leise, weil sie wusste, dass sie um keinen Preis erwischt werden durfte. Sie ging davon aus, dass schon alles schlief, aber gelegentlich war Matho noch um diese Zeit unterwegs, um abzuschließen, oder andere, um was auch immer zu tun.
Als sie plötzlich ein Geräusch hörte, blieb sie wie angewurzelt stehen. Ein Schlüsselbund klirrte. Matho war also noch unterwegs. Siv stockte der Atem, während sie ein Stoßgebet zu Hel schickte, dass der Maiordomus sie nicht erwischen möge. Sonst würde er ihr vermutlich einen zweiten Fluchtversuch anhängen, und nach dem was Corvinus inzwischen von ihr hielt, würde er das glauben. Und was dann mit ihr geschehen würde, daran wagte sie gar nicht zu denken. Es blieb still, und nach ein paar Augenblicken schlich sie, noch leiser als bisher, weiter. Dann hielt sie erneut inne. Ein Lichtschein tauchte auf, und sie fluchte lautlos, während sie sich in die Schatten presste. Matho kam direkt auf sie zu, und insgeheim machte sie sich bereits darauf gefasst, dass er im nächsten Moment Zeter und Mordio schreien würde. Umso überraschter war sie, als auf einmal eine weitere Gestalt auftauchte. Im Schein der Öllampe erkannte sie Fhionn, und für einen kurzen Augenblick fragte sie sich, was die Keltin von Matho wollte. Fhionn hatte, wie auch Merit und ein paar der anderen, sich bemüht, Siv das Leben wenigstens etwas zu erleichtern – nur mit dem kleinen Unterschied, dass Matho die Keltin erwischt hatte. Im Gegensatz zu Siv setzte er aber die andere Sklavin nicht offen unter Druck, sondern tat es heimlich. Die Germanin war die einzige, die wenigstens annähernd Bescheid wusste, und sie hätte den anderen etwas gesagt, damit wenigstens die Keltin ihre Ruhe hatte. Aber Fhionn hatte nicht gewollt, dass etwas bekannt wurde, und obwohl Siv ahnte, dass nach dieser ersten Begegnung nicht alles ausgestanden war, hatten es sowohl die Keltin als auch der Maiordomus verstanden, alles weitere vor allzu neugierigen Augen zu verbergen. Fhionn hatte, auch Siv gegenüber, keinen Anlass gegeben, Schlimmeres zu vermuten, und so hatte sie es auf sich beruhen lassen. Sie konnte, gerade jetzt, nur zu gut verstehen, wenn jemand nicht bedrängt werden wollte, und so ließ sie Fhionn in Ruhe. Jetzt aber begann in ihr die Erkenntnis aufzublühen, dass das womöglich die falsche Entscheidung gewesen war. Fassungslos sah sie, wie Fhionn ein Messer hob. Sonderbar irreal, und wie in Zeitlupe, senkte sich die Hand, berührte das Messer Mathos Brust, versank fast zärtlich in ihm. Löste sich wieder und hinterließ einen roten Fleck, der auf der Tunika zu einer unregelmäßig geformten Blume erblühte. Versank erneut, ohne allzu viele Geräusche, ohne Gegenwehr, ohne sichtbaren Widerstand, tauchte ein wie ein Fisch, der aus dem Wasser gesprungen war, erhob sich wieder, ohne Wellen auszulösen, versank ein weiteres Mal. Die Öllampe zersprang auf dem Boden, flackernder Schein breitete sich aus. Der Maiordomus strauchelte, sank zu Boden, während das Messer seine merkwürdige Weise weiter fortführte, einem für Siv unhörbaren Rhythmus folgend, der aber da war, da die Flammen ihm ebenfalls zu folgen schienen, zuckten und sich wanden, Reflexe auf der Klinge hervorriefen und sich mit Fhionns Bewegungen zu einem grotesken Tanz vereinten. Sie meinte ihren Namen zu hören, gehaucht von einem Sterbenden, und auch dieses Wort wob sich auf unheimliche Art ein in das Gesamtbild. Sie blieb im Schatten, war wie erstarrt, unfähig sich zu rühren, stumme Beobachterin, ohne selbst gesehen werden zu können. Vor ihren Augen spielte sich die Szene immer noch ab, als Fhionn schließlich von Matho abließ und verschwand. Erst nach einem weiteren Moment bewegte Siv sich, trat aus den Schatten und in den flackernden Schein des Feuers, das bereits kleiner wurde, da es das ausgelaufene Öl rasend schnell verbrauchte und auf dem Stein keine zusätzliche Nahrung mehr fand. Wie in Trance setzte sie einen Schritt vor den anderen, ließ sich neben Matho auf die Knie sinken. Ihre Hände schwebten einen Moment über dem Maiordomus, ohne ihn zu berühren, während ihre nackten Füße und der Saum ihrer Schlaftunika sich blutig färbten in der Lache, die sich um Matho ausbreitete. Dann, schließlich, senkten sich ihre Finger, tasteten über die Wunden, fühlten nach dem Puls, aber da war nichts. Und nach einem weiteren Augenblick, in dem der Schreck Siv nur noch mehr in seine Gewalt zog, erhob sie sich und hastete durch die Gänge. Sie begriff nicht wirklich, was soeben geschehen war. Sie wusste nur, dass sie irgendjemandem Bescheid sagen musste, und so trugen ihre Füße sie zu dem Menschen, der ihr in dieser Villa – trotz der Ablehnung, die sie in den letzten Wochen von eben diesem Menschen erfahren hatte – am meisten bedeutete, dem sie vertraute wie keinem anderen hier.