Beiträge von Aureliana Siv

    Siv war gerade im Garten gewesen, um dort die Spuren des Winters zu beseitigen – altes Laub wegräumen, Erde umharken, Sträucher zurückschneiden. Sie wusste noch nicht genau, wie lange sie in Germanien bleiben würden, aber sie bezweifelte, dass sie Zeit dafür hatte, etwas Neues anzupflanzen, ein paar Blumen, Kräuter, vielleicht den ein oder anderen Strauch neu heranzüchten… Ihr fiel gar nicht auf, wie sehr sich ihre ursprüngliche Begeisterung für alles, was draußen wuchs, an Corvinus’ Begeisterung, dies in einem Garten zu haben und sich darum zu kümmern, angenähert hatte. Die Wildnis war ihr immer noch am liebsten, aber zu sehen, wie Pflanzen gediehen, um die sie sich kümmerte, und Gewächse aus den verschiedensten Ländern in einem Garten vereint zu haben, faszinierte sie doch sehr, und sie ertappte sich gelegentlich dabei, dass sie den aurelischen Garten in Rom vermisste – und sich fragte, ob ihr Ersatz sich wirklich angemessen um die Pflanzen kümmern würde.


    Um aus dem Garten hier mehr zu machen, dazu würde sie kaum kommen, obwohl die Jahreszeit perfekt dafür war, aber sie hatte angefangen, eine kleine Sammlung anzulegen – Blumen und Kräuter, die sie eigentlich hier hätte anpflanzen wollen und stattdessen mitnehmen würde, Ableger von Sträuchern und Bäumen, die sie in Rom noch nicht hatten… Sie hoffte nur, dass sie das auch würde mitnehmen können, aber letztlich wusste Matho, dass nicht nur sie, sondern auch Corvinus vernarrt war in Pflanzen – vor allem wenn sie in seinem Garten wuchsen. Also dürfte das eigentlich kein Problem, hoffte sie zumindest.


    Jetzt war sie auf dem Weg in die Küche, wo sie die ersten frischen Löwenzahnblätter und ein paar andere Kräuter hinbringen wollte, um für Merit-Amun daraus einen Salat zu machen, als sie eine nur allzu vertraute kleine Gestalt vor der Tür stehen sah, auf die sie zuhielt. Die Germanin runzelte die Stirn und schüttelte leicht den Kopf – Merit konnte das nicht sein, sie war deutlich gewesen, das Bett durfte die Ägypterin noch nicht verlassen. "Ich glaub ich seh nicht richtig…", murmelte Siv und schob die Unterlippe vor, während sie ihren Schritt beschleunigte. Gerade als sie hinter Merit ankam und etwas sagen wollte, wurde die Tür der Küche aufgerissen, jemand stieß mit der Ägypterin zusammen, diese wankte – und stürzte direkt in Sivs Arme. "Wouw, immer langsam. Was machst du überhaupt hier? Wieso du hier bist?" wiederholte sie auf Latein, ihr Tonfall eindeutig vorwurfsvoll, während sie die Ägypterin festhielt, die durch die Krankheit noch zarter und zerbrechlicher geworden zu sein schien. Siv nickte Sertorio kurz zu und grinste schief, bevor sie sich wieder an Merit wandte. "Du musst in Bett sein!"

    Siv spürte durchaus, dass der Druck nachließ, aber zumindest für den Moment hatte sie genug – jedenfalls von den Schmerzen. Und sie befand sich nach wie vor in einem Griff, der sich jeden Augenblick wieder verstärken und sie erneut gänzlich unter Kontrolle bringen konnte. So presste sie nur die Lippen aufeinander, während ihre Haare beiseite und ihr Umhang etwas nach unten geschoben wurden, und kurze Zeit später hörte sie, wie der Soldat vor ihr Corvinus’ Namen murmelte. Sivs Kopf schwirrte, und sie hatte das Gefühl, keinen klaren Gedanken fassen zu können. Die Vorstellung von dem, was ihr nun blühen würde, drohte alles andere zu verdrängen, so sehr sie auch dagegen ankämpfte. Sie war sich bei weitem nicht sicher, was Corvinus tun würde, wenn sie wieder in Rom war, aber wie er sich Merit gegenüber verhalten hatte, gab ihr eine ungefähre Vorstellung davon – und mehr noch, ihr Ausbruch ihm gegenüber hatte ihm deutlich gezeigt, womit er sie am meisten treffen konnte. Da erschien es ihr fast erfreulich, dass vorerst Ursus und Matho das Sagen haben würden, was mit ihr geschah, und zumindest Letzterer würde nicht zimperlich mit ihr umspringen. An den langen Rückweg, der ihr Zeit geben würde sich in allen möglichen Farben die Heimkehr und Corvinus’ Reaktion vorzustellen, dachte sie im Moment nicht, sonst wäre ihr die Tatsache, dass es noch dauern würde, bis sie ihrem Herrn gegenüber stand, sicher nicht wie eine Schonfrist vorgekommen.


    Ihre Gedanken wirbelten weiter, während der Soldat ihr eine Frage stellte. "Das ist Unterschied? Spielt das denn Rolle, du Mistkerl, dass, dass… ob Corvinus ist hier, oder sein in Rom?" fauchte sie, erneut in einem Kauderwelsch. Wütend und durcheinander wie sie war, verschlechterte sich ihr Latein noch mehr. Gleichzeitig startete sie wieder einen Versuch, den Griff zu sprengen, indem sie sich schüttelte und versuchte sich mit einem Ruck aufzurichten. Erfolg dieser Aktion war lediglich, dass sich der Griff erneut verstärkte, und die Germanin keuchte auf und versuchte, dem Druck auszukommen, in dem sie sich wieder nach vorn beugte. "Tribun. Ich hier bin bei Tribun", antwortete Siv schließlich heftig atmend, sich innerlich dafür verfluchend, dass sie nachgab – aber gleichzeitig auch in dem Wissen, dass ihr gar nichts anderes übrig blieb. Sie wehrte sich ja doch nur noch aus Prinzip, weil es Römer waren, weil sie nicht zeigen wollte, dass sie Angst hatte, weil die Soldaten bloß nicht glauben sollten, sie hätten ein leichtes Spiel mit ihr… aber nicht, weil sie tatsächlich glaubte, dass ihre Gegenwehr irgendeine Aussicht auf Erfolg hatte. "Anderes Römer ist in Rom."

    Das spöttische Lächeln verschwand, aber Siv hatte nicht wirklich Gelegenheit, diesen kleinen Triumph auszukosten. Schon im nächsten Moment wurde ihr Kopf herumgeschleudert, als sie die schallende Ohrfeige traf, und hätte der Legionär sie nicht festgehalten, wäre sie vermutlich gestolpert. Ihr Mund füllte sich mit leicht metallischem Geschmack, weil sie sich auf die Unterlippe gebissen hatte, ihre Ohren klingelten von der Wucht des Schlags, und ihre Wange brannte, während sie für einen Moment so verharrte, den Kopf zur Seite geneigt, die Haare ein schützender Vorhang vor ihrem Gesicht und damit auch ihren Augen, in denen sich kurz Tränen des Schmerzes sammelten, die sie aber sofort wieder zurückdrängte. Sie schürte die Wut in sich nur noch mehr an, um jedes Zeichen von Schwäche und Angst unterdrücken zu können, um den Soldaten nicht zu zeigen, wie sie sich wirklich fühlte – und es gelang ihr, hatte sie doch genau darin mehr als genug Übung. Als sie mit einer so schnellen Bewegung, dass ihre Haare flogen, den Kopf wieder hob und den Römer vor sich erneut anfunkelte, zeichnete sich zwar der Abdruck seiner Hand deutlich auf ihrer Wange ab, aber das einzige, was auf den Schmerz hinweisen könnte, waren ihre zusammengepressten Lippen – und die waren ebenso Ausdruck ihrer Wut.


    Die Schaulustigen, die sich inzwischen um sie versammelt hatten, heizten Sivs Temperament eher noch an. Sie wusste, dass sie keine Hilfe erwarten konnte, nicht von Menschen, die im römischen Teil Germaniens lebten und mit den Römern Geschäfte machten oder gar selbst schon welche waren. Sie waren sensationslüsterne Gaffer, mehr nicht, und Sivs Blick drückte nur Verachtung aus, wenn er die Menschen streifte – und als er den eines Mannes traf, der beifällig nickte und grinste, schickte sie ihm ebenfalls einen Fluch auf Germanisch nach. "Geh nach Hause und friss Dreck!" Inzwischen gab der Soldat, den sie angespuckt hatte, die Anweisung sie so festzuhalten, dass er das Zeichen in ihrem Nacken sehen konnte, und die Germanin bäumte sich wieder auf, versuchte den Griff zu sprengen. Es waren Römer, römische Soldaten, und sie wehrte sich schon aus Prinzip gegen sie, aber sie wollte auch nicht mehr festgehalten werden, wollte die Hände nicht mehr auf sich spüren, wollte nur noch weg, nicht so sehr irgendwohin, sondern erst mal nur weg von ihnen – was hätte sie dafür gegeben, sich jetzt einfach auf den Heimweg machen zu können, keinen Gedanken mehr an den Wald, die Freiheit zu verschwenden, sondern einfach in der Villa Aurelia verschwinden zu können. Aber wenn die Römer erst einmal das Zeichen sahen, herausfanden, dass sie tatsächlich eine Sklavin war, dann würden sie sie erst recht nicht mehr gehen lassen. Dann würden sie sie, zumindest vorerst, behalten, wer wusste schon wie lange, und wer wusste wohin sie sie bringen oder was sie mit ihr machen würden… und dann, irgendwann sicher, würde sie zur Villa Aurelia kommen – aber sie würde von den Soldaten hingebracht werden, als Sklavin, die versucht hatte zu fliehen, und dann… Sivs Mund wurde auf einmal staubtrocken, und ihre Augen weiteten sich, als ihr langsam klar zu werden begann, was für Konsequenzen ihre unbedachte Aktion wirklich nach sich ziehen würde. Matho würde sie nicht mehr aus dem Haus lassen, wahrscheinlich nicht einmal mehr aus den Augen, Ursus würde sie vermutlich so schnell wie möglich nach Rom zurückschicken, und Corvinus… daran wollte sie gar nicht denken, genauso wenig wie sie an die Reaktionen denken wollte – Matho würde sich nur bestätigt sehen, aber Ursus wäre enttäuscht, und ein paar der anderen wohl auch, selbst wenn sie sie verstehen konnten. Und davor graute es Siv noch mehr als vor der Strafe, die sie erwarten würde.


    Also keilte sie aus, wehrte sich weiter. Sie hörte die Worte des Soldaten – gib auf, du machst es nur schlimmer –, aber ihre einzige Antwort bestand darin, dass sie mit dem Fuß nach ihm trat. Nur, je stärker der Soldat zudrückte, desto schwächer wurden ihre Bewegungen. Sie konnte einen Stöhnen nicht mehr unterdrücken, und schließlich wurden ihre Arme so stark auf den Rücken verdreht, dass sie sich nach vorne beugen musste, um dem Druck auszuweichen. Wieder begann sie zu schimpfen, diesmal in einem Kauderwelsch aus Latein und Germanisch – und diesmal auch mit einem verzweifelten Unterton, der zwar von der Wut überdeckt wurde, aber dennoch da war. "Nein, nein! Lass mich… Nein, lass, lass los! Aaah, Mistkerl!" Siv keuchte, als der Druck auf ihre Arme noch stärker wurde, und als auch noch der andere zugriff, ließ ihre Gegenwehr endlich spürbar nach. Die beiden Soldaten hatten sie in einem Griff, gegen den sie nichts mehr ausrichten konnte außer sich selbst Schmerzen zuzufügen, und sie hätte am liebsten geheult vor Wut und Hilflosigkeit. Stattdessen biss sie sich nur auf die Unterlippe, die prompt wieder zu bluten begann, und presste die Lider zusammen, als ihr Kopf nach unten gedrückt wurde und eine Hand ihre Haare beiseite schob, um den Nacken freizulegen.

    Sivs Augen blitzten auf, als der Neuankömmling ihr auf Germanisch antwortete. Überrascht war sie tatsächlich, war er doch der erste Römer, dem sie begegnete, der ihre Muttersprache konnte – oder es zumindest zu erkennen gab. Aber es störte sie nicht, dass er sie verstanden hatte, ganz im Gegenteil. "Oh, du verstehst was ich sage – das ist großartig, auf Latein kann ich euch nicht halb so schön verfluchen und ich will doch, dass wenigstens einer weiß, was ich euch an den Hals wünsche!" Eine leise Stimme begann langsam, sich zu melden, versuchte sie darauf hinzuweisen, dass sie ihre Situation keineswegs besser machte, wenn sie jetzt begann sich derart aufzuführen. Aber die Angst hatte sie viel zu sehr in ihrem Griff, als dass sie logischem Denken jetzt wirklich zugänglich wäre – ganz im Gegenteil. Angst war ein schlechter Ratgeber, und Siv reagierte darauf, wie sie immer darauf reagiert hatte: Sie verbarg sie, ignorierte sie, und konzentrierte sich auf das einzige, was ihr dabei half – Trotz, Wut und Hass. Sie verspürte nur den Wunsch, wegzukommen, irgendwie. Die vergangenen Monate, in denen sie ruhiger geworden war, in denen ihr Hass auf alles, was römisch war, abgenommen hatte – einfach durch das Leben mit Römern, das sie mehr oder weniger gezwungen hatte zu sehen, dass nicht alle gleich waren, egal ob sie es zugeben wollte oder nicht –, diese Monate, die Entwicklung, die mit ihr passiert war, schienen auf einmal vergessen zu sein. Die Siv, die jetzt die Oberhand in ihr hatte, war das widerspenstige, wütende und tief im Inneren angsterfüllte Mädchen, das in einem anderen Teil von Germanien vor gar nicht allzu langer Zeit gefangen genommen und nach Rom verschleppt worden war.


    Das spöttische Lächeln, mit dem der Römer sie ansah, machte sie nur noch wütender, weil es ihr mehr als alles andere ein Gefühl der Ohnmacht vermittelte, das Wissen, nichts tun zu können… Siv bäumte sich erneut auf in dem Griff des Soldaten, der sie hielt, wand sich und zerrte mit ihren Armen, um wenigstens eine Hand frei zu bekommen, aber sie erreichte nur, dass auch der zweite Legionär zugriff und sie festhielt. Trotzdem wehrte sie sich noch einmal, warf sich in dem Griff so weit nach vorne, wie es möglich war, und spuckte dem Soldaten ins Gesicht, dessen spöttisches Lächeln in ihren Augen auf einmal zu einer Grimasse zu werden schien. Die Hand auf dem Schwertknauf dagegen registrierte sie nicht einmal am Rande, und selbst wenn – es hätte sie in diesem Moment kaum interessiert. "Soll Hel dich holen und ihren finstersten Kreaturen vorwerfen!"

    Siv stand da und starrte noch immer die – inzwischen wieder heruntergelassene – Plane an, als sie auf einmal Hände auf sich spürte, die sie grob packten und umdrehten. Die Germanin erstarrte nur für einen Moment, dann versuchte sie sich loszureißen, was allerdings nur zur Folge hatte, dass einer der beiden Soldaten ihr die Arme schmerzhaft auf den Rücken drehte. Sie verbiss sich einen Schmerzlaut und bäumte sich in dem Griff auf, wehrte sich dagegen und konnte doch nichts ausrichten. Die Angst schlug zu und vernebelte erneut ihr klares Denken – die Soldaten hatten sie wieder, das war das einzige, was in ihrem Kopf hämmerte. Sie hatten sie, und sie war ihnen ausgeliefert. Ihr kam gar nicht die Idee zu versuchen, sich irgendwie heraus zu reden, so gering diese Chance auch sein mochte – nicht dass sie doch noch frei kam, aber wenigstens den Soldaten entkam und unbehelligt zur Villa zurückkehren konnte. Inzwischen waren auch noch die zwei hinzugekommen, die sie gerade eben angehalten hatten, und die kurze Unterhaltung der Männer, die sie umzingelt hatten, rauschte an ihr vorbei. Sie hörte zwar was gesagt wurde, aber die Worte schienen nicht viel Sinn zu ergeben, nicht im Moment, und sie ging selbst nicht darauf ein. Stattdessen wehrte sie sich nach wie vor gegen den Griff, der sich allerdings urplötzlich lockerte und dann in einen Stoß verwandelte, der sie auf den Boden schickte. Diesmal konnte sie einen kleinen Aufschrei nicht mehr unterdrücken, als sie unangenehm Kontakt mit den Pflastersteinen machte und sich das Handgelenk aufschürfte. Das Brennen brachte sie allerdings wieder einigermaßen zu Besinnung und half ihr die Panik zurückzudrängen. Nur änderte das nicht sonderlich viel an ihrer Einstellung gegenüber den Soldaten.


    Zeit zum Aufstehen hatte sie nicht, denn schon beugte sich einer der Männer zu ihr hinunter und sprach mit ihr, und für einen Moment starrte sie ihn nur an. Sie bemerkte die Freundlichkeit nicht, weder in der Miene, noch in der Geste oder den Worten. Sie sah nur einen Soldaten, und eher unbewusst wich sie zurück. Ihr Inneres begann zu brodeln, als altvertraute Wut in ihr hochstieg und sich mit ihrer Angst zu etwas Explosivem zu vermischen begann. Noch währenddessen ruckte ihr Kopf hoch, als wieder Worte fielen, und wütend funkelte sie den anderen Soldaten an. "Ich bin nicht krank", fauchte sie, und im nächsten Augenblick tauchte noch jemand auf, noch ein Soldat. Fünf waren es jetzt. Fünf Soldaten, alle um sie herum. Sie hatte eine Chance gehabt zu entkommen, aber sie hatte sie nicht genutzt, und jetzt war es zu spät. Siv presste die Zähne aufeinander. Sie mochte hoffnungslos unterlegen sein, aber es gab keinen Grund, warum sie vor ihnen auf dem Boden rumliegen sollte, um das noch mehr zu symbolisieren. Während einer der Soldaten zu erklären begann, was passiert war, sprang Siv – die entgegen gestreckte Hand ignorierend – mit einem Ruck auf, so heftig, dass offenbar der Soldat hinter ihr darin einen erneuten Fluchtversuch vermutete und sie prompt wieder in einen festen Griff nahm. Siv bäumte sich erneut auf und begann nun auf Germanisch zu schimpfen. "Lass mich los, du Idiot! Die Thursen* sollen euch anfallen, wenn ihr so scharf auf Krankheiten seid, aber lasst mich los, lasst mich doch einfach laufen, verdammte Soldaten…"


    Sim-Off:

    *germanische Riesendämonen, verursachen Krankheiten und Irrsinn

    Then took the other, as just as fair,
    And having perhaps the better claim,
    Because it was grassy and wanted wear;
    Though as for that the passing there
    Had worn them really about the same


    Sie war durch das Tor hindurch. Hindurch… und draußen, auf der Straße, die wegführte von der Stadt und von den Römern. Siv wurde für einen winzigen Moment beinahe schwarz vor Augen, als die Aufregung im Nachhinein erst wirklich zuschlug. Das letzte Hindernis, das sie von ihrer Freiheit trennte, lag hinter ihr… und der Wald vor ihr. Und doch blieb ihr Schritt verhalten, nicht etwa um weiterhin nicht aufzufallen, weil sie noch zu nahe am Tor war, sondern weil sie… etwas zurückhielt. Der Wald lockte, rief nach ihr, und inzwischen waren auch Bilder ihrer Familie vor ihrem inneren Auge aufgetaucht, ihr Vater, ihre Brüder, die nach so langer Zeit endlich wieder in greifbare Nähe gerückt waren, die sie wiedersehen konnte, wenn sie die Gelegenheit ergriff, die sich ihr bot. Und doch… mit ihnen waren andere Bilder aufgetaucht, von Menschen, die ihr inzwischen auch etwas bedeuteten, vor allem aber eines, eines, das klarer war als die der anderen, klarer als die ihrer Familie, und sie zurückdrängte. Was war sie im Begriff zu tun? Bevor ihre Gedanken aber weiter in diese Richtung gehen konnten, spürte sie auf einmal eine Hand auf ihrer Schulter. Die Germanin erstarrte. Quo vadis… Sie wollte sich nicht umdrehen, wollte nicht sehen, wer sie da aufhielt, denn solange sie es nicht sah, konnte sie sich einreden, es wäre nur irgendein Händler… Aber dann sah sie eine Bewegung aus ihrem linken Augenwinkel und sah unwillkürlich hinüber, und ihre Befürchtung bewahrheitete sich. Die Wachen. Die Soldaten… Wieder begannen ihre Gedanken zu rasen und überschlugen sich diesmal regelrecht, als Erinnerungen auf sie einschossen, Blitzlichter, Fetzen ihrer Vergangenheit, wie sie gefangen genommen worden war, wie sie nach Rom transportiert wurde, wie die Soldaten sie behandelt hatten. Sie hatte ihren Hass gegenüber Römern inzwischen weitestgehend abgelegt, aber nicht ihren Hass gegenüber Soldaten – genauso wenig wie ihre Angst vor ihnen. Zu schlecht waren die Erfahrungen, die sie gemacht hatte, die zumal die einzigen Erfahrungen gewesen waren, die sie mit römischen Soldaten je gemacht hatte.


    Sivs Mund war auf einmal staubtrocken. Noch immer schien sie nicht klar denken zu können, aber eines war ihr bewusst: dass sie in Schwierigkeiten steckte. Nur wie sie am besten heraus kam, wollte ihr nicht einfallen. Stattdessen begann sich langsam, aber sicher ein Gefühl der Panik in ihr auszubreiten. In die Hände von römischen Soldaten zu fallen, war immer schlecht, hämmerte es in ihrem Kopf, es konnte gar nicht gut gehen, ihr Leben lang hatte sie gelernt, Römer und vor allem Soldaten zu fürchten, und diese Furcht hatte sich bei ihr auch begründet gezeigt. Immer noch tobte es in ihr, und gleichzeitig war ihr Kopf paradoxerweise wie leergefegt. Wenn sie sich aus dieser Situation überhaupt noch hätte retten wollen, dann nur mit kühlem Verstand, indem sie den Wachen etwas vorspielte, vorgab Händlerin zu sein, auf dem Weg nach Hause, oder auf einem Botengang… irgendetwas. Aber soweit dachte Siv gar nicht. Sie spürte die Hand auf ihrer Schulter, sah den Soldaten neben sich, und wollte nur eines: weg. Sie hatte sich halb umgedreht, sah den Soldaten von der Seite an, der sie angesprochen hatte, antwortete aber nicht auf seine Worte. Einen Moment starrte sie ihn nur fassungslos an, dann reagierte sie – wie ein Tier, das seinem Fluchtinstinkt folgte. Sie duckte sich, tauchte unter seiner Hand weg, wich dem anderen aus und war mit ein paar Sätzen in den Menschen verschwunden, die sie umgaben. Sie schlängelte sich durch die Menge, gehetzt, aber ohne sich umzublicken, und sie verlangsamte ihr Tempo erst, als sie zwischen mehreren Karren angekommen und dem Blickfeld der Soldaten völlig entzogen war. Siv schloss die Augen und holte tief Luft, und bereits zum wiederholten Mal innerhalb kurzer Zeit hatte sie das Gefühl, dass in ihrem Kopf alles verrückt spielte und sich erst langsam wieder so etwas wie Ordnung herstellte. Das alles, der Satz, der sie von den Soldaten weggebracht hatte, das Hetzen durch die Menge und jetzt das Durchatmen, schienen für Siv eine Ewigkeit zu sein – und doch war es innerhalb weniger Herzschläge geschehen.


    Als die Germanin die Augen wieder öffnete, stellte sie fest, dass sie gemustert wurde. Aus dem Wagen, der direkt vor ihr war, sah ihr ein Gesicht entgegen, dass einer Frau, etwa zwanzig Jahre älter als sie, schätzte Siv. Und als sich ihre Blicke begegneten, streckte sie die Hand aus und winkte ihr. "Komm! Na komm schon, im Moment sehen sie dich nicht! Wenn du reinkletterst, hast du eine Chance!" Siv starrte sie für einen Moment nur an, während sie versuchte zu begreifen, was die Frau gerade angeboten hatte. Aber sie brauchte nicht lange – noch befand sie sich zwischen mehreren Karren, vor allem hinter waren genug, so dass sie abgeschirmt war von Blicken vom Tor. Sie hatte keine Ahnung, wo die Soldaten gerade waren und was sie taten, aber dass sie ihr auf den Fersen waren, war ihr klar. Wenn sie jetzt in den Wagen kletterte, und dieser dann schneller wurde… wer sollte sie denn aufhalten? Und Siv brauchte dieses Versteck nicht lange, nur bis sie die Biegung erreicht hatten, dort wo der Wald begann… Bis die Soldaten sich Pferde organisiert hatten, könnte sie verschwunden sein… Mit einem Schritt war sie am Wagen, aber die hilfreich entgegengestreckte Hand nahm sie dann doch nicht an. Wieder drängten sich Bilder in ihr Bewusstsein, Bilder von dem, was sie erlebt hatte – aber weder von ihrer Heimat noch von ihrer Verschleppung. Es waren Bilder von Rom, von den Menschen dort. Cadhla war da, und ihr Gespräch im Garten, während sie die Blätter eingesammelt hatten… Tilla, die immer noch nicht ganz gesund gewesen war, als sie abgereist waren… Hektor, der immer fröhlich zu sein schien und stets da war, wenn man ihn brauchte, und Merit, die so trotzig sein konnte wie sie selbst, so aufsässig, und dann doch wieder so zerbrechlich zu sein schien… Und Corvinus. Sie sah ihn so deutlich, als ob er vor ihr stünde, sah die Augen, in denen gutmütiger Spott funkelte, der Mund, zu einem leichten Schmunzeln verzogen, meinte seine Haare unter ihren Fingern zu spüren und die Bartstoppeln unter ihren Lippen. Unbewusst hob sie die Hand und fuhr mit den Fingerspitzen sachte über den silbernen Anhänger an ihrem Hals. Ich vertraue dir. Siv schloss die Augen, die kurz zuvor noch ins Leere gestarrt hatten. Ich vertraue dir…


    "Na was ist nun, was hast du?" Vertrautes Germanisch drang an ihre Ohren, aber die Worte, die in ihrer Erinnerung klangen, zerstoben nicht, genauso wenig wie die Bilder. Siv öffnete die Augen und sah die Hand vor sich, die ungeduldig winkte, und obwohl sie etwas damit anfangen konnte, obwohl sie wusste, dass sie sie ergreifen sollte, musste, wenn sie überhaupt eine Chance haben wollte zu entkommen, starrte sie sie nur an und rührte sich nicht. Erst jetzt realisierte sie wirklich, was eine Flucht bedeutete, was für eine Entscheidung es tatsächlich war, die sie da treffen musste – sie hatte die Gelegenheit zu fliehen, frei zu sein, vielleicht – vielleicht! – nach Hause zu kommen und ihre Familie wiederzutreffen, sofern sie noch da und wohlauf waren. Aber gleichzeitig bedeutete das, die Menschen aufzugeben und nie wiederzusehen, die ihr in den letzten Monaten ans Herz gewachsen waren. Und nicht nur sie aufzugeben, sondern auch sie zu enttäuschen, vor allem einen. Siv war ein Mensch, der mit entgegengebrachtem Vertrauen behutsam umging, weil es kostbar war. Sie war kein Mensch, der es sich erschlich und dann ausnutzte. Sie war ehrlich, und sie stand zu ihrem Wort, egal was das für sie nach sich ziehen mochte, und zu realisieren, dass sie im Begriff war ihrem Wesen zuwider zu handeln, dass sie im Begriff war jemanden zu verraten, sein Vertrauen auszunutzen… noch dazu jemanden, der ihr viel bedeutete, so viel, dass sie es im Moment gar nicht ermessen konnte, mehr als ihr bewusst war. Siv stand da, sah die Frau in dem Wagen vor sich an und konnte es nicht, konnte diese Entscheidung nicht treffen, wollte sie nicht treffen und musste es doch. Ein paar schnelle Schritte brachten sie vorwärts, näher zu dem Wagen heran, der bereits ein Stück vorgerollt war, aber immer noch griff sie nicht nach der Hand, immer noch zögerte sie, zögerte sie, den endgültigen Schritt zu tun. Sklavin zu sein war nie etwas, was sie gewollt hatte – aber sie wollte auch nicht ihre Freiheit zurückbekommen, wenn der Preis dafür war, dass sie Vertrauen missbrauchte, und, weit wichtiger noch: sie wollte nicht das zurücklassen, was sie in den letzten Monaten gefunden hatte, wollte nicht manche Menschen – ihn – nie wieder sehen, sprechen, spüren können. Und noch während sie dastand und leise Worte hörte, sanfte Berührungen spürte, Augen auf sich gerichtet sah, die sie manches Mal verständnislos, aber immer ehrlich angesehen hatten, verschoben sich die Wagen um sie herum. Die einen waren schneller, die anderen langsamer, und die Konstellation, die ihr Sichtschutz bot, löste sich nach und nach auf, unendlich langsam in ihrer subjektiven Zeitwahrnehmung, in der Realität aber nach nur wenigen Momenten. Und als der Blick zwischen die Wagen wieder frei war, war Siv immer noch da, scheinbar planlos, während die Frau wieder in dem Wagen verschwunden war und es keinerlei Anzeichen für das Hilfsangebot gab, das diese gegeben hatte.



    And both that morning equally lay
    In leaves no step had trodden black.
    Oh, I kept the first for another day!
    Yet knowing how way leads on to way,
    I doubted if I should ever come back.

    Es war so leicht. Sie müsste sich nur mit der Menge treiben lassen, das war alles. Sie war bei weitem nicht darauf vorbereitet, im Wald zu überleben. Sie hatte ein Messer dabei – das hatte sie bereits in Rom schon bald stets mit sich getragen, ohne jemandem etwas zu sagen; solange niemand davon wusste, konnte es ihr niemand verbieten, und solange es niemand verboten hatte, tat sie theoretisch nichts falsches. Und ein Messer war etwas, das man immer irgendwie brauchen konnte, ganz davon abgesehen, dass Siv nicht so blauäugig war zu glauben, dass sie vor Überfällen gleich welcher Art gefeit war, ob nun in einer Stadt, auf einer Reise über befestigte Straßen – oder in der Wildnis. Dennoch, hätte sie tatsächlich eine Flucht geplant, sie hätte ihre Schleuder dabei, ein Seil, das Netz, Proviant… Nicht zu viel, damit es nicht zu auffällig war, aber doch mehr als sie im Moment dabei hatte. Vor allem ihre Ledersachen hätte sie angezogen, die sie weit besser vor der Kälte geschützt hätten als die Tunika und der Umhang, die sie jetzt am Leib trug, zumal sie am Tor in römischen Kleidern eher auffallen würde. Aber es würde trotzdem gehen. Das Messer reichte. Alles was sie sonst noch brauchte, konnte sie sich irgendwie beschaffen. Und der Zeitpunkt hätte nicht besser gewählt sein können – jetzt, wo die Händler, Blondschöpfe wie sie und in den verschiedensten Gewandungen, aus der Stadt strömten, so viele, dass die Wachen am Tor sich nicht die Mühe machten, sie zu kontrollieren, jetzt war die beste Gelegenheit, um unerkannt hinauszukommen, selbst in Kleidung, die eindeutig römisch war und eindeutig besser als das, was sich Peregrini normalerweise leisten konnten. Wenn sie sich nur unauffällig benahm und sonst keine Aufmerksamkeit auf sich zog, standen die Chancen gar nicht mal so schlecht, dass die Wachen am Tor nicht auf sie achteten.


    Siv setzte sich wieder in Bewegung, unbewusst, unbestimmt, schien kein richtiges Ziel zu haben und näherte sich doch immer weiter dem Tor. Immer noch schien ihr klares Denken ausgesetzt zu sein. Sie dachte im Grunde gar nicht nach, sie ließ sich einfach treiben. In ihrem Kopf formulierte sich kein bewusster Gedanke, und so gab es im Grunde auch keinen Gedanken an Flucht, geschweige denn an das, was es nach sich ziehen könnte und würde. Sie sah nur den Wald, zum Greifen nah. Ihr Geist arbeitete im Moment nur in Bildern und Gefühlen, rein intuitiv. Gerade das machte ihr Verhalten auffällig. Die Germanin wirkte in der sie umspülenden Menschenmenge wie ein Fremdkörper, die einzige, die keine klare Bestimmung, kein Ziel zu haben schien, und obwohl ihre ganze Aufmerksamkeit auf das Tor gerichtet zu sein schien, war sie gleichzeitig sonderbar abwesend. Und plötzlich verschob sich etwas in ihrem Kopf, schien wieder einzurasten, und ihre Gedanken begannen zu rasen. Der Wald lag zum Greifen nah – und mit ihm die Freiheit. Sie blieb erneut stehen, so abrupt, dass sie diesmal von ein paar Menschen angerempelt wurde, die nicht auf ihren plötzlichen Halt vorbereitet gewesen waren. Erst jetzt realisierte Siv, welche Möglichkeit sich ihr gerade bot, dass sie wieder frei sein konnte, wenn sie die Gelegenheit jetzt nur nutzte, dass sie wieder nach Hause konnte, zu ihrer Familie, ihren Freunden, zurück in ihre Heimat… Die Germanin fackelte nicht lange. Zum zweiten Mal ging sie weiter, diesmal mit zielgerichteten Bewegungen, sich dem Fluss der Menge anpassend. Wieder handelte sie mehr unbewusst, diesmal aber nicht, weil sie überhaupt nicht nachdachte, sondern weil ihre Gedanken so rasant dahin jagten, dass sie sie kaum bewusst registrierte. Sie zog den Umhang enger um sich und schloss sich einer kleinen Gruppe an, ein paar Händler mit ihren Frauen und einem Wagen, die Kleidung zwar nicht von der Qualität wie ihre eigene, aber immerhin römisch. Sie hielt in der Menge genug Abstand, dass es der Gruppe nicht auffallen würde, war aber doch nahe genug, dass jeder Außenstehende denken musste, sie gehöre dazu. So näherten sie sich dem Tor, immer mehr, und Sivs Gedanken rasten jetzt so schnell, dass ihr beinahe schwindlig wurde. Fetzen schossen an die Oberfläche, in ihr Bewusstsein, wie Blitze, die mögliche Szenarien stakkatoartig erhellten:


    ~ die Wachen kontrollierten ausgerechnet diese Gruppe ~


    ~ sie im Wald, frei, einen Jubelschrei auf den Lippen ~

    ~ die Händler, die auf sie aufmerksam wurden und sie ansprachen ~


    ~ ihre Brüder, die sie sprachlos anstarrten ~


    ~ sie auf Idolum, über eine Wiese rasend ~

    ~ eine Hand in ihrem Haar


    …vertraue dir…
    spielerisch eine Strähne drehend ~


    ~ sie, wie sie erwischt wurde ~


    Und dann waren sie vorbei. Vorbei an den Wachen, durch das Tor hindurch, auf dem Weg, der hinaus führte, hinaus aus der Stadt, in die Freiheit. Erst jetzt wurde Siv die Anspannung bewusst, unter der sie gestanden hatte, und im Nachhinein schlug die Aufregung und die Angst erst richtig zu, fing ihr Körper an zu zittern und verrückt zu spielen. Eine bebende Hand hob sich und strich ein paar Strähnen zurück, auf der Stirn bildeten Schweißperlen, ihr Herz begann zu rasen und in ihrem Magen flatterte es, während er sich gleichzeitig umzudrehen schien. Nur mühsam konnte Siv sich wenigstens halbwegs kontrollieren, während ihr Verstand langsam, unendlich langsam zu realisieren begann, was gerade geschehen war.

    Two roads diverged in a yellow wood,
    And sorry I could not travel both
    And be one traveller, long I stood
    And looked down one as far as I could
    To where it bent in the undergrowth


    Die Stadtmauer. Die Straße, auf die sie nun getreten war, führte zur nördlichen Stadtmauer, genauer auf eines der Tore zu, die hinausführten. Siv war bewusst gewesen, dass der Empfänger des letzten Briefs in den äußeren Bezirken der Stadt wohnte, aber dass die Mauer so nah war, hatte sie dann doch nicht erwartet. Langsam ging sie weiter, unbewusst und unwillkürlich auf das Tor zu, das noch in einiger Entfernung war. Mehrere Querstraßen kreuzten die, auf der sie sich bewegte, und viele waren unterwegs, Händler, die den Tag über auf den Märkten ihre Waren angeboten hatten und sich nun auf den Heimweg machten, um vor Einbruch der Dunkelheit nach Hause zu kommen, Menschen, die aus irgendwelchen Gründen draußen gewesen waren und dasselbe wollten wie die Händler, nur dass für sie ihr Zuhause in der Stadt lag und nicht außerhalb, und Reisende, die in beide Richtungen unterwegs waren und deren endgültiges Ziel irgendwo in grauer Ferne liegen mochte.


    Siv bekam davon nichts mit. Sie glitt durch die Menge wie ein Fisch durch Wasser, ließ sich umbranden, wich unbewusst aus, wo es unumgänglich war, und zwang im Übrigen die Menschen, ihr auszuweichen, sie gleichsam zu umschiffen, da sie sich, selbst wenn sie gerade unter denen war, die dieselbe Richtung wie sie einschlugen, langsamer bewegte als die meisten. Ihr Blick hing wie festgesogen am Tor, oder besser: an dem, was dahinter zu sehen war. Die Straße, umrahmt von Feldern und Wiesen, und dahinter, beschienen von der untergehenden Sonne, der Wald. Sivs Herz begann schneller zu schlagen. Seit sie in Mogontiacum angekommen waren, war sie noch nie so nahe an der Stadtmauer gewesen, hatte nie einen Blick durch eines der Tore werfen können. Auf der Reise hierher hatte sie gar keine Gelegenheit gehabt, viel Gedanken daran zu verschwenden, was es letztlich bedeuten konnte, wieder in Germanien zu sein – zu viel Sorgen hatte sie sich gemacht um Merit-Amun, zu sehr waren ihre Gedanken darauf gerichtet, die kleine Ägypterin, die sie ohne deren Zutun bereits am ersten Tag so sehr in ihr Herz geschlossen hatte, einfach weil sie sich selbst in ihr gesehen hatte, nicht Hel zu überlassen. Und dann waren sie in der Stadt angekommen, waren zwischen Mauern aus Stein verschwunden.


    Aber jetzt stand sie hier. Merit befand sich auf dem Weg der Besserung, aber das fand in ihren Gedanken genauso wenig Platz wie die Leute um sie herum oder irgendetwas anderes. Fast schon traumwandlerisch ging sie weiter, kreuzte eine Querstraße, ihr Schritt noch langsamer werdend, das Tor immer noch in einiger Entfernung, und doch näherte sie sich ihm unaufhaltsam. Die Bäume des Waldes schienen zu schimmern. Das warme Licht, in das sie getaucht waren, ließ die Schatten weich werden und spielerisch zerfließen, verwoben mit dem dunklen Grün der Tannen, abgehoben in zartem Kontrast zum helleren der Laubbäume. Siv verlor sich in der Vergangenheit, verlor sich in Gedanken an Zeiten, in denen sie durch ebensolche Wälder gestreift war, frei und ungebunden. Ihre Erinnerung malte vieles strahlender, als es letztlich gewesen war, aber dennoch war die Tatsache nicht zu leugnen, dass sie den Wald immer über alles geliebt hatte, dass sie es geliebt hatte, Stunden, Tage dort zu verbringen, mit dem ein oder anderen Bruder oder Freund, oft aber auch ganz alleine, zu laufen, zu schwimmen, zu jagen. Sie wusste um die Gefahren, die dort drohten, war mit ihnen aufgewachsen und wusste, wie ihnen zu begegnen war. Im Gegensatz zu vielen, denen sie in den letzten Monaten begegnet war, hielt die Wildnis für sie keine unbekannten Schrecken bereit, lauerten dort keine unheimlichen Kreaturen. Sie kannte die Risiken, die es bedeutete, dort sein, dort leben zu wollen. Die Germanin war immer langsamer geworden und schließlich ganz stehen geblieben, während ihr Blick unverwandt auf das Tor gerichtet war. In ihren Augen begann der Wald, selbst auf die Entfernung hin, auf einmal zu strahlen, und der Lockruf, den er aussandte und den sie in ihrem Herzen hörte, schien übermächtig zu werden.

    Der Geruch nach Schnee lag in der Luft. Siv sog sie tief in die Lungen und genoss das prickelnde Gefühl und das eigentümliche Aroma, das verriet, dass die Sonnenstrahlen morgen früh vermutlich auf gezuckerte Dächer treffen würden. Der Frühling hielt zwar auch hier langsam Einzug, trotzdem konnte es immer noch empfindlich kalt werden, und die Germanin freute sich schon auf das Schneetreiben, das der Wind ankündigte. Kühle Luft erfüllte die späten Nachmittagsstunden, und der Himmel war von einem hellen Blau, so kristallklar, dass es fast durchsichtig schien. Nur wenige weiße Streifen zeigten sich, weit entfernt und so schmal, dass sie sich kaum abhoben von dem ebenfalls hellen Hintergrund.


    Noch einmal atmete Siv tief ein, während sie mit einem prüfenden Blick in den kleinen Beutel, den sie bei sich trug, kontrollierte, was sie noch zu erledigen hatte. Nur um festzustellen, dass sie, bis auf eines, mit allem fertig war, und das schneller als erwartet – was zusätzliche Freizeit für sie bedeutete, sofern sie nicht den Fehler beging, gleich zurück zu gehen, sobald sie auch diesen letzten Botengang hinter sich gebracht hatte. Seit sie hier angekommen waren, war Siv im Grunde ständig unterwegs gewesen, jedenfalls hatte sie den Eindruck. Mogontiacum war eine römische Stadt, und im Gegensatz zu ihrer Reise war es hier kein Problem, mit Latein alles zu bekommen, was man brauchte – dennoch traf man überall auf Menschen und Orte, wo es sich zum Vorteil auswirken konnte, wenn man Germanisch sprach. Deswegen war Siv eigentlich immer mit dabei, wenn es in der Stadt etwas zu tun gab. Heute hatte sie, zusammen mit anderen Sklaven, eingekauft, und jetzt war sie, allein, unterwegs, um den Rest zu erledigen – in der Villa gab es ein paar Dinge, die repariert werden mussten, und sie hatte verschiedene Handwerker aufgesucht und Aufträge verteilt. Die Absprachen waren leichter gewesen als erwartet, von Matho erwartet, der ihr das eigentlich nicht zugetraut hatte. Siv hatte sich gefragt, warum er sie dann trotzdem losgeschickt hatte – vielleicht um dann hinterher hämisch grinsen und ihr seine Überlegenheit demonstrieren zu können, wenn sie ihm gestehen musste, dass sie es nicht geschafft hatte, seinen Auftrag auszuführen. Letztlich konnte ihr das egal sein, jetzt musste sie nur noch ein paar Briefe verteilen, einen noch, hieß das, dann war sie fertig und konnte, bis die Sonne unterging, tun und lassen, was sie wollte.


    Der Empfänger des Briefs, den sie bei sich trug, musste in dieser Gegend wohnen, wenn die Beschreibung richtig gewesen war, die ihr eine ältere Frau auf dem Markt gegeben hatte, und tatsächlich, nach nur wenigen Schritten bog sie um eine Ecke und sah die charakteristische Fassade einer kleinen Taverne, die die Frau ihr, genau wie den Rest des Wegs, sehr lebhaft und detailliert beschrieben hatte. Daneben, so die Alte schließlich, würde sie den finden, den sie suchte – und Siv hatte ein breites Schmunzeln unterdrücken müssen, weil die Alte fast enttäuscht zu sein schien, dass ihr kurzes Gespräch mit diesem Satz dann beendet war. Wieder schlich sich ein Lächeln auf ihre Lippen, als sie an die Episode zurückdachte, dann setzte sie sich in Bewegung und lieferte auch den letzten Brief ab, bevor sie wieder auf die Straße trat und ein drittes Mal, mit geschlossenen Augen, ausgiebig Luft holte. Mit der beginnenden Dämmerung wurde es kälter, was sich an den kleinen Wölkchen zeigte, die ihr Atem bildete, als sie die Luft wieder hinausließ. Einen Moment stand sie einfach da, dann ging sie los, in die entgegengesetzte Richtung zu der, aus der sie gekommen war. Wenn ihre Orientierung sie nicht täuschte, wäre es ohnehin ein Umweg, zurückzugehen, weil das Villenviertel woanders lag, aber davon abgesehen wollte sie einfach ein wenig durch die Gegend laufen. Sie folgte den Gassen, die hier schmaler waren und verschlungen, bis sie wieder auf eine breitere Straße traf – und dort etwas sah, was sie stehen bleiben ließ.


    Sim-Off:

    reserviert

    Siv nickte Ursus zu und verschwand ins Haus, wo Matho ihr zeigte, wo die Räume der Sklavinnen waren. Viel Zeit zum Vorbereiten hatte sie nicht, weil der Römer schon mit Merit auf den Armen hinter ihr herkam und sie in das Bett legte, das Siv gerade aufgeschlagen hatte. Mit beiden Händen strich sie sich die Haare aus dem Gesicht und holte tief Luft, während Ursus die Ägypterin hinlegte und sich dann ihr zuwandte. Ihr Blick blieb an Merit hängen, während der Römer zu ihr sprach, aber Siv verstand zumindest das Wichtigste – Alexandros war unterwegs, einen Medicus zu holen, und sie konnten einen anderen rufen, wenn er nicht gut war. Erst bei seiner Frage riss sie ihren Blick los und sah ihn an. "Ja. Wir, wir… kümmern Merit." Allerdings wusste sie nicht, was es noch bringen würde. Merit hätte die letzten Tage nicht quer durch Germanien transportiert werden dürfen, nicht in diesem Zustand – sie hatten unterwegs einfach nichts für die zierliche Ägypterin tun können. Und Siv war sich bei weitem nicht sicher, ob es jetzt nicht schon zu spät war, selbst für einen Medicus.


    Einen Moment lang stand sie nur da und betrachtete Merit-Amun, dann biss sie so fest die Zähne aufeinander, dass sie knirschten. Sie wollte verdammt sein, wenn sie einfach so jemanden aufgab. Jetzt waren sie da, jetzt konnten sie sich angemessen um Merit kümmern, und genau das würden sie tun. Sie nickte Fhionn zu, die ebenfalls herein gekommen war. "Ja, mach Stein heiß. Vier, und… weiter vier, für später." Siv strich erneut über Merits Haare, während sie in Gedanken kurz aufzählte, was zu tun war. Heißer Met oder Wein, mit Kräutern und Honig. Die gebrauchten Sachen mussten sie schleunigst waschen und trocknen. Umschläge. Siv sah sich um, aber in dem Zimmer war keiner mehr. Fhionn war schon los, um die Steine vorzubereiten, Caelyn kümmerte sich vermutlich um Ursus, Alexandros holte den Medicus, und der Rest… kümmerte sich vermutlich um das Gepäck, die Pferde, und darum das Haus wieder bewohnbar zu machen. "Nicht Sorge, Merit. Ich bin zurück, bald." Noch einmal fuhr sie ihr über die Stirn, strich die verschwitzten Haare zurück, dann verließ auch Siv den Raum und machte sich auf den Weg in die Küche. Sie wollte nicht zugeben, nicht einmal vor sich selbst, wie viel Sorgen sie sich tatsächlich um die Ägypterin machte. Unwillkürlich wanderten ihre Gedanken zu Corvinus. Würde er sie jetzt auch noch ignorieren, wenn er wüsste, dass sie dem Tod fast näher war als dem Leben? Während sie durch die Gänge des ihr noch unbekannten Hauses hastete, griff ihre Linke nach dem Silberanhänger um ihren Hals. Würde er sich Sorgen machen um Merit – nicht als sein Besitz, sondern weil sie ein Mensch war? Natürlich würde er das, sagte eine Stimme in ihrem Inneren überzeugt. Wäre Merit ihm tatsächlich so egal wie er getan hat, hätte er sie verkauft. Aber trotzdem hatte er gesagt, dass sie nur Sklaven waren, nicht mehr…


    Siv fluchte lautlos vor sich hin, während sie versuchte, die Grübeleien zu verdrängen. Genau dafür hatte sie jetzt keine Zeit – wollte sie Merit helfen, dann musste sie sich auf sie konzentrieren, und nicht darauf, wie ihr gemeinsamer Herr womöglich reagieren würde, der noch dazu gar nicht anwesend war und erst von Merits Krankheit erfahren würde, wenn alles schon längst vorbei war, egal wie es ausging. Dennoch blieben ihre Gedanken weiter bei dem Mann hängen, dem sie gehörte, kreisten wieder um ihre Gespräche, um den Zusammenstoß, um den Abschied, und schienen sich regelrecht darin zu verheddern, so dass Siv überhaupt nicht mehr wusste, was sie denken sollte. Warum war sie auch ausgerechnet jetzt so weit weg? Wäre er hier, wäre sie in Rom, sie würde zu ihm gehen und ihn darauf ansprechen, um herauszufinden, wie er tatsächlich dachte. Aber das war nicht möglich, und so blieb Siv mit ihren Gedanken und ihrer Verwirrung alleine, während ihre Schritte sie zur Küche trugen, wo Fhionn mit den Steinen hantierte und Sertorio bereits den heißen Met und eine Brühe vorbereitet hatte. Siv füllte eine Schüssel mit kaltem und einen Krug mit warmem Wasser, lud alles auf ein Tablett und machte sich dann auf den Rückweg zu Merit.

    Nachdem Siv fertig war mit den Zimmern, ging sie wieder hinunter in den Hauptraum und setzte sich zu den beiden Germanen, während sie darauf wartete, dass die anderen kommen würden. Ihre Gedanken kreisten um Merit, daher war sie kaum eine gute Gesprächspartnerin, aber eine große Rolle spielte das nicht, da sich die beiden Männer ähnlich wie der Wirt als eher wortkarg erwiesen. Trotzdem war es eine angenehme Atmosphäre, die Siv an ihre Heimat erinnerte und in der sie sich wohl fühlte.


    Als die Germanin schließlich Hufschlag vernahm, lächelte sie den beiden Männern kurz zu und verschwand dann nach draußen, wo ihr Caelyn bereits entgegen kam. Gemeinsam gingen sie zum Wagen, auf der die Ägypterin lag und sie anblinzelte. Siv strich ihr kurz über die Haare und nickte, auch wenn Merit-Amun das vermutlich kaum wahrnahm. "Ja, wir da sind." Sie brachten Merit in das Gasthaus und trugen sie in das Zimmer, das Siv vorbereitet hatte, während der Wirt Ursus das seine zeigte. Vorsichtig verfrachteten sie die Ägypterin in das Bett, wo sie zunächst wuschen und ihr trockene Sachen anzogen, dann positionierten sie die warmen, in Stoffe eingehüllten Steine um sie und hüllten sie in Decken ein. Danach setzte Siv sich ans Kopfende und hob Merits Oberkörper leicht an, legte den Arm um deren Schultern und lehnte sie leicht an sich. "Caelyn, du… kannst bitte, das, das…" Mit der freien Hand gestikulierte Siv zu dem heißen Kräuter-Met-Gemisch, das auf dem Tisch stand. "Merit das… einflößen? Merit trinken muss das. Du kannst geben sie, bitte?"

    Siv unterdrückte ein erleichtertes Aufseufzen, als Matho endlich auf ein Haus zeigte und verkündete, dass dies die Villa der Aurelier in Mogontiacum sei. So sehr sie die Reise genossen hatte, das Reiten, die Umgebung, die vertraute Sprache, die Tatsache, dass zur Abwechslung mal sie diejenige war, die verstand und sich vernünftig ausdrücken konnte – natürlich verstanden hier auch alle Latein, die einen mehr, die anderen weniger, und es gab auch viele Römer, die nur Latein sprachen, aber dennoch, in den Gasthäusern, den Städten, auf Märkten, da kam man weiter, wenn man Germanisch sprach –, so sehr sie das alles eigentlich genossen hatte, seit Merit krank geworden war, hatte das vieles von seinem Reiz verloren. Nachdem in jenem Gasthaus kein Medicus aufzutreiben gewesen war, waren sie weiter gereist, am nächsten Morgen. Siv verzog kurz das Gesicht, als hätte sie Magenschmerzen. Es ging ja nur um eine Sklavin. Mehr nicht.


    Ohne es zu wollen, kam ihr jener Abend in den Sinn, als sie bei Corvinus gewesen war und ihn zur Rede gestellt hatte, zur Rede hatte stellen wollen, besser gesagt, und an seine Antworten, die ihr gar nicht gefallen hatten. Dass er ihr nichts übel nahm, war eine Erleichterung für sie gewesen, als sie sich verabschiedet hatten, aber es hatte nicht lange gedauert, bis sie darüber nachgegrübelt hatte, was denn umgekehrt war. Nahm sie ihm etwas übel? Wenn sie ehrlich war, ja, das tat sie. Wie er reagiert, wie er sie abgefertigt hatte… Vielleicht hätte sie – das gab sie zähneknirschend zu, wenn auch nur vor sich selbst – nicht so hereinstürmen, ihn nicht so anfahren sollen, aber was er gesagt hatte… Es nagte an Siv, dass er offenbar keinerlei Verständnis hatte. Dass er nicht verstehen wollte, warum Merit geflohen war, und damit auch nicht, was für ein Gefühl es überhaupt war, Sklave zu sein, abhängig von einem anderen Menschen. Natürlich wusste sie, dass er nichts an dem System ändern würde, konnte und vermutlich nicht einmal wollte, aber das war es auch gar nicht, was sie erwartet hätte. Nur… es traf sie, immer noch, dass er in Merit – in ihr nur eine Sklavin sah. Und das warf weitere Fragen auf, die sie bis vor ein paar Tagen gekonnt verdrängt hatte, die sich aber mit Merits Krankheit – und der damit verbundenen Tatsache, dass Siv Zeit auf dem Wagen verbrachte und dann keinen Idolum hatte, mit dem sie sich ablenken konnte – nicht mehr abweisen ließen. Sie war nur eine Sklavin – und die Zeit, die sie miteinander verbracht hatten? Die Germanisch-Stunden, die Wege durch Rom, die zufälligen Treffen wie dieses eine im Garten, und nicht zuletzt die Nächte? War das alles gespielt gewesen, von seiner Seite aus? Wie viel davon war ernst gewesen, und wie viel war nur… nun ja, der Tatsache geschuldet, dass er einsam war – was er oft genug gesagt hatte – und sie eben einfach da gewesen war und versucht hatte, Verständnis aufzubringen? Und da war es schon wieder, Verständnis – Siv knirschte mit den Zähnen. Sie hatte versucht, Verständnis für ihn aufzubringen, obwohl er ihr Herr war, obwohl er Römer war, obwohl sein Leben und seine Welt so fremd für sie waren. Aber er brachte es nicht fertig zu verstehen, was es hieß, Sklave zu sein.


    Unwillig zog sie an den Zügeln, was der dunkelgraue Hengst mit einem noch unwilligeren Werfen seines Kopfes beantwortete sowie mit einem Satz nach vorne, und nach ein paar weiteren Sätzen, die teilweise recht hoch in die Luft gingen und die Siv durchaus beabsichtigt hatte, waren sie auch schon da. Sofort sprang die Germanin von Idolums Rücken und wandte sich dem Wagen zu, um zusammen mit den anderen Merit hinein zu bringen, deren Zustand sich in den letzten Tagen noch verschlechtert hatte. Kein Wunder, sie hatten ja kaum eine Möglichkeit gehabt vernünftig dafür sorgen, dass das Fieber gesenkt wurde. Besorgt strich Siv der Ägypterin über die Stirn und die Haare, die trotz der Kälte und den konstanten Bemühungen, sie trocken zu halten, schweißnass waren. Alexandros und Matho waren unterdessen bereits in der Villa verschwunden, in der, wenn Siv es richtig begriffen hatte, jemand von Zeit zu Zeit nach dem Rechten gesehen, die aber im Übrigen leer gestanden hatte. Vermutlich würden sie einiges herrichten müssen, um sie bewohnbar zu machen, zumal einige ja länger bleiben würden – aber bevor sie sich um irgendetwas kümmerten, musste erst einmal Merit versorgt werden. Selbst wenn es anderslautende Anweisungen gegeben hätte oder geben würde, würde Siv darauf nicht achten, auch wenn das für Matho wieder ein gefundenes Fressen wäre.

    Sim-Off:

    Ich zieh das Ganze mal ein bisschen an ;)


    Siv konnte nur hoffen, dass die anderen begriffen hatten, dass Merit-Amun in der kalten Luft nicht absichtlich zum Schwitzen gebracht werden, sondern nur warm gehalten werden durfte – jedes Mal, wenn sie sie umziehen mussten, würde die verschwitzte und fieberheiße Haut mit viel zu kalter Luft in Berührung kommen, und das konnte den Zustand der Ägypterin nur schwächen. Aber darum konnte Siv sich nicht kümmern, nicht im Moment jedenfalls. Sie nickte Hektor kurz zu und grinste schief auf seine Worte hin. "Kennst aus? Hier nein. Aber Straße folgen, das ist gut." Sivs Grinsen wurde kurz breiter, dann, als Hektor sein Pferd antrieb, verstärkte sie den Druck ihrer Unterschenkel, und Idolum stürmte ebenfalls los.


    Einige Zeit galoppierten die beiden dahin. Weit griffen die Pferde aus, Schlamm und dreckiges Wasser spritzte hoch unter den Hufen, und von Zeit zu Zeit war ein härterer Ton zu hören, wenn ein Huf direkt auf den Stein der Straße traf und der Klang nicht gedämpft wurde durch Schnee und Matsch. Siv beugte sich über Idolums Hals, passte sich dessen Bewegung an und war hin- und hergerissen zwischen der Freude über den schnellen Ritt und der Sorge um Merit. Als schließlich in der zunehmenden Dämmerung ein Haus in Sicht kam, war die Erleichterung aber doch weit größer. Allerdings dachte sie nicht daran langsamer zu werden – erst kurz bevor sie vor dem Haus angelangt waren zügelte sie ihr Pferd, und Idolum stoppte so abrupt, dass unter seinen Hufen eine kleine Schlammfontäne emporstieg. Ohne großartig darauf zu achten, was Hektor tat, schwang Siv ihr rechtes Bein über Idolums Hals und sprang von seinem Rücken, um im nächsten Moment die Tür des – wie sie nun feststellte – Gasthauses aufzureißen und darin zu verschwinden.


    Die erste Tür führte sofort in den Hauptraum der Taverne, in der kaum etwas los war. Eine kleine Gruppe Reisender saß in einer Ecke in der Nähe eines lodernden Kaminfeuers, etwas weiter weg saßen zwei Männer, die eher so aussahen, als ob sie hier aus der Gegend kamen. Als die Germanin hineinstürmte, waren es diese zwei, die sich von dem blonden Wirbelwind kaum stören ließen und nur träge zu ihr sahen, während die andere Gruppe überrascht die Köpfe hob und sie neugierig anstarrte. Siv kümmerte sich um keinen von ihnen, sondern marschierte zu einem großen Mann, der gerade dabei war, zwei Krüge mit Met zu füllen. "Heilsa", sprach sie ihn auf Germanisch an. Auf viele Höflichkeiten verschwendete sie keine Zeit, aber zumindest wo sie herkam, spielte das auch keine große Rolle. "Wir bräuchten dringend einen Arzt – eine aus unserer Gruppe ist krank, sie fiebert stark. Gibt es hier einen?" Der Mann erwiderte ihren Gruß und schüttelte dann den Kopf, wobei er etwas mürrisch wirkte. "Naaa." Von der Einsilbigkeit ließ Siv sich nicht abschrecken – sie kannte das noch von früher, von zu Hause. Viele ihrer Landsleute wirkten so rau und abweisend wie das Land, in dem sie lebten, ohne es aber wirklich zu sein. Man durfte sich davon nur nicht einschüchtern lassen, und aufgewachsen und selbst Teil dieses Menschenschlags beachtete Siv sein Verhalten gar nicht weiter. "Kein Arzt. Bei Garms faulem Atem, das ist nicht gut…" Bezeichnenderweise war es ihr etwas leiser gemurmelten Fluch, der den Wohlgeruch des Höllenhunds in Frage stellte, der den Wirt dazu brachte, gleich zu reagieren, anstatt sie erst mal nur abwartend anzusehen. "Bringt se halt erst amal rein.""Unsere Gruppe ist noch ein Stück weit weg, die werden noch etwas brauchen… Aber können wir vielleicht ein Zimmer für sie vorbereiten?" Immer noch scheinbar mürrisch, kratzte sich der Wirt bedächtig am Kinn und nickte dann. "Freilich."


    Die Germanin überlegte nicht lange. Sie drehte sich zu Hektor um. "Du, reiten rück, zurück zu Merit und anderes, bitte? Ich bleibe, für vorbereiten Zimmer für sie." Nachdem der Grieche wieder verschwunden war, brachte Siv erst mal Leben in die Bude. Die andere Gruppe wurde vom Feuer hochgescheucht, als sie ein paar Steine zum Erhitzen bereit legte, und gleich von ihr dazu beordert, auf die Temperatur zu achten und sie herauszunehmen, bevor sie zu heiß wurden. Die beiden Germanen erklärten sich in der derselben trägen, mundfaulen Art, die auch dem Wirt zueigen war, bereit, einen heißen Met mit fieberlindernden Kräutern und Honig zuzubereiten, während sie mit der Andeutung eines Schmunzelns zusahen, wie Siv sich wieder der Gruppe zuwandte und einem Mann auftrug, Wasser aufzusetzen. Hernach verschwand sie mit dem Wirt ins obere Geschoss, wo er ihr die Zimmer zeigte, die er frei hatte.


    Als die Gruppe mit der Kranken schließlich eintraf, hatte Siv nicht nur das Zimmer für Merit vorbereitet, komplett mit heißen Steinen, Wadenwickeln und dem Kräuter-Met-Gemisch, sondern auch das von Ursus. Erst als sie schon fast damit fertig gewesen war, war ihr bewusst geworden, was sie da gerade tat. Wenn sie Rast gemacht hatten, war es Caelyn gewesen, die sich in erster Linie um Ursus und seine Bedürfnisse kümmerte, immerhin war sie seine Sklavin, und den anderen Römer, der dabei war, hatte auch immer jemand anderes übernommen – Siv selbst hatte immer das Lager vorbereitet, wenn sie eins aufschlagen mussten, und sich um die Pferde und die Habseligkeiten gekümmert, und das waren letztlich normale Tätigkeiten, die man auf so einer Reise immer erledigen musste, jedenfalls wenn die Gruppe aus Gleichberechtigten bestand. Es war selbstverständlich, dass sie ihren Teil dazu betrug, nichts, worüber sie sich großartig Gedanken machte. Aber das hier – dass sie sich schon so sehr an ihr Dasein als Sklavin gewöhnt hatte, dass sie ohne nachzudenken – und ohne die Anweisung bekommen zu haben! – das Zimmer für einen Römer vorbereitete, verwirrte und erschreckte sie dann doch.

    Siv sah kurz zu Hektor und meinte: "Nicht ein Sinn Medicus holen. Merit zu bringt zu Medicus. Nicht sie bleiben hier." Im nächsten Moment widersprach Ursus bereits und schickte Hektor doch los, allerdings nicht, um einen Arzt zu holen, sondern um alles vorbereiten zu lassen dafür, wenn sie kamen – und Siv musste innerlich zugeben, dass sie die Worte zuvor wohl falsch verstanden hatte, und nicht nur das: sie hatte gar nicht an diese Möglichkeit gedacht. Während sich der Römer mit Caelyn beschäftigte, hievte Siv Merit auf den Wagen, wo sie sich allerdings aus ihrem Griff befreite und begann, in ihrer Muttersprache vor sich hinzumurmeln, während sie sich gleichzeitig so drehte, dass sie kniete, und sich vor und zurück wiegte. Siv runzelte leicht die Stirn, als sie sah, wie schlimm es offenbar um die Ägypterin stand. Die Germanin verschwendete keinen Gedanken daran, was Merit-Amun gerade tat oder woran sie dachte, auch wenn man sich hätte denken können, dass sie anfing zu beten – Fieberphantasien ergriffen Besitz von ihr, das war deutlich, und Siv fragte sich, wie Merit es geschafft hatte, ihren Zustand die letzten Tage und Stunden sogar vor Alexandros und ihr zu verbergen, mit denen sie am meisten zu tun gehabt hatte. Das schlechte Gewissen begann an ihr zu nagen, weil sie es eigentlich hätte merken müssen, aber offenbar viel zu sehr mit sich selbst und ihrer Freude, wieder nach Hause zu kommen, beschäftigt gewesen war, als zu merken wie es um die Ägypterin stand. Aber für derartige Gefühle war jetzt keine Zeit, also blendete Siv sie einfach aus.


    Auf ihre Worte reagierte dagegen keiner, bis schließlich Alexandros vortrat und eine neue Tunika aus dem Gepäck zog. Siv kniete sich vor Merit-Amun und nahm ihr Gesicht in beide Hände, sie daran hindernd, sich weiter zu wiegen. "Merit. Merit! Komm schon, hör auf damit, du musst dich hinlegen und ausruhen!" Mit Alexandros’ Hilfe zog sie Merit die auf einer Seite durchnässte Tunika aus und die andere an, dann erst sah sie hoch zu Ursus, der sie angesprochen hatte. "Sie warm muss. Warm sein. Sie muss schwitzen, aber nicht in der kalten Luft hier, jedenfalls darf sie nicht anfangen zu frieren…" Siv überlegte, ging in Gedanken die Möglichkeiten durch, die sie hatten. Selbst wenn sie es schafften, Merit vor der kalten Luft zu schützen, durfte sie nicht zu sehr schwitzen, denn sonst müssten sie regelmäßig ihre Sachen wechseln, und das konnten sie nicht hier draußen. "Warm, aber nicht, nicht zu warm, nicht hier, in kalt. Weil, dann, sein mehr schlimm. Wenn Tunika nass sein, oder Merit friert." Einen Kräuteraufguss konnten sie ihr auch schlecht zubereiten, dafür müssten sie erst ein Feuer entfachen, und das würde zu lange dauern. "Das alles. Mehr nicht, nicht… zu sein machen, hier." Einen Moment noch blieb sie bei Merit – sie wollte sie nicht allein lassen, aber sie sah ein, dass sie ihr mehr helfen konnte, wenn sie Hektor begleitete und dafür sorgte, dass alles vorbereitet wurde. Also sprang sie vom Wagen und schwang sich mit einer schnellen Bewegung wieder auf Idolum. Der Hengst spürte ihre Anspannung und machte ein paar Sätze nach vorne, bis er an die Spitze der Gruppe gekommen war, wo er – als Siv ihn zügelte – sich seitlich drehte und nervös herumtänzelte, während die Germanin zu Hektor sah, um im nächsten Augenblick mit ihm lospreschen zu können.

    Kurz nach Siv kam Caelyn dazu und strich Merit ebenfalls über den Kopf, bevor sie sich an Ursus wandte. Die Germanin dagegen sagte gar nichts, sondern fuhr fort, nach sichtbaren Verletzungen zu suchen, während Merit schon wieder versuchte sich aufzurichten. Etwas passiert war bei dem Sturz offenbar nicht, aber dass die Ägypterin krank war, war inzwischen offensichtlich. "Shhh", murmelte Siv nur, als Merit anfing zu sprechen. "Ich weiß nicht was das ist, dass Kranke offenbar immer der Meinung sind, sie bräuchten weder Hilfe noch sonst was…" Siv schüttelte unwillig den Kopf, aber ihr Tonfall blieb ruhig, und einen Moment später sackte Merit in ihren Armen zusammen. Währenddessen fingen die anderen um sie herum an zu diskutieren, was das Beste in der Situation wäre, und Siv sah etwas überrascht hoch. Um was ging es hier? Warum fauchte Caelyn Ursus auf einmal an wie eine wildgewordene Katze? Ursus wollte doch helfen, wollte Merit-Amun ins nächste Gasthaus bringen, oder hatte sie schon wieder was falsch verstanden? Hier liegen bleiben konnte sie jedenfalls nicht, sie hatten bei weitem nicht die Möglichkeiten dafür, alles so herzurichten, dass sie Merit vernünftig versorgen konnten – jedenfalls war das keine Alternative zu der Variante, sie auf den Wagen zu verfrachten und ins nächste Haus zu schaffen. Aber Caelyn hatte sich ohnehin verändert nach dem Vorfall mit dem Diebstahl – sie hatte sich zurückgezogen, kapselte sich von den anderen ab, und Siv kannte sie nicht gut genug, um zu wissen warum oder ob es ihr einfach so gefiel, weswegen sie sie meistens in Ruhe ließ.


    Jetzt aber schüttelte die Germanin den Kopf, was sowohl an Hektor als auch an Caelyn gerichtet war. "Hektor, nein. Du nicht wegreiten, nicht macht Sinn das. Merit müsse weg, weg von kalt und nass. Und Caelyn, Wagen ist gut. Ist gut Merit zu bringen zu Hilfe." Sie bedachte die Keltin mit einem Stirnrunzeln und einem fragenden Blick, ging aber nicht weiter auf das ein, was sie sich insgeheim dachte – warum Caelyn so reagierte. Stattdessen beugte sie sich über Merit, legte einen Arm um ihre Schultern und den anderen unter ihre Knie, und hob sie dann hoch. Die Ägypterin war so klein und leicht, dass Siv keine Probleme damit hatte, sie bis zum Wagen zu tragen, wo sie sie erst einmal absetzte. "Sie müsse andere, anderes… Kleidung haben. Das nass." Hilfesuchend warf sie einen Blick zu den anderen Sklaven. Merit hielt sie im Arm, und sie wollte sie nicht loslassen, um nach einer anderen Tunika zu suchen, damit sie sie umziehen konnte.

    Germanien. Germanien! Sivs Herz schien zu jubilieren, als sie endlich ihre Heimat erreichten. Sie brauchte den Meilenstein nicht, den sie ohnehin nicht lesen konnte, sie brauchte Ursus’ Hinweis nicht, sie spürte einfach, dass sie wieder zurück war, spürte es am Wetter, an der Landschaft, ihrer Umgebung, die rauen Wälder und die matschigen Wege, so wie immer um diese Jahreszeit… Kaum waren sie in höhere Lagen gekommen in den Bergen, hatte Siv ihre alten Ledersachen ausgepackt und angezogen, und die Kälte machte ihr erstaunlich wenig aus – vielleicht gerade weil sie die letzten Monate in Rom verbracht hatte und daher den germanischen Winter nicht satt haben konnte. Ein Winter in Italia war jedenfalls noch nicht ausreichend, um sie zu verweichlichen. Und so vergingen die Tage – Siv hatte manchmal das Gefühl, die Einzige zu sein, die fröhlich war, die dem Wetter und der Umgebung wirklich etwas abgewinnen konnte. Sie versuchte die anderen dazu zu bringen, sich mehr zu bewegen, gelegentlich in einen Fluss zu springen – nichts härtete mehr ab, als in eiskaltem Wasser zu baden, aber irgendwie wollte ihr das keiner so recht glauben. An einer Schneeballschlacht, abends während der Rast, hatten auch die wenigsten Gefallen gefunden, und das war nun etwas, was Siv gar nicht verstehen konnte. So etwas machte einfach Spaß, und darüber hinaus wurde einem warm, jedenfalls wenn man es schaffte, dem Schnee auszuweichen. Aber wenn sich keiner fand, versuchte sie Idolum zu überreden, mit ihr im Schnee herumzutollen, und der Hengst war jung und noch verspielt genug, um mitzumachen. Nur war es nicht ganz leicht, mit ihm eine Schneeballschlacht anzufangen…


    Die Germanin ließ sich nicht die Laune verderben, weder von den anderen, wenn sie mürrisch waren weil sie froren oder weil die Reise ihnen zu anstrengend war oder lang wurde, noch von der Reise oder dem Wetter selbst. Sie atmete tief die vertraute Luft ein, die hier einfach anders war, durchzogen vom Duft der Wälder, von der Frische, der Klarheit, und sie hatte für jeden Lächeln übrig. Es gab eigentlich nur zwei Dinge, die sie dazu brachten, etwas ernster zu werden. Das eine war der Gedanke an Rom – sie vermisste die Stadt nicht, aber sie vermisste die Menschen. Sie fragte sich, wie es Tilla wohl ging, ob sie inzwischen wieder ganz gesund war, und wenn sie an Cadhla dachte, dann spürte sie einen Stich – sie hoffte, dass die Keltin noch da war, wenn sie wieder kam, dass sie noch nicht so bald nach Hispanien abreiste, dass sie sich nicht mehr sehen würden. Und mit leichtem Erstaunen stellte sie fest, dass sie Corvinus vermisste. Gerade nach dem, was wenige Tage vor der Abreise passiert war, hätte sie das nicht gedacht – nicht einmal nachdem sie sich beim eigentlichen Abschied doch wieder, nun ja, verstanden hatten. Aber es war so. Sie vermisste es nicht nur, mit ihm das Bett zu teilen, sondern auch alles andere, die Stunden, in denen sie versuchte, ihm Germanisch beizubringen, und die ganzen anderen Momente, die sie zusammen verbrachten, während derer sie sich unterhielten.


    Das andere, was ihre gute Laune verfliegen ließ, war Merit. Der Zustand der kleinen Ägypterin machte ihr von Tag zu Tag mehr Sorgen. Sie hatte bereits vor Tagen ihre Decke an sie abgetreten, weil sie sie am wenigsten brauchte, aber es schien kaum zu helfen, und schließlich beschloss sie, nicht mehr länger still zu sein. Mit einem Schenkeldruck wollte sie Idolum an die Seite von Merits Stute bringen und ihr mitteilen, dass sie jetzt etwas sagen würde, als die Ägypterin vor ihr sich auf einmal zur Seite neigte und vom Pferd fiel. Einen Moment lang starrte Siv überrascht die Szene vor sich an, dann sprang sie von Idolums Rücken hinunter und war mit einem Satz neben der Sklavin. "Merit. Merit!" Sie strich über Merits Haare und nickte auf Ursus’ Worte hin nur, ohne ihn anzusehen, während ihre Hände weiterglitten und vorsichtig nach Verletzungen suchten, die sie sich bei dem Sturz zugezogen haben könnte. "Merit, du in Ordnung? Du, du ist weh tut?"

    Siv strahlte, wenn das überhaupt möglich war, noch mehr, als sie die Stadt verließen, und Idolum spürte ihre Freude und Ausgelassenheit und benahm sich dementsprechend. Immer wieder versuchte er, nach vorne zu preschen, und wenn sie ihn wieder zügelte, machte er kleinen Seitensprünge oder warf den Kopf hoch, was Siv nur mit einem Lachen kommentierte. "Ruuuhig, Kleiner. Schattenbild. Schattenspiel, das passt fast noch besser. Wir werden sicher noch genug Gelegenheit haben zu rennen." Sowohl Hengst als auch Germanin wollten nichts lieber als jetzt loszurennen, aber zumindest die Frau auf dem Rücken hielt sich noch zurück.


    Tatsächlich gab es auf dem Weg zu den Bergen die ein oder andere Gelegenheit, den Pferden freien Lauf zu lassen – jedenfalls für die, die es wollten, und Siv nutzte jede davon. Auch ihr taten am zweiten und dritten Tag etwas die Muskeln war, war sie lange Tagesritte doch auch nicht mehr gewohnt, aber sie hatte bei weitem nicht die Probleme, die manche der Mitreisenden zu haben schienen. Allerdings hielt Siv das nicht davon ab, gute Laune zu versprühen, mit wem sie auch zusammen war. Sie ritt oft mit Merit zusammen – sie mochte die kleine Sklavin, seit dem ersten Tag schon. Dass sie letztlich der Auslöser gewesen war bei dem Zusammenstoß mit Corvinus, daran dachte Siv gar nicht, und so sah sie es auch nicht. Zu ihm zu gehen, war allein ihre Entscheidung gewesen.


    So genoss sie einfach nur die Reise, die Möglichkeit, so lange und ausgiebig reiten zu können wie schon lange nicht mehr, und der einzige Wermutstropfen war eigentlich, dass es inzwischen in Rom einige Menschen gab, die sie nur ungern zurückließ.


    Sim-Off:

    Ich schließ mich an

    Siv stand Corvinus gegenüber, und es fiel tatsächlich eine Last von ihr ab, ein Teil davon wenigstens. Es blieb immer noch der Gedanke, dass er sie nicht verstanden hatte, und dass er kein Verständnis aufbrachte, für Merit… und daher auch für sie? Sie wusste es nicht, aber so wie er reagiert hatte, vor ein paar Tagen, schien es ganz so zu sein. Oder war er einfach nur stur gewesen, so stur wie sie immer war, weil sie so hereingeplatzt war, weil sie ihn angefahren hatte… Siv wusste es nicht, und im Moment spielte es auch keine Rolle. Sie freute sich, nach Germanien zu kommen, endlich wieder, und sie freute sich, dass Corvinus und sie wieder normal miteinander sprachen – und dass er den ersten Schritt gemacht hatte. Auch wenn das bedeutete, dass sie ihn die nächsten Wochen nicht sehen würde, was ihr einen kleinen Stich gab, als ihr das jetzt klar wurde. Sie lächelte erneut, diesmal etwas wehmütig, als sie seine Hand an ihrem Gesicht spürte, die ihre Haare zurückstrich. Enttäusche mich nicht… Siv schüttelte den Kopf, und als er seine Hand sinken ließ, hob sie die ihre und berührte, für einen winzigen Moment nur, seinen Handrücken. Sie sagte nichts mehr, sondern erwiderte nur sein Nicken und sah ihm dann hinterher, als er sich von Ursus verabschiedete und dann aus dem Atrium verschwand. Wie von selbst wanderte ihre Hand zu dem kleinen Silberpferd, das sie wie immer um den Hals trug, verborgen meistens unter ihrer Tunika.


    Es dauerte noch einen Moment, dann riss sie sich ebenfalls los und wirbelte nach draußen, wo die meisten anderen bereits warteten. Mit einem Strahlen auf dem Gesicht sprang sie zu dem Pferd, dass sie sich zuvor schon ausgesucht und etwas abseits angebunden, ein junger Hengst, dunkelgrau, Schweif und Mähne etwas heller und zu den Spitzen hin fast cremeweiß. Idolum war sein Name, Schattenbild, und Siv fand, dieser Name passte hervorragend. Kurz blieb sie bei seinem Kopf stehen und liebkoste die weichen Nüstern, dann löste sie die Zügel und glitt mit einer geschmeidigen Bewegung auf den Rücken. Sie hatte hier selten wirklich Gelegenheit gehabt zu reiten, aber es gab Dinge, die verlernte man nicht – und Übung für ihre Beweglichkeit und ihre Muskeln hatte sie bei der Arbeit hier genug. Mit leichtem Druck der Beine brachte sie den Hengst dazu, zu wenden, aber Idolum schien ihre Aufregung zu spüren, jedenfalls wollte er nicht still stehen, sondern tänzelte stattdessen herum, bis es endlich losging.

    Siv hielt für einen Moment überrascht inne, als Tilla sie plötzlich umarmte, dann legte auch sie ihre Arme um die schmalen Schultern des Mädchens. Nur einen kurzen Moment hielten sie sich, dann löste sich die Sklavin auch schon wieder von ihr, lächelte ihr noch einmal zu und sprang zu Hektor davon. Siv erwiderte das Lächeln und sah ihr noch für einen Moment nach, dann wandte sie sich zu Ursus, der zum Aufbruch drängte, und Siv konnte sich gerade noch davon abhalten, ihm aus vollem Herzen zuzustimmen. Endlich abreisen! Sie schnappte sich ihr kleines Bündel, dass sie bei sich behalten würde, und sah sich kurz nach Merit um, die ziemlich geknickt wirkte, aber schon standen Hektor und Fhionn bei ihr. Caelyn lief ebenfalls vorbei und schenkte dabei kaum jemandem einen Blick, was Siv auch verstehen konnte, nach dem was passiert war – Tratsch ließ sich schwer eindämmen, und gerade solche Geschichten machten die Runde wie ein Lauffeuer. Da bildete die Villa Aurelia keine Ausnahme. Siv wusste nicht so genau, was sie davon halten sollte – das hieß, sie wusste sehr genau, was sie von Stehlen hielt, nämlich gar nichts, und vor allem Caelyn, die es hier ja nicht mehr nötig hatte. Auf der anderen Seite kannte sie Caelyn zwar nicht sonderlich gut, mochte sie aber doch…


    Mit einem Achselzucken wandte sie sich um, um ebenfalls nach draußen zu gehen – dass sie reiten würde, war klar, und sie wusste auch schon welches Pferd sie nehmen würde. In diesem Moment betrat Corvinus das Atrium. Kurze Zeit später wuselte Matho um sie herum und scheuchte sie zu ihm, und Corvinus gab ihnen noch einmal kurze Anweisungen. Dann begegneten sich ihre Blicke, und nach einem Moment rief er sie zu sich. Siv ging zögernd zu ihm. Sie hatte ihren Zusammenstoß von vor ein paar Tagen nicht vergessen, und sie ging davon aus, er genauso wenig. Seitdem waren sie sich zwar begegnet, und sie hatte ihn auch zum Saturntempel begleitet am Morgen danach, aber angeschnitten hatte das Thema keiner von beiden mehr. Als sie bei ihm war, sagte er zunächst nichts, sondern sah sie nur an, und als er dann sprach, überraschte er sie – schon wieder. Er sagte ihr, dass er ihr vertraute? Das hatte Siv, nach ihrem Ausbruch neulich, nicht erwartet, und sie wusste nicht so recht, wie sie reagieren sollte. Einerseits ging ihr immer noch nach, wie er reagiert hatte, andererseits freute sie sich aber darüber, dass er ihr sein Vertrauen so offen aussprach. Offenbar trug er ihr nichts nach, und erst jetzt merkte sie, dass sie der Gedanke, es könnte so sein, genauso belastet hatte wie die Tatsache, dass er nicht verstand. Sie nickte langsam, während sie ihn ansah. "Ja. Ich, ich kümmeret für andere." Dann flog ein zaghaftes Lächeln über ihre Züge. "Danke. Für… Reise. … Und Vertrauen."

    Siv hob in einer hilflosen Geste die Arme, als Corvinus erneut zu der Auffassung zu kommen schien, dass sie von ihm wollte, Merit ohne Konsequenzen, ohne Strafe aufzunehmen. War sie so unfähig auszudrücken, was sie wollte, was sie dachte? Lag es an ihrem mangelnden Latein, daran, dass sie es generell nicht konnte, oder war es einfach so, dass sie aneinander vorbei redeten? Siv wusste es nicht, aber Tatsache war, dass er sie entweder nicht verstand oder nicht verstehen wollte. Sie wusste, dass er Merit nicht einfach so davon kommen lassen konnte – sie war nun mal eine Sklavin, und wenn er wollte, dass in diesem Haushalt Ordnung herrschte, musste er in so einem Fall Konsequenzen ziehen. Dass war Siv durchaus klar. Was sie eigentlich wollte war zu sehen, zu spüren, dass er – auch wenn er es nicht offen zeigte, zeigen konnte – Verständnis hatte. Verständnis dafür, dass es nicht leicht war, Sklave zu sein, nicht wenn man vorher frei gewesen war. Verständnis dafür, dass man die Chance auf Freiheit nutzte, wenn sie sich einem bot. Verständnis dafür, dass man sich nicht so einfach mit seinem Schicksal abfinden konnte, dass man, als Sklave, anders über sich selbst dachte als der Herr, dass man sich eben nicht als bloßen Besitz sah, sehen konnte… Aber das war etwas, was sie bei ihm offenbar vergeblich suchte. Sein Gesicht zeigte nur Missmut und Unwillen.


    "Nein. Nicht ohne Strafe, ich sagen das. Aber…" … kannst du nicht verstehen, nicht wenigstens etwas nachvollziehen, warum… Aber Siv sagte nichts davon laut. Corvinus konnte oder wollte nicht verstehen. Im nächsten Moment sah sie ihn entgeistert an. "Um mich? Wie du-" Die Germanin wollte zuerst widersprechen, unterbrach sich aber selbst, als ihr klar wurde, dass er Recht hatte. Natürlich ging es ihr auch um Merit, einfach weil sie mit ihr mitfühlen konnte, aber allein deswegen wäre sie nicht zu Corvinus gegangen. Es ging um sie, und um ihn, und das seltsame Verhältnis, dass sie zu ihm hatte. Die Seite, die er ihr jetzt zeigte, kannte sie auch, aber sie sah sie so selten, er benahm sich so selten so wie jetzt, wenn sie zusammen waren. Sie wusste, dass er so auch sein konnte, aber eigentlich kannte sie ihn anders, und es tat weh, dass er jetzt so abweisend war, bei einem Thema, dass ihr so nahe ging, dass sie so tief betraf. Sie hatte nicht glauben können, nicht glauben wollen, dass er überhaupt kein Verständnis für Merits Situation – und damit auch für die jedes anderen Sklaven in diesem Haus, einschließlich ihr – aufbrachte. Aber da schien sie sich getäuscht zu haben. "Und wenn? Es geht um Merit. Und auch geht um mich, ja. Das schlimm ist? Ich nur will…" Aber wieder sprach sie nicht weiter, zuckte nur die Achseln und musterte die Wand hinter ihm. Was sollte sie denn sagen? Spielte es eine Rolle, ob es um sie ging oder um Merit? Verstehen würde er ja doch nicht…


    Bei seinen nächsten Worten dann zuckte sie so deutlich zusammen, als ob er sie geschlagen hätte, und in diesem Moment wäre es ihr fast lieber gewesen, er hätte ihr tatsächlich eine Ohrfeige verpasst und sie hinausgeschmissen, denn das hätte ihr weh getan, sie aber nicht so sehr verletzt, wie es diese paar Worte vermochten. Ihr seid Sklaven, nicht mehr und nicht weniger… Es war nicht das erste Mal, dass sie weinte oder mit Tränen rang. Aber ihr Leben lang hatte Siv sich fast nie so weit gehen lassen, dass sie vor anderen Menschen Tränen vergossen hätte, und seit sie in römische Gefangenschaft geraten war, hatte sie noch seltener geweint, und überhaupt nicht mehr vor anderen – wenn dann nur, wenn sie sicher war alleine zu sein. Jetzt war einer der wenigen Momente in ihrem Leben – und der erste, seit sie Sklavin war – dass sie in Gegenwart eines anderen Menschen sichtbar mit den Tränen zu kämpfen hatte, und diesen Kampf auch noch beinahe verlor. Obwohl sie fast schon damit gerechnet, es sogar fast herausgefordert hatte, dass er das sagte, hatte sie zuvor keine Ahnung gehabt, wie tief diese Worte aus seinem Mund sie wirklich treffen, verletzen würden. Und sie wusste noch nicht einmal warum. Ihre Kehle schnürte sich zusammen, während ihre Augen schimmerten und sie ihn für Momente einfach nur anstarrte.


    Dann blinzelte sie ein paar Mal, drehte den Kopf zur Seite und atmete ein paar Mal tief ein, während sie eine Hand vor den Mund den legte und sich danach damit über das Gesicht fuhr. Sie verlor den Kampf beinahe, aber nur beinahe. Als sie Corvinus wieder ansah, glitzerten ihre Augen immer noch verdächtig, und ihre Lippen bebten, aber sie gab sich nicht die Blöße, vor ihm zu weinen. "Sklaven. Wir seid Sklaven. Nicht mehr. Es so einfach ist." Ihre Stimme zitterte, und der Tonfall war eine seltsame Mischung aus Verletztheit, Bitterkeit und beginnendem Trotz. Sie nickte und sah erneut zur Seite, blinzelte wieder, als eine Träne sich herausstehlen wollte aus ihrem Auge und in den Wimpern hängen blieb. "In Ordnung. H e r r. Ich weiß… weiß Scheid. Bescheid." Siv nickte erneut, langsamer diesmal, und bevor sie endgültig die Kontrolle verlieren konnte, drehte sie sich um. Im Gegensatz zu vorhin, als ihr Schritte leicht und federnd gewesen waren, schienen sie nun schwer zu sein, aber die Germanin hielt sich aufrecht, den Rücken gerade, bis sie den Raum verlassen und die Tür geschlossen hatte. Selbst dann blieb sie noch einen Moment regungslos stehen, bevor sie sich schließlich an die Tür lehnte, an dieser entlang zu Boden sank und ihren Tränen stumm freien Lauf ließ.