Beiträge von Aureliana Siv

    Die Frage… noch nicht die Antwort. Siv begriff nicht ganz, was die Frau damit meinte, nicht Bezug auf die Melodie – wie konnte denn eine Melodie eine Frage sein? Und nur für den Fall, dass sie eine Frage sein konnte: wie konnte sie zur Antwort werden? Siv war recht pragmatisch, und selbst wenn sie es nicht wäre, sie hatte sich mit so etwas noch nie beschäftigt. Aber der Satz gefiel ihr irgendwie. Und ganz davon abgesehen lebte Siv schlicht ihre Gefühle, und die Musik hatte sie berührt, hatte sie aufgewühlt, hatte ihre Gefühle, das gesamte Chaos, das gerade in ihr herrschte, angefacht und zum Lodern gebracht. Sie ignorierte es, als ein weiteres Ziehen sich in ihrem Bauch lang zog, un nickte stattdessen wie zum Gruß, als die Fremde sich ihr vorstellte, mit einem klingenden Namen, der so lang und fremdartig war, dass sie wohl Mühe gehabt hätte, sich ihn zu merken, hätte sie nicht zumindest den ersten bereits gekannt aus Homers Odyssee. Schweigend sah sie dabei zu, wie Penelope ihre Tafeln betrachtete. Siv wollte nicht stören, und sie war auch nicht unbedingt auf ein Gespräch aus. Die Musik hatte sie einfach nur… so sehr berührt, dass sie hier bleiben wollte. Nur für den Fall, dass Penelope noch einmal spielte. Und bereits nach wenigen Augenblicken stellte sie fest, dass sie die Gesellschaft dieser Frau angenehm fand. Penelope schien sich nicht großartig daran zu stören, dass Siv hier war und einfach da saß und ihr zusah. Ruhig schien sie durchzugehen, was sie aufgezeichnet hatte, und Siv konnte nicht einmal ansatzweise ahnen, was in ihr vorging – aber sie ließ sie in Ruhe. Einer der Gründe, warum Siv sich so zurückzog in den letzten Tagen, war der, dass alle Welt etwas von ihr zu wollen schien. Sie wollten wissen, wie es ihr ging, sie wollten wissen, ob sie sich nicht freute über die Freiheit, sie wollten wissen, was sie vorhatte zu tun, sie… fragten einfach und fragten und hörten nicht auf damit. Entweder sie waren aufgeregt darüber, dass sie frei war oder weil die Geburt nun so dicht bevorstand, oder reagierten seltsam auf die Bemerkung, dass sie, Siv, immer noch nicht wusste, was sie tun wollte, oder sie waren besorgt, weil sie zwischendurch bemerkten, wie schlecht es ihr ging… Idolums Gesellschaft war Siv nicht nur deswegen so lieb, weil sie Pferde und speziell den Hengst einfach liebte, sondern auch, weil Idolum nichts sagte, nichts fragte, nichts erwartete. Und es war so… angenehm, dies endlich mal wieder auch in menschlicher Gesellschaft erfahren zu dürfen. Corvinus… in den guten Momenten, die sie hatten, war es mit ihm genauso. Wenn es gut war, zwischen ihnen, dann verbrachten sie einfach nur Zeit miteinander. Waren beisammen, ohne… Erwartungen. Siv sehnte sich danach, nach dieser so einfachen, schlichten Art des Glücks.


    Penelope war nicht Corvinus. Aber sie war ein Mensch, und Siv stellte in diesem Augenblick fest, dass es ihr gut tat, zur Abwechslung mal wieder menschliche Gesellschaft zu haben. Menschliche Gesellschaft, die nichts erwartete von ihr, die einfach nur war – und der sie deshalb nicht gleich wieder entflüchten wollte. Siv atmete tief durch und begann, sich zu entspannen, als Penelope sie dann doch ansprach. Die Frage war simpel genug, aber für Siv so zwiespältig wie es nur ging. Sie wühlte etwas auf, dem sich die Germanin eigentlich lieber nicht stellen wollte, ihre ganze Situation – andererseits freute sie sich auf die Geburt, oder besser, auf den Moment danach. Wenn sie die Schwangerschaft endlich hinter sich hatte und ihr Kind in den Armen halten konnte. Siv lächelte leicht, und eine Spur von Wehmut tanzte in ihren Augenwinkeln, weil sie sich nicht gänzlich auf die Freude auf ihr Kind konzentrieren konnte. Weil es nicht los zu lösen war von ihren Problemen. "Bald. Ich… denke, die nächsten Tage." Sie legte den Kopf leicht schief, und fast mochte es wirken, als lausche sie einen Moment in sich hinein, als ein weiterer Schmerz ihren Unterleib durchfuhr. Dann machte sie eine Kopfbewegung hin zu den Tafeln. "Wenn… das die Frage ist. Was ist die Antwort?"

    Siv hätte sich am liebsten die Haare gerauft. Sie begriff es einfach nicht – und es war im Augenblick zu aufgeregt, als dass sie hätte bemerkten können, dass Cimon umgekehrt genauso wenig begriff wie sie. Sie sah nur seine helfende Hand, die er ihr reichte, aber aus irgendeinem Grund regte sie das nur noch mehr auf, nein, nicht aus irgendeinem, sondern schlicht aus dem, weil sie die Nase voll davon hatte so rund und langsam und schwerfällig zu sein. Als Cimon dann schließlich das Wort ergriff, schnaufte Siv einmal tief durch. Er hatte es so gelernt. Also war er geborener Sklave, was ihr eigentlich schon vorher klar hätte klar werden müssen. Aber was sie darauf sagen sollte, wusste sie auch nicht. Sie konnte sich so überhaupt gar nicht in seine Lage hineinversetzen, das war das Problem. "Du… du… ich versteh das einfach nicht! Du bist groß, du bist stark, du… du bist ein Mann!" Und Männer sollten nicht so sein, fand sie. Frauen auch nicht, wenn sie schon dabei war, aber das war nur ihre Meinung, das sahen einige anders, das wusste sie. "Aaargh!" machte sie schließlich ihrem Unmut Luft und fuhr sich nun doch in ihre Haare. "Stell dir vor, du bist frei. Was… was würdest du tun? Und was heißt dein Herr will das, Stolz, das muss etwas sein, das du hast – einfach hast, und nicht versuchst zu haben, weil Ursus das will!" regte sie sich schon wieder auf – und einen winzigen Moment später fuhr ein stechender Schmerz durch ihren Leib, und Siv biss die Zähne zusammen und klammerte sich mit einer Hand am Tisch fest. "Oh, Hels Scharen, lasst mich doch einfach in Ruhe", murrte sie auf Germanisch und ließ sich doch wieder umständlich in den Sessel sinken.

    Tränen stiegen auf in Siv, sammelten sich zu einem Kloß in ihrer Kehle, als die Klänge den Knoten in ihrer Brust platzen ließen, der sich seit Tagen, Wochen, dort festgefressen hatte und immer größer geworden war, den sie zugelassen, gefördert hatte, weil sie nicht wollte, dass ihre Gefühle sie überschwemmten, weil sie verzweifelt dagegen ankämpfte, sich allzu deutlich anmerken zu lassen, wie es ihr ging – aber sie konnte nichts dagegen tun, was die Musik bewirkte, dass sie ihn aufweichte und den Wall niederriss, den Siv gebaut hatte, so dass alles wie in einer Sturmflut über ihr hereinbrach, was sie zu verdrängen suchte. Ihr Stolz, ihr Schmerz, ihre Verzweiflung. Sie liebte Corvinus. Sie liebte ihn so sehr. Und es war unfair, so unglaublich unfair, was geschah. Es war so unfair, dass er ihr die wenigen gemeinsamen Augenblicke missgönnte, die sie bisher wenigstens gehabt hatten. Es war so unfair, dass es gerade ihre Freiheit sein sollte, die sie sich gewünscht hatte, so sehnlich, die ihr ihre Liebe nehmen würde. Vielleicht lief es darauf hinaus. Vielleicht konnte man nicht beides haben, oder besser: vielleicht gab es Menschen, die nicht beides haben konnten. Für die die Götter beides nicht vorgesehen hatte, so dass es entweder das eine oder das andere sein musste, Freiheit oder Liebe… Vielleicht hatte Corvinus gespürt, dass sie zu diesen Menschen gehörte, und hatte ihr deswegen die Freiheit geschenkt, weil er geahnt, gespürt hatte, dass dies ein unumstößliches Zeichen sein würde, ebenso unumstößlich wie das Zeichen, das er gesetzt hatte, als er sie zu seiner Leibsklavin gemacht, vor so langer Zeit nun, wie es ihr vorkam. Vor so langer Zeit, dass es ihr fast wie aus einem anderen Leben schien.


    Als die Musik dann verklang, als die letzten Töne verklangen, verwehten, verschluckt wurden von den Büchern um sie herum, war Siv zunächst verwirrt. Einen winzigen Augenblick lang hatte sie Schwierigkeiten, in die Realität zurückzufinden, aber dann wurde ihr bewusst, wie feucht ihre Augen waren, und mit einer fast trotzigen Geste fuhr sie sich kurz mit dem Handballen darüber, bevor sie zum ersten Mal bewusst die Frau ansah, die nun auch sie entdeckt hatte, sie musterte und schließlich ansprach, auf Latein, aber mit einem merkwürdig weichen Akzent, der Siv irgendwie… bekannt vorkam. Es dauerte ein wenig, bis ihr einfiel, dass Merit eine ähnliche Aussprache gehabt, und der Gedanke an die andere Sklavin versetzte ihr einen weiteren Stich. Cadhla, Merit… davor ihre Brüder, ihr Vater, ihre Heimat. Irgendwie schien sie jeder zu verlassen, schien sie jeden zu verlieren, der ihr etwas bedeutete. Was war jetzt mit Brix – mit Corvinus? Siv nickte langsam auf die Worte der Frau hin und setzte sich langsam in einen der Korbstühle. "Du… das war schön. Wunderschön", meinte sie leise. "Ehm. Ich bin Siv", stellte sie sich dann erst vor, als ihr jetzt erst auffiel, dass sie das noch nicht getan hatte – und dass sie auch gar keine Ahnung hatte, wer die Frau war. Wie eine Sklavin wirkte sie nicht, aber Siv konnte sich auch nicht so wirklich einen Reim darauf machen, wer sie sonst sein könnte – hätte sie sich in den letzten Wochen nicht so sehr zurückgezogen, sie hätte sicher etwas von Ursus’ Gästen mitbekommen, die derzeit in der Villa waren. So aber hatte Siv keine Ahnung, war doch jeder Kommentar, den sie gehört haben mochte, einfach an ihr vorbeigeflogen, ohne dass sie es wirklich wahrgenommen hätte.

    Langsam ging Siv durch die Gänge der Villa. Sie wusste nicht so recht, wohin. Alles schien ihr irgendwie so… anstrengend zu sein. Und sie meinte nicht den körperlichen Aspekt, der in ihrem Zustand gegeben war. Corvinus war seit einigen Tagen wieder da. Und wie ein unsichtbarer Schleier legte sich seine bloße Anwesenheit in diesem Haus auf sie, um sie, und schien sie niederzudrücken. Wenigstens war es nun, da sie die Kammer neben seinen Gemächern hatte räumen müssen und damit auch die letzten ihrer Aufgaben als Leibsklavin abgegeben hatte, nicht mehr schwer, ihm aus dem Weg zu gehen. Dennoch reichte das Wissen, dass er hier war, dass das bisschen Ruhe, zu dem ihr Inneres hatte finden können in der Zeit seiner Abwesenheit, verflog als wäre nichts gewesen. Sie flüchtete in die entlegensten Ecken des Hauses, brachte Abstand zwischen sich und die Orte, von denen sie wusste, dass er sich dort regelmäßig aufhielt. Die meiste Zeit verbrachte sie im Stall, aber Brix schien ihr Verhalten inzwischen lächerlich zu finden, und sie wollte Zusammenstöße jeglicher Art vermeiden – genauso wie sie vermeiden wollte, dass er irgendwann die Schnauze voll von ihr hatte und ihr den Rücken kehrte. Brix, der wie ein Bär schien, der ihr wie ein großer Bruder geworden war – ihn auch noch zu verlieren, würde sie nicht aushalten, glaubte sie. Also bemühte sie sich, nicht allzu deutlich zu zeigen, wie rastlos und unsicher sie sich fühlte, und wie unglaublich verloren. Sie hatte immer noch keine Entscheidung getroffen. Sie wollte diese Entscheidung nicht treffen. Aber sie war sich bei weitem nicht sicher, ob die Entscheidung nicht schon längst gefallen war, und sie das Offensichtliche einfach nur nicht wahrhaben wollte. Was sollte sie denn noch länger hier? Es gab hier keine Aufgabe für sie, nichts, was sie tun konnte. Sie sollte bei der Vorbereitung von Orests Hochzeit helfen – aber spätestens wenn das vorbei war, was gab es dann noch? Niemand hatte bisher mit ihr darüber gesprochen, was nach der Geburt sein würde, wie es weiter gehen würde, und sie war mehr und mehr zu dem Schluss gekommen, dass das nur eines bedeuten konnte: dass es nichts gab. Dass sie nur hier bleiben konnte, weil Corvinus es ihr angeboten hatte, und das, da machte sie sich nichts vor, was aus einer Mischung aus Verpflichtung geschehen und Wut, weil sie wieder mal diskutiert, nein, gestritten hatten, weil sie ihn festgenagelt hatte und er wohl nicht mehr gewusst hatte, was er sonst sagen sollte, um sie zum Schweigen zu bringen. Und selbst wenn es etwas gab… wenn sie weiter im Garten arbeiten konnte, beispielsweise. Dann blieb immer noch die Frage: wollte sie das überhaupt? Sie wollte bei ihm sein… wollte die Augenblicke genießen, die sie gemeinsam hatten, so wenige es auch sein mochten. Siv dachte nicht in Kategorien, wie wertvoll, wie angesehen die eine oder andere Arbeit war. Sie war zufrieden gewesen mit dem, was sie im letzten Jahr hatte tun können, ob das nun eine Arbeit war, die unter dem Niveau einer Freigelassenen lag oder nicht, darüber dachte sie nicht nach, das war ihr egal. Es war Arbeit, es war etwas zu tun, und es war etwas, was ihr und ihm die Gelegenheit gab, einigermaßen viel Zeit miteinander zu verbringen, ohne dass es auffiel. Und genau das schien Corvinus nicht mehr zu wollen, war er es doch gewesen, der ihr das genommen hatte. Der sie fortgeschickt hatte. Wenn sie nun aber Zeit mit ihm verbringen, bei ihm sein wollte, so weit es die Umstände zuließen, er das aber umgekehrt nicht mehr wollte – und alles sah danach aus –, was um alles in der Welt tat sie dann noch hier? Was hielt sie hier, warum sollte sie noch bleiben, wenn das Kind erst auf der Welt war und seine ersten Lebenswochen überstanden hatte?


    Langsam ging Siv durch die Gänge – nein, schlich mehr wie ein Schatten herum. Sie wollte nicht auffallen. Sie wollte sich einfach nur irgendwie beschäftigen. Lange sitzen konnte sie nicht mehr, lange stehen erst recht nicht, lange herumlaufen eigentlich auch nicht, aber sich bewegen war etwas, was ablenkte. Sich mit Idolum zu beschäftigen wäre noch besser gewesen, aber sie war den ganzen Vormittag schon im Stall gewesen. Und so musste es zwischendurch immer wieder das Umherwandern sein, das zur Ablenkung herhalten musste. Von sich, von ihren Gedanken, und von dem Ziehen in ihrem Bauch, dass sie seit einigen Wochen immer wieder hatte. Sie kannte das inzwischen, kannte es von früher, von Bekannten, von Schwägerinnen. Vorwehen waren normal. Trotzdem war sie beim ersten Mal kurz erschrocken, hatte Hel angefleht, dass es noch nicht so weit war, weil es zu früh gewesen wäre, und weil… weil Corvinus zu diesem Zeitpunkt fort gewesen war, auch wenn sich Siv niemals wirklich eingestanden hätte, dass das mit eine Rolle spielte. Wie auch immer, es war wieder verschwunden, war wieder gekommen, war wieder verschwunden, mal heftiger, mal weniger heftig, und Siv schenkte dem keine große Beachtung mehr. Sie würde einen Dreck tun und zu den Weibern gehören, die einen Fehlalarm auslösten und alle um sich herum in Panik versetzten. Lieber brachte sie ihr Kind alleine auf die Welt, als dass ihr das passierte. Sie verzog das Gesicht, als sich etwas in ihrem Bauch erneut verkrampfte, ignorierte es dann wie gewohnt – und dann, plötzlich, erstarrte Siv. Sie hörte etwas. Musik erklang, ungewohnt, fremdartig… Erklang hinter der Tür, die wenige Schritte vor ihr lag. Siv wusste nicht, wie ihr geschah. Die Musik packte sie, und sie stand da und hörte, endlose Augenblicke lang, bis sie sich wieder in Bewegung setzte und ihre Schritte unwillkürlich näher zu der Musik lenkte, die erklang, klar und rein. Wärme durchfloss sie, und die Melodie, die sie hörte, rührte etwas an ihr, ließ sie blinzeln. Funkelnde Töne schienen sie zu umschmeicheln, perlten um sie herum wie Sternenstaub. Siv hatte noch nicht erlebt, welche Wirkung Musik haben konnte. Sie kannte die Lieder und Gesänge von ihrer alten Heimat, und auch diese konnten einen packen, gerade wenn eine gewisse Gruppendynamik gegeben war, aber bisher hatte Siv sich noch sie… im tiefsten Inneren berührt gefühlt, wenn sie allein war und einfach nur Musik hörte. Die Melodie rührte sie, grub sich tief und tiefer in sie hinein und erleuchtete Winkel ihrer Selbst, die sie vergrub oder gar nicht zu kennen schien. Ohne es wirklich zu merken, war sie in die Bibliothek eingetreten, dort hinein, von wo die Musik her erklang. Und auch, als die Musikerin in ihr Blickfeld rückte und Siv sehen konnte, wer da spielte, riss der Zauber nicht ab, der sie gefangen zu halten schien. Sie blieb einfach stehen und hörte weiter zu.


    Gib mir Musik…


    Um mir ein Feuer anzuzünden,
    um die dunklen Tiefen meiner Seele zu ergründen,
    meine Lust und meine Schmerzen, Narben, die ich mir selbst verschwieg.


    Gib mir Musik…


    Die Träume, die längst aufgegeben,
    verschüttet in mir verdorrn, beginnen wieder aufzuleben,
    und ich weiß, dass ich jede verlorne Chance noch einmal krieg.


    Gib mir Musik…


    ~Reinhard Mey~

    Siv hätte es nicht für möglich gehalten, aber ihre Fassungslosigkeit wurde noch größer. Sie blinzelte verständnislos. "Für… den Herren da? Moment." Sie hob abwehrend die Hände und versuchte zu verstehen, was Cimon gerade gesagt hatte. Dass Sklaven der Besitz ihrer Herren waren, war klar. Dass die meisten Römer ihre Sklaven für nicht viel mehr als Möbelstücke hielten, wenn überhaupt, das wusste Siv. Aber das… hieß doch noch lange nicht, dass die Sklaven das genauso sahen. So lange Siv selbst auch schon hier war, es war das erste Mal, dass sie einen Sklaven traf, der so dachte. Der aus voller Überzeugung das behauptete. Und ernst zu meinen schien. Und das begriff Siv nicht, sie konnte es nicht begreifen. Es wollte nicht in ihren Kopf, wie ein Mensch so wenig Selbstachtung haben konnte. "Funktionieren? Wir müssen funktionieren? Wir… Ja! Müssen wir! Aber doch nur, weil, weil sie sich n e h m e n, einfach nehmen, alles nehmen! Das hat nichts zu tun mit richtig sein!" Wie immer, wenn sie aufgeregt war, wurde Sivs Latein wieder ein bisschen schlechter. Und Cimons nächster Kommentar regte sie noch mehr auf. "Oh bitte, das ist doch nicht ein Unterschied dabei! Jetzt, ja, ich bin frei, aber davor war ich Sklavin, und davor war ich frei, in Germanien, aber das ist… Ich meine, i c h, hier", sie legte eine Hand auf ihre Brust, den Ballen aufs Brustbein, Handfläche und Finger dort, wo ihr Herz war, "das ist gleich. Ich bin nicht mehr, jetzt, denk das bloß nicht!" Siv verfluchte ihren schwerfälligen Zustand, wäre sie in diesem Augenblick doch am liebsten aufgesprungen und hin und her gelaufen. Einen Moment lang haderte sie mit sich, dann stand sie doch auf, schwerfällig zwar und langsam, aber in dem Korbsessel hätte sie es nicht mehr länger gehalten. "Er hatte kein Recht", entgegnete sie hitzig. "Er hatte Überlegenheit. Wo ist dein Stolz?" Er war so groß, so stark, und nach allem was sie wusste, waren auch die Nubier ein stolzes Volk. Jedes Volk hatte seinen Stolz, wenn Siv etwas gelernt hatte in Rom, dann das.

    Siv strich leicht über ihren Bauch, und ihr schiefes Grinsen verwandelte sich für einen Moment in ein ehrliches, sachtes Lächeln. "Kann nicht mehr lange dauern…", murmelte sie, und ein beinahe sanfter Unterton schwang in ihrer Stimme mit. Wenn schon sonst gerade nichts so wirklich zu stimmen schien in ihrem Leben, das hier war richtig. So düster sich die Zweifel über ihr türmten – Siv hegte nicht den geringsten Zweifel, was ihr Kind betraf. Sie liebte es, hatte es im Grunde – unter den Ängsten, was Corvinus dazu sagen würde, unter den Befürchtungen, sie könnte es vielleicht nicht behalten – vom ersten Moment an geliebt, als sie ihr klar geworden war, dass sie schwanger war. Dass sie sich nie hatte vorstellen können, Mutter zu werden, zu sein, hatte keine Rolle mehr gespielt. Sie hatte sich auch nie vorstellen können, sich zu verlieben, hatte Liebe immer als höchstens lächerlich abgetan, und doch hatte sie nichts dagegen tun können, was sich zwischen Corvinus und ihr entwickelt hatte. Sie ging beileibe nicht davon aus, dass es einfach werden, oder dass sie keine Fehler machen würde. Aber sie war überzeugt davon, dass es mit Hilfe der Götter gut gehen würde, irgendwie.


    Als Cimon dann von seinem ehemaligen Herrn sprach, geschah etwas, was Siv selten passierte – ihre Wut verflog, wenigstens kurzzeitig. Stattdessen klappte ihr Unterkiefer nach unten, und ihr Mund formte ein lautloses Oh. Zeitversetzt zogen sich ihre Augenbrauen zusammen, und ihr Mund schloss sich ein wenig, während sie zweifelnd ihre Nase kräuselte. Alles in allem drückten ihre Züge für einen Moment reine Fassungslosigkeit aus. "Wie bitte?" fragte sie nach, und ihre Stimme klang so fassungslos wie ihre Miene aussah. Sie konnte nicht so recht glauben, was sie da gehört hatte. "Recht? Er hatte das Recht dazu? Warum? Wer hat ihm das Recht gegeben? Sie, Römer, Griechen, sie sind stärker, stärkere Völker als viele andere, und wer stärker ist, bestimmt, aber das heißt nicht, dass sie Recht haben! Das heißt nur, dass sie… stärker sind!" Empörung schwang in ihrer Stimme mit, Empörung darüber, wie Cimon nur so denken konnte. Es war ihr völlig unklar, es ging einfach nicht in ihren Kopf hinein, dass ein Mensch so denken konnte, dass er seinen Stolz, seinen Kern, sein von den Göttern gegebenes Recht auf Selbstbestimmung einfach so aufgeben konnte. Natürlich dachten die Herren immer, dass sie das Recht hatten, sich Sklaven zu halten – dachten auch, dass Sklaven einfach weniger wert waren und schon gar keine Rechte hatten, keine vollständigen Menschen waren, was auch immer. Und wenn man Sklave war, blieb einem sicherlich nichts anderes übrig, als sich irgendwann, irgendwie damit zu arrangieren, wollte man nicht vor die Hunde gehen. Aber das hieß doch nicht, dass man anfangen musste diese Meinung zu teilen! "Ach was, noch nicht mal stärker! Nur besser organisiert!" grummelte Siv dann noch hinterher, nach einer winzigen Pause nur. Zumindest die Germanen waren ganz sicher nicht schwächer als die Römer, die Römer kämpften nur einfach nicht fair, fand sie. Was war schon fair daran, wenn man die besseren Waffen und Rüstungen hatte und zahlenmäßig überlegen war. Dass die Germanen umgekehrt ihre Vorteile genauso nutzten, übersah sie gekonnt.


    Ihre Frage jedoch schien Cimon irgendwie getroffen zu haben, das bemerkte sogar Siv in ihrer Empörung. Und als er den Ärmel seiner Tunika hinaufschob, als sie die Narben sah, da öffnete sich ihr Mund abermals, diesmal nur ein wenig. "Bei Hels Ausgeburten…" wisperte sie auf Germanisch. In ihren Augen spiegelte sich Bestürzung wider, und unwillkürlich hob sich ihre Hand, als wolle sie seine Haut berühren – zog sich aber sofort wieder zurück, noch bevor Cimon die Narben wieder unter dem Stoff verbarg. Siv hob ihren Blick und suchte den Cimons, aber der Nubier weigerte sich, sie anzusehen. Einen Augenblick schwieg sie, dann streckte sie aus einem Impuls heraus ihre Hand doch wieder aus und legte sie auf seinen Arm, der nun wieder bedeckt war. "Egal was du glaubst, aber das da", der Druck ihrer Hand verstärkte sich kurz, bevor sie sie ganz wegzog, "ist nicht in Ordnung." Es war Quälerei, und es war grausam.

    Siv konnte nicht anders, als die Flavia anzustarren. Das Wort Ironie schien ihr fremd zu sein, ebenso wie der Tonfall, der Ironie ausdrückte – anders konnte sie sich nicht erklären, dass sie das Wort Herrin, so wie sie es ausgesprochen hatte, tatsächlich ernst nahm. Und dann forderte sie sie auch noch auf, ihr vorzulesen. Siv biss die Zähne aufeinander, als es ihr langsam zu viel zu werden begann. Sie wollte keinen Ärger, weder für sich noch für Corvinus, und irgendjemand würde Ärger bekommen, wenn sie die Beherrschung verlor. Aber wie Celerina sich ihr gegenüber verhielt, brachte sie hart an die Grenze dessen, was sie ertrug. Wie konnte die Römerin jetzt so tun, als sei nichts gewesen? Als würde sie, Siv, einfach darüber hinwegsehen, dass sie sie geohrfeigt hatte, einfach so tun, als sei nichts geschehen? Sie kämpfte mit sich, und war fast dankbar für die Zwischenfrage nach ihrem Namen. Es lenkte ab. Es enthob sie einer Entscheidung, wenigstens für den Moment. Sie wollte nicht vorlesen, wollte sich nicht lächerlich machen vor der Flavia. Es genügte schon, dass die andere die Oberhand hatte, immer haben würde. Sie bemerkte, wie Celerinas triumphierendes Lächeln erlosch, wie etwas anderes auf ihre Züge, in ihre Augen zu treten schien, etwas, was Siv nicht so wirklich einordnen konnte. Sie erkannte nicht, dass es Neid war – aber sie erkannte genug, dass es ein merkwürdiges Gefühl in ihr auslöste, etwas, dass nicht dazu führte, dass sie sich wirklich wohler fühlte im Augenblick. Siv war Neid nahezu fremd. Sie war ein Mensch, der im Großen und Ganzen zufrieden war mit ihrem Leben, jemand, der immer irgendwie einen Weg fand, zufrieden zu sein, der dazu tendierte, das Gute zu sehen, in jeder Situation – und wenn sie es mal nicht schaffte, dann wurde sie in aller Regel nicht neidisch, höchstens wütend. Nur in einer einzigen Situation hatte sie bisher so etwas wie Neid empfunden – Neid auf Celerina, weil diese das war, was Corvinus brauchte von einer Frau. Und da war es Siv nicht um den Reichtum gegangen, den sie hatte, nicht um die Kleider, nicht um den Status als Römerin oder gar Patrizierin, auch nicht darum, dass sie bei offiziellen Anlässen als seine Frau auftreten konnte. Es ging ihr einzig und allein um die Tatsache, dass sie jemand war, mit dem Corvinus zusammen sein konnte, ohne sich Gedanken machen zu müssen, was andere dachten. Und da das das einzige war, was Siv auch wollte, da sie, abgesehen davon, nicht das geringste Bedürfnis hatte, mit der Flavia zu tauschen, ihr Leben zu leben, war auch dieser Anflug von Neid nicht rein, sondern deutlich gefärbt, war mehr Sehnsucht nach Corvinus denn alles etwas anderes. Und vielleicht war ihr gerade deswegen, weil sie es nicht wirklich kannte, nicht wirklich nachempfinden konnte, das Gefühl des Neids so unheimlich.


    Siv verzog ihre Lippen zu einem halb spöttischen, halb bitteren Lächeln auf die Frage Celerinas hin. "Nein", antwortete sie. Nein. Weder ihr Name noch ihr Stamm hatten irgendeine Bedeutung für eine Römerin. Wie auch. "Keine Bedeutung, nichts zu kennen. Nicht für dich."





    SKLAVE - MARCUS AURELIUS CORVINUS

    "Oh…", machte Siv mit einem schiefen Grinsen. "Na ja, eigentlich… möchte ich gerne selbst arbeiten. Endlich wieder." Den Sklaven, die sich um den Garten kümmerten, gab sie ja mehr oder weniger Anweisungen, nur verscheuchten sie sie regelmäßig, weil Siv es nicht fertig brachte, nichts zu tun und ihnen einfach nur zuzusehen. Zum Glück war jetzt im Winter nicht allzu viel zu tun – und wenn der Frühling kam, dann konnte sie wieder mitarbeiten. Konnte selbst Hand anlegen. Konnte am besten alles alleine machen, denn wenn sie alles alleine machte, dann war genug zu tun, dass sie ganze Tage im Garten sein würde. Ihr Grinsen verflog schlagartig. Den ganzen Tag im Garten, und das so lange wie möglich. Keinen Schritt mehr ins Haus tun, erst abends, wenn sie in Bett ging. Keine Gefahr, ihm über den Weg zu laufen. Im Moment bestand diese Gefahr ohnehin nicht, war er doch auf Reisen, aber wenn er zurück kam… Siv schluckte trocken, und ihre Wangenmuskeln spannten sich an, als sie die Kiefer aufeinander presste. Die Kammer neben seinen Gemächern hatte sie inzwischen geräumt, noch am selben Tag, an dem Corvinus mit Celerina abgereist war. Warum noch warten, wenn die Entscheidung ohnehin feststand? Dann war es ihr lieber, es so schnell wie möglich hinter sich zu bringen, und dass er derzeit weg war, machte es nur leichter für sie. Sie wollte sich gar nicht vorstellen, was gewesen wäre, wäre er plötzlich in der Tür gestanden, während sie ihre Sachen zusammengepackt hatte. Nein, es war schon besser so, wie es war. Siv starrte für einen Moment auf den Boden. Besser, ihm nicht mehr zu begegnen. Das würde ihr die Entscheidung leichter machen – sie konnte nicht gehen, bevor das Kind nicht alt genug war, um eine Reise nach Germanien zu überleben, aber wenn es aus dem Gröbsten heraus war… Siv schluckte erneut und verdrängte diese Gedanken. Sie wollte nicht darüber nachdenken, nicht schon wieder. Noch hatte sie Zeit – noch hatte sie gar keine andere Wahl, als sich Zeit zu lassen. Und während sie sich wünschte, dass es endlich so weit war, dass sie endlich eine Entscheidung treffen konnte, treffen musste, graute es ihr doch zugleich vor diesem Moment.


    "Wir können dann ja zusammen arbeiten", schlug sie Cimon vor, hauptsächlich um sich selbst von ihren trüben Gedanken abzulenken, aber auch, weil sie ihn nicht einfach so vor den Kopf stoßen wollte. Und dann kam die Sprache auf den ehemaligen Herrn des Nubiers, und Sivs Augen wurden ein wenig dunkler, schienen zu einem sturmgepeitschten Meer zu werden. Cimon sagte nicht viel – aber sein Tonfall und seine Körperhaltung sagten Siv genug. Sie rückte ein wenig vor in ihrem Stuhl, damit sie sich nach vorn neigen konnte, ihm entgegen. Dass sein ehemaliger Herr Grieche gewesen war und nicht Römer, tat sie mit einer Handbewegung ab. Die Griechen und die Römer, irgendwie war da für sie kein Unterschied, jedenfalls nicht wenn es um so etwas ging. Da schienen sie gleich zu sein, manche jedenfalls. "Warum solltest du nicht schlecht reden, von deinem alten Herrn? Wenn es stimmt?" Ihre Augen blitzten, und ihre Stimme klang fordernd. Dass Cimon offensichtlich gar nicht darüber reden wollte, dass er das sogar sagte, ignorierte sie bequemerweise. Es war so viel angenehmer, so viel leichter, sich über Cimons alten Herrn und das, was er möglicherweise getan hatte, aufzuregen, als über Corvinus nachzudenken und die Entscheidung, die ihr bevorstand. Wut. Wut war ihr schon immer eine Hilfe gewesen. Und da sie auf Corvinus einfach nicht wütend sein konnte, da sie immer nur Trauer und eine Form von Wut packte, die mehr Verzweiflung war denn richtige, lodernde Wut, die half, wenn sie an diese ganze vertrackte Situation dachte, flüchtete Siv sich nur allzu dankbar in die Wut auf jemanden, den sie gar nicht kannte, stellvertretend für jemanden, der es augenscheinlich selbst ganz anders sah. "Was hat er getan?"

    Siv ahnte nichts von dem, was in seinem Kopf vor sich ging. Welche Möglichkeiten ihm vorschwebten. Es hätte vermutlich auch keinen großen Unterschied gemacht, für sie, denn seine Entscheidung traf er letztlich selbst. Das hatte er immer getan – und er hatte es immer getan, ohne sie dabei in irgendeiner Form mit einzubeziehen. Ihre Meinung spielte keine Rolle für ihn. Siv war gerade an einem Tiefpunkt angelangt, und entsprechend düster war ihre Gedankenwelt, in der sie sich bewegte. Sie hatte nun nur noch eine Entscheidung zu treffen… und sie fühlte sich im Moment absolut nicht in der Lage dazu. Nicht so, nicht jetzt. Sie musterte ihn eine lange Zeit, und dieser Teil von ihr, der immer noch zu fallen schien, schrie jämmerlich auf, als ihr schmerzhaft bewusst wurde, wie sehr sie diesen Mann liebte. Wie sehr sie bei ihm bleiben wollte, selbst wenn es nur wenige glückliche Momente gab, geben konnte. Aber wenn es von nun an überhaupt keine glücklichen Momente mehr gab? Wollte, konnte sie dann noch bei ihm bleiben?


    Ein winziger Moment nur war es, in dem sie, ihr wahres Ich, das was sie ausmachte, ihre Gefühle, wieder das Zepter an sich rissen, und in diesem winzigen Moment bildete sich ein Kloß in ihrem Hals, schwammen ihre Augen in Tränen, hätte sie schreien und fluchen und weinen mögen. Aber sie fiel weiter, und der Moment verging, ohne dass etwas geschah. Für einen kurzen Augenblick schlossen sich ihre Finger um seine Hand, strichen über seine Haut, seine Finger, brachten sie erneut in Gefahr, an den Rand ihrer Selbstbeherrschung. Dann erhob sie sich, etwas ungelenk und mühsam. "In Ordnung", meinte sie leise. Einen Augenblick sah sie ihn noch an, dann drehte sie sich um, um den Raum wieder zu verlassen.

    Wie Cimon auf ihre Ankündigung reagierte, überraschte Siv dann doch. Im Gegensatz zu den meisten anderen Sklaven schien er nicht neidisch zu sein, sich auch nicht für sie zu freuen, sondern im Gegenteil fast… erschrocken. Im Grunde konnte das eigentlich nur bedeuten, dass er schon als Sklave geboren worden war, oder zumindest sehr früh in Gefangenschaft geraten war – so früh, dass er keine Ahnung hatte wie es sein mochte, frei zu sein. Aber Siv sagte nichts dazu. Ihre neugewonnene Freiheit war nichts, worüber sie reden sollte, zu viel hing damit zusammen. Zu viel, was wenig zum Glücklichsein für sie gereichte. Aber Cimon lenkte sie zum Glück ab. Zuerst sah sie ihn völlig entgeistert an – sogar ihr Mund öffnete sich ein wenig vor Überraschung. "Nähen? Ich?!?" Einen Augenblick starrte sie ihn noch an, dann fing sie plötzlich an zu lachen. "Nein. Nein, ganz sicher nicht. Ich und nähen…" Siv kicherte fast ein wenig, dann grinste sie ihm zu. "Ich bin… arbeite lieber richtig. Der Garten, das habe zum Beispiel gemacht. Also, als ich noch durfte." Dann lächelte sie, und diesmal war ihrem Lächeln anzusehen, dass sie sich tatsächlich auf die Geburt freute – nicht nur, weil dann diese letzte Phase der Schwangerschaft endlich vorbei war, sondern weil sie sich auf das Kind freute. Ihr Kind. "Ja. Ein paar Wochen noch. Glaube ich."


    Dann war es wieder an ihr, ein wenig verblüfft und ein wenig irritiert zu blinzeln. "Oh", machte sie dann. Höflichkeit also. Sie selbst gehörte sicher nicht zu den Menschen, die dafür sorgten, dass es mehr Höflichkeit gab unter den Menschen. Sie unterdrückte einen Hustenreiz, musste sich aber doch ein wenig räuspern. "Ich, ähm. Ja. Also… Du musst nicht fragen. Nicht bei mir." Sie beobachtete ihn dabei, wie er nach dem suchte, wonach sie gefragt hatte, und sie bemerkte durchaus, wie sich seine Haltung zu ändern schien, als sie nach seinem alten Herrn fragte. Und was er sagte, ließ dann doch ihr Temperament aufflammen. "Was? Das ist doch nicht dein Ernst!" Sie richtete sich in ihrem Stuhl auf und neigte sich leicht nach vorn, so gut das mit ihrem Bauch möglich war. Die Schriftrolle, die Cimon ihr hinlegte, als er sich setzte, war vergessen. "Römer! Das darf doch nicht wahr sein!"

    Übermorgen also. Siv nahm die Worte wahr, aber dennoch schien es ihr fast so, als erreichten sie sie nicht. Sie fühlte sich sonderbar… distanziert. So als wäre sie nicht sie selbst, als stünde sie neben sich und betrachte eine andere dabei, wie sie ihr Leben lebte. Dinge sagte und tat. Als ginge sie das nichts an. Nicht mehr. Ein Teil ihrer Selbst schien an dieser Kammer zu kleben, schien damit verwoben zu sein. Alles, was sie gewollt hatte, seit sie damals aus Germanien zurückgekehrt war. Dass sie in diesem Zimmer neben dem Gemach Corvinus’ hatte leben dürfen, das symbolisierte für sie mehr als nur die Tatsache, dass sie damit als Sklavin einen besseren Stand bekommen hatte. So viel mehr. Es war das gewesen, was sie gewollt hatte. In seiner Nähe sein zu können. Ganz gleich, welche Schwierigkeiten es noch gab, ganz gleich, wenn er manchmal Phasen hatte, in denen er mit dem haderte, was war – in seiner Nähe sein zu können… das war alles gewesen, was sie gewollt hatte. Mit allem anderen hatte sie fertig werden können, hatte sie geglaubt, und bisher war es auch so gewesen. Ihre Hand, die auf Höhe ihrer Schulter leicht am Türstock ruhte, krampfte sich kurz um das Holz, während Corvinus – wie dieser seltsam unbeteiligte Part von ihr, den nichts zu kümmern schien, bemerkte – ihr zustimmte, was das Bett betraf. Dass sie die Kammer bekommen hatte, war sein Zugeständnis an sie gewesen, an das, was zwischen ihnen war, auch wenn er es nie wirklich laut ausgesprochen hatte. Dass er sie ihr jetzt wieder wegnahm, schien ihr, als könne es doch im Grunde nur eines bedeuten. Dass er die Konsequenzen zog aus seinen Befürchtungen, seinen Zweifeln, die stets da gewesen, niemals wirklich verschwunden waren. Dass er sein Zugeständnis wieder zurücknahm…


    Siv hatte das Gefühl, ins Bodenlose zu fallen. Aber da war immer noch dieser Teil ihrer Selbst, der das alles nur betrachtete – und dieser Teil war es, der in diesem Augenblick das Kommando übernahm. "Ich sorge dafür, dass gepackt wird, morgen." Ihre Stimme klang nun sogar für sie selbst merkwürdig, hohl und so schrecklich fremd, weil sie in Nuancen zu schweben schien, die sonst nicht ihre waren. Sie war sich gar nicht wirklich bewusst darüber, aber Siv verschloss sich in diesem Augenblick, verschloss sich vor weiterem Schmerz, weil ein Teil von ihr, ihr Unterbewusstsein, meinte – oder vielleicht auch ahnte, wusste –, dass sie im Moment nicht mehr ertragen konnte. Aber diese Kühle, die übrig blieb, das war etwas, was sonst Corvinus’ Art war. Nicht ihre. Nie ihre. Nur in diesem Moment… Ein Teil von ihr fiel, und das was zurückblieb, hielt die Fäden zusammen und handelte schlicht. Sie löste ihre Hand vom Türrahmen, betrat nun endlich tatsächlich sein Zimmer und ging auf ihn zu. Ließ sich neben ihm in die Knie sinken. Streckte ihre Hand ein wenig aus, vor ihm, hielt aber dann inne, wartete darauf, dass er sie ergriff. "Komm. Ich helf dir."

    Die helfende Hand, die er ihr hinstreckte, sah Siv etwas merkwürdig an. Sie war schwanger, nicht krank oder behindert. Es reichte ja schon, dass jeder meinte er müsse ihr das Arbeiten einschränken und jetzt sogar komplett verbieten, da brauchte sie es nicht auch noch, behandelt zu werden als wäre sie zu gar nichts mehr fähig. Und die anderen Sklaven im Haus wussten, teils aus Erfahrung, teils aus Erzählung, wie empfindlich sie reagieren konnte, wenn jemand davon ausging sie bräuchte Hilfe, nur weil sie schwanger war – und hatten schon längst aufgehört, ihr Hilfe anzubieten. Im Moment war Siv allerdings wenig temperamentvoll gestimmt, was nicht zuletzt mit ihrer unklaren Lage zusammenhing. "Danke, geht schon", winkte sie ab und grinste ein wenig schief. "Ich… ehm… freu mich auch…?" Das Fragezeichen in ihrer Stimme war nur ganz schwach zu hören, aber es war da. So viel Höflichkeit war sie tatsächlich nicht gewohnt. Sklaven wurde einfach nicht so viel Höflichkeit entgegen gebracht, nicht von Römern, und untereinander gingen sie in der Regel auch lockerer miteinander um. Jetzt konnte sie sich ein Grinsen nicht verkneifen, aber es verschwand sehr schnell, als Cimon nachfragte, was sich geändert hatte. "Er…" Siv hätte das Thema am liebsten gemieden. Sie konnte keine Freude vorspielen, wo keine – oder nur wenig – war. Auch wenn es das einfachste wäre, um irgendwelchen Fragen aus dem Weg zu gehen, sie konnte es einfach nicht. "Er hat mir die Freiheit geschenkt. Vor ein paar Tagen", antwortete sie und bemühte sich um ein Lächeln, das allerdings nicht halb so strahlend ausfiel, wie sie es gerne gehabt hätte. Zu gerne ging sie daher auf die andere Anspielung ein. "Ach, Freude…" Das Grinsen jetzt war ehrlich. "Ich freu mich darauf, wenn es endlich so weit ist. Das ist, das hier", sie gestikulierte zu ihrem Bauch, "nicht mehr angenehm. Dazu kommt Langeweile, weil ich nicht mehr arbeiten darf…" Sie zuckte leicht die Achseln und grinste erneut, um zu zeigen, dass sie es nicht ganz so ernst meinte wie es vielleicht klang.


    Ihre Frage hingegen schien ihn etwas aus dem Konzept zu bringen. Seine Antwort dann wirkte etwas seltsam, aber bevor sie nachfragen konnte, sprach er schon weiter, und Siv schüttelte nur, ein wenig verständnislos, den Kopf. "Nein, kein Problem. Warum fragst du das?" Machte er das, weil er wusste dass sie keine Sklavin mehr war? Das konnte ja noch heiter werden, wenn sich auf einmal jeder ihr gegenüber so seltsam verhielt. Aber nein, das Soffchen und Niki und die anderen würden ganz sicher nicht plötzlich ein solches Benehmen an den Tag legen, ganz im Gegenteil. "Und danke, aber…" Irgendwie bekam Siv das Gefühl, dass sie nun unhöflich war, weil sie ständig seine Angebote ablehnte. "Ehm. Die Vögel. Von Aristophanes", meinte sie dann doch. Darin hatte sie zuletzt gelesen. "Bitte", fügte sie noch an, nur um gleich weiterzusprechen: "Was hast du gemeint, vorhin? Mit, dein früherer Herr? Du musstest auf dem Boden sitzen, bei ihm?"

    Der Mann erhob sich und lächelte ihr zu, äußerst höflich, ebenso wie seine Worte – so höflich, dass Siv kurz blinzelte, weil sie es nicht gewohnt war, dass jemand so mit ihr sprach. "Ehm, nein. Aber danke", antwortete sie auf seine Frage, ob er ihr helfen oder etwas bringen könne. "Ich wollte einfach nur… lesen, ein bisschen. Zeit hier verbringen." Bei seinen nächsten Worten ergriff sie kurz Verlegenheit, weil sie sich noch nicht vorgestellt hatte – gar nicht daran gedacht hatte – und im nächsten Augenblick so etwas wie Irritation, als er eine Verneigung andeutete. Das war sie nun wirklich überhaupt nicht gewohnt. Rein aus einem Reflex heraus neigte sie in Erwiderung ebenfalls leicht ihren Kopf. "Ich bin Siv. Ich bin Le… war Leibsklavin, von Aurelius Corvinus", verbesserte sie sich, und noch während sie sprach, meinte sie zu sehen, wie das höfliche Lächeln ihres Gegenübers sich ein wenig wandelte, offener, ehrlicher zu werden schien. Kurz fragte sie sich, warum das so war, ob er irgendetwas von ihr schon gehört hatte, und wenn ja was – aber in jedem Fall schien er es positiv aufzunehmen, egal woran es lag. Sie lächelte ebenfalls leicht und ließ sich langsam – und ein wenig umständlich, das ließ sich nun nicht mehr vermeiden – in einen der Korbsessel sinken, die herumstanden. "Gibt es einen Grund, warum du auf dem Boden gesessen hast?" fragte sie dann nach.

    Von Corvinus kam die gleiche Antwort, mit der gleichen Begründung, wie von Brix. Sie war keine Sklavin mehr. In Siv flammte kurzzeitig so etwas wie Trotz auf. Wenn sie keine Sklavin mehr war, warum konnte sie dann trotzdem nicht selbst entscheiden? Aber so schnell diese Phase plötzlichen Stursinns gekommen war, so schnell war sie wieder vorbei. Das hier war nicht ihr Haus. Sie konnte hier gar nichts entscheiden – nur dieses eine: ob sie gehen oder bleiben würde. Alles andere lag nach wie vor in seinen Händen. In den Händen eines Mannes, der augenblicklich mehr als nur ein bisschen betrunken zu sein schien. Siv stand reglos im Türrahmen und wusste nicht recht, wie sie reagieren sollte. So selten hatte sie ihn so gesehen, so selten passierte es, dass er zu viel Wein trank. Es konnte nur bedeuten, dass etwas los war, dass es ihm nicht gut ging. Aber ihr ging es auch nicht gut, und etwas in ihr weigerte sich in diesem Moment strikt, wahrzuhaben, weshalb es ihm nicht gut ging. Dass es vielleicht die Möglichkeit war, dass sie gehen, ihn verlassen könnte. Wenn sie diese Gedanken zuließ, würde ihr Weg klar sein – sie würde bleiben. Und würde unter der Situation leiden, umso mehr, je seltener sie mit ihm Zeit verbringen konnte. Und er hatte es ja gerade selbst bestätigt, dass es so kommen würde, wie auch Brix schon gesagt hatte. Sie musste die Kammer neben seinen Räumen verlassen. Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals. Sie konnte sich noch so gut daran erinnern, wie er sie ihr angeboten hatte. Was es bedeutet hatte, für sie, und auch für ihn, zumindest hatte sie das zu wissen gemeint, auch wenn er es nicht laut ausgesprochen hatte. Was bedeutete es, dass er sie ihr jetzt wieder wegnahm? Konnte es denn etwas anderes heißen als dass er sie nicht mehr in seiner Nähe haben wollte?


    Siv presste die Kiefer aufeinander. Schweigen breitete sich erneut aus – das schließlich erneut von Corvinus durchbrochen wurde. Diesmal schaffte er es, sie ein wenig zu irritieren. "Du…" Im allerersten Moment dachte sie, er meinte für immer. Würde Rom verlassen. Dann begriff sie, dass das kaum sein würde, immerhin kandidierte er gerade wieder – er würde nie seine Pflicht hier im Stich lassen. Aber was sie auf diese Worte sagen sollte, wusste sie genauso wenig wie zuvor. Dann fuhr er weg. Mit Celerina. Sie ging nicht davon aus, dass sie bei einer derartigen Reise erwünscht war als Begleitung, ganz davon abgesehen, dass sie im Moment nicht mehr wirklich zum Reisen in der Lage war, wie sie zuvor mit Brix schon festgestellt hatte. Einen Stich versetzte ihr aber das Bewusstsein, dass er mit ihr niemals irgendwohin gefahren war. Und dabei wäre es gar nicht so schwer gewesen, erst recht nicht bevor er geheiratet hatte. Er hätte einfach nur sagen müssen, dass er ein paar Tage… frei haben wollte, um sich zu erholen. Dass er seine Leibsklavin zu so etwas mitnahm, wäre doch nur selbstverständlich. Aber das hatte er nie getan. Siv schloss die Augen für einen Moment. "Wann fahrt ihr los?" Sie bemühte sich, einen unbeteiligten Eindruck zu machen, aber obwohl es ihr nicht allzu gut gelang, machte sie sich keine große Sorgen, er könnte etwas erkennen, so betrunken, wie er augenscheinlich war. Er saß an die Wand gelehnt wie ein Häufchen Elend. "Du solltest ins Bett gehen", meinte sie dann. Hauptsächlich um abzulenken.

    Seit Corvinus – und mit ihm Celerina – gefahren waren, waren inzwischen schon einige Tage vergangen. Und Siv hatte sich immer noch nicht zu einer Entscheidung durchringen können. Sie wusste zwar, dass sie Zeit hatte, denn bis zur Geburt würde sie in jedem Fall bleiben, alles andere wäre mehr als nur unverantwortlich, aber trotzdem lastete die Ungewissheit schwer auf ihr. Und dass es ihre eigene Unentschlossenheit war, die diese Ungewissheit andauern ließ, machte es nicht unbedingt leichter. Genauso wenig, dass Brix in der letzten Zeit ein noch schärferes Auge auf sie zu haben schien. Es wurde immer schwerer, irgendwelche Schlupflöcher in diesem lächerlichen Arbeitsverbot zu finden. Es gab doch immer irgendetwas, was sie tun könnte. Leichtes. Es ging ihr ohnehin viel besser, als es ihr gegangen wäre, wäre sie in Germanien – oder auch hier in Rom, nur in einem anderen Haushalt. Oder schlicht als Mitglied einer niedrigeren Schicht. Es gab nicht allzu viele Frauen, die es sich leisten konnten, während einer Schwangerschaft gar nichts zu tun. Und Siv war keinesfalls gemacht dafür – im Allgemeinen nicht, und speziell jetzt, wo ihr so viel im Kopf herumging und sie Ablenkung eigentlich dringend nötig hatte, erst recht nicht.


    Nachdem Brix sie am Vormittag mal wieder im Garten erwischt hatte – Sofia hatte sie gesehen, aber dass sie petzen würde, hatte Siv nicht erwartet, weil sie nun wirklich nichts getan hatte, nur hier etwas angesehen und dort etwas gezupft… so schwanger wie sie inzwischen war, waren ihr mittlerweile doch von vornherein schon gewisse Grenzen gesetzt in dem, was sie tun konnte! –, war sie ihm ohne Widerspruch ins Haus gefolgt. Sie hatte nicht die Energie, sich mit ihm oder sonst wem herumzustreiten. Und er konnte nicht die ganze Zeit auf sie aufpassen. Es war einfacher, ihm seinen Willen zu lassen und, so bald er weg war, nach etwas Neuem zu suchen, womit sie sich beschäftigen konnte. Im Augenblick schien aber überall, wo sie hinkam, irgendjemand zu sein, und so lenkten ihre Schritte sie schließlich in die Bibliothek. Lernen, lesen, irgendwas würde sie dort schon finden, um Zeit zu überbrücken. In der Bibliothek angekommen stellte sie fest, dass sie auch dort nicht die Erste war – ein Nubier, dem Aussehen nach, für ihre Begriffe Leone recht ähnlich, saß auf dem Boden, vertieft in eine Schriftrolle. Ursus’ Sklave, wenn sie sich richtig an das erinnerte, was das Soffchen getratscht hatte, auch wenn sie selbst ihn bisher höchstens flüchtig gesehen hatte im Haus. Nun… Lesen war nun wirklich nichts, was ihrem Zustand schädlich sein könnte. Aber sie war sich nicht ganz sicher, ob er nicht lieber allein war. "Entschuldige. Ehm. Stört dich, wenn ich bleibe?"

    Siv blieb stehen, wo sie war. Regungslos starrte sie ins Dunkel hinaus, während es in ihrem Zimmer ebenfalls dunkel wurde, als die Öllampe leer wurde und erlosch, und ihre Gedanken schienen, wie schon des Öfteren, eine wilde Hatz zu vollführen. Aus dem Gemach neben ihrer Kammer drang eine Stille, die ebenso groß war – und ebenso zu dröhnen schien – wie die hier. Siv senkte die Augenlider, langsam, und öffnete sie wieder. Brix hatte gesagt, sie sollte schlafen gehen, und sie wusste, er hatte Recht. Es wäre besser. Vernünftiger. Aber wann hatte sie schon je das getan, was vernünftig war? Ohnehin würde sie jetzt nicht schlafen können, das wusste sie. Nicht bleiben. Sie konnte nicht bleiben. Nicht in diesem Zimmer. Nicht in diesem Haus? Aber wenn sie nicht in diesem Haus blieb, würde sie auch nicht in dieser Stadt bleiben. Nicht einmal in diesem Land. Es war, wie sie Brix gesagt hatte: sie wäre verloren, hier, ohne den Rückhalt, die Rückzugsmöglichkeit, die sie hier in der Villa hatte. Die Male, die sie tatsächlich in Rom allein unterwegs gewesen war, konnte sie trotz all ihrer Zeit hier vermutlich an zwei Händen abzählen. Nun, das war vielleicht übertrieben, aber es würde definitiv keine große Zahl herauskommen. Sie würde sich hier nicht zurechtfinden, nicht allein, nicht einmal mit Brix’ Hilfe – denn er konnte ja auch nicht ständig bei ihr bleiben, erst recht nicht, wenn sie nicht mehr hier wohnte. Nein, hier bleiben, das war nur eine Alternative, wenn sie hier, in diesem Haus blieb – und hier auch Arbeit bekam. Welche auch immer. Aber ob es überhaupt funktionieren würde, das mit dem hier Bleiben, das wussten die Götter allein.


    Mitten in diese Gedanken hinein platzte Corvinus’ Ruf – ach was, Ruf, Gebrüll traf es wesentlich eher – nach mehr Wein. Siv wurde eher unsanft aus ihrem fast schon traumähnlichen Zustand gerissen und zuckte zusammen, starrte dann die Verbindungstür an. Er meinte nicht sie. Er meinte sicher nicht sie. Er konnte nicht sie meinen, nicht ernsthaft, nicht tatsächlich. Sie blieb stehen und rührte sich wieder nicht, nur dass sie diesmal nicht aus dem Fenster starrte, sondern zu besagter Tür. Nun, da die Stille durchbrochen war, fiel Siv auch nicht mehr in diesen Zustand zurück, in dem sie nicht mehr ganz sie selbst zu sein schien – nicht im Moment, jedenfalls. Sie lauschte auf die eiligen Schritte, die bald nach dem Ruf durch den Gang eilten, hörte, wie geklopft wurde, wie sich die Tür öffnete, wie in dem anderen Raum etwas rumorte und die Tür sich dann wieder schloss, ohne dass scheinbar Worte gewechselt wurden. Und sie stand immer noch da. Und schließlich, ohne darüber nachzudenken, ob es vernünftig war – wann hatte sie das je? –, überwand sie den Abstand zur Tür und öffnete sie. Auch dort war es dunkel, wie bei ihr, nur vage drang das Licht der Sterne und des Mondes herein. Dennoch sah sie genug, waren ihre Augen an das merkwürdige Zwischenlicht doch gewöhnt. "Stimmt das?" Wie dieses merkwürdige… Nicht-Licht war auch der Klang ihrer Stimme merkwürdig… schien im Dazwischen zu schweben, zwischen Fülle und Leere, vibrierender Farbe und blassem Grau, Tonlosigkeit und etwas… anderem. Sie machte eine Kopfbewegung zu dem Zimmer hinter ihr. "Die Kammer… dass ich da nicht… mehr sein kann?"

    Ja, lag ihr auf den Lippen, ja, ich brauch noch was. Ich brauch ein neues Zimmer. Plötzlich hatte Siv das Bedürfnis, zu gehen, hatte das Gefühl, es nicht eine Nacht länger hier auszuhalten. Aber sie sagte nichts. Sie ahnte sowieso, dass sie heute nicht würde schlafen können. Es spielte keine Rolle. Sie verschränkte ihre Arme und heftete ihren Blick auf irgendetwas im Zimmer. Brix sagte sonst nichts mehr, ließ mit keinem Wort oder Blick erkennen, ob er ihr glaubte, dass sie sich seinem Wort fügen und von nun an nichts mehr tun würde, sagte auch nichts mehr zu den Themen Zimmer oder Zeichen. Und Siv fragte nicht nach. Es interessierte sie nicht. Ihre Gedanken wirbelten in der düsteren Zukunftsvision, die sie sich selbst erschaffen hatte. "Ja. Ja, schlafen, das ist eine gute Idee." Sie bemühte sich, ihrer Stimme so etwas wie Klang, wie Farbe zu verleihen, damit sie nicht allzu leblos wirkte. Sie wollte nicht, dass Brix sich Sorgen machte. Einer ihrer Mundwinkel hob sich sogar in der Karikatur eines Lächelns. Hätte er es nicht von selbst zur Sprache gebracht, sie hätte ihn jetzt gebeten, zu gehen. Sie allein zu lassen. "Nein, ich brauch nichts. Danke." Wortlos sah sie ihm hinterher, als er das Zimmer verließ. Starrte noch für Augenblicke auf die Tür… und drehte ihren Kopf dann wieder zur Seite, um reglos aus dem Fenster zu sehen, während ihre Gedanken weiter wirbelten, so rasch, dass es ihr selbst schon wieder wie ein Stillstand vorkam, weil ihr Bewusstsein nicht folgen konnte.

    Du kannst nicht hier bleiben, echote es in ihrem Kopf. Nicht hier bleiben. Siv hatte auf einmal das Gefühl, nur noch mühsam Luft holen zu können, fast als sträube sie sich, in ihren Rachen zu fließen und ihre Lungen zu füllen. Sie begann den gestrigen Tag zu verfluchen, an dem Corvinus auf die Idee gekommen war, ihr die Freiheit schenken zu müssen. Warum konnte sie denn nicht hier bleiben? Was sprach dagegen? Es war doch gleichgültig, ob sie Sklavin war oder nicht, wenn sie die gleichen Aufgaben haben würde. Siv schloss die Augen. Wenn. Wenn aber nicht… Du bist keine Sklavin mehr. Das hatte Brix gesagt. Und wenn es nun mal eine Sklavenaufgabe war… Du kannst hier nicht bleiben. Wenn jemand anderes diese Aufgaben übernehmen würde… Die Luft wurde plötzlich noch zäher. Was um alles in der Welt sprach dagegen, dass sie weiter dieses Zimmer ihr eigen nennen konnte, wenn sie sich entschied, hier, in der Villa, zu bleiben? Sie hatte das Gefühl, auf einmal gegen eine Wand gerannt zu sein, die aus dem Nichts aufgetaucht war. Bisher hatten sich ihre Gedanken um die Entscheidung gedreht, die sie zu fällen hatte – aber die einzelnen Möglichkeiten waren für sie klar definiert gewesen, vor allem wie es sein würde, wenn sie nicht ging. Sie war davon ausgegangen, dass ihr Leben ungefähr gleich bleiben würde, wenn sie beschloss in Rom zu bleiben, bei Corvinus. Jetzt begann ihr langsam klar zu werden, dass das ganz offenbar nicht so war. Und ihre Gedanken fingen an sich darum zu kreisen, wie ihr Leben hier wohl aussehen mochte – wenn sie blieb. Ihre Lippen kräuselten sich in einem Anflug von Bitterkeit, als sich ein düsteres Bild vor ihrem inneren Auge zeichnete, in raschen, rauen Skizzen. Es würde geschehen, wie Brix gesagt hatte – sie würde nicht hier bleiben können, vielleicht ein paar Tage noch, aber nicht mehr für lange. Sie würde aus dieser Kammer ausziehen. In ein anderes Zimmer. Sie würde irgendwelche anderen Aufgaben zugeteilt bekommen. Und irgendwer anders… würde ihre bisherigen übernehmen. Und sie… sie würde ihn kaum noch zu Gesicht kriegen. Genauso wie damals, als sie aus Germanien zurück gekommen war… Sie würde ihn nur noch selten sehen, und wenn dann nur wie von weitem, wie aus weiter, weiter Ferne… unerreichbar für sie. Und er würde nichts an diesem Zustand ändern. Würde sie in der Villa dulden, weil er wohl meinte es ihr schuldig zu sein, und weil es ihm vielleicht auch gefiel, sie von Zeit zu Zeit zu sehen, und das Kind… aber nicht mehr. Weil er sie nicht mehr in seiner Nähe, nicht bei sich wollte.


    Plötzlich war da wieder dieses Loch in ihrer Brust, und ihr Oberkörper hob und senkte sich schwer, weil die Luft immer noch so zäh war, so furchtbar zäh.


    "Entscheid du", murmelte sie. Wenn sie ohnehin aus dem Zimmer hinaus musste, war es doch gleichgültig, wann und wohin. Und auch was das Zeichen in ihrem Nacken betraf – was kümmerte es sie, wann und wie es verschwand? Nur dass sie nicht mehr arbeiten sollte, gar nicht mehr… Wie sollte sie sich denn sonst beschäftigen? Aber irgendetwas würde ihr schon einfallen. So wie immer. Und wenn sie einfach trotzdem arbeitete, dann, wenn Brix nicht hinsah, nicht da war, nicht Bescheid wusste. "Wie du meinst."

    Hätte Siv nicht einen mittlerweile beachtlichen Bauch, wäre sie aufgesprungen – so aber wurde nur wieder ein unelegantes Hieven daraus, das aber trotzdem verblüffend schnell vonstatten ging. Sie hielt es nicht mehr aus, still zu sitzen, diesmal nicht weil ihr der Rücken weh tat, sondern weil sie das Gefühl hatte, platzen zu müssen, wenn sie noch länger tatenlos blieb. Sie konnte nicht sagen, ob Brix tatsächlich verstand, was sie meinte, aber er ging auf ihre Worte nicht allzu sehr ein, und Siv war niemand, der sich aufdrängte. Sie ging zu dem kleinen Fenster hinüber, drehte sich dann um und sah Brix an. "Ja, das denke ich. Nicht was die Menschen betrifft, aber das Zurechtkommen. Das Überleben. Wenn ich hier ausziehe und irgendwo in Rom… unterkomme… ich wüsst ja noch nicht mal, wie ich hier meinen Lebensunterhalt bestreiten sollte." Sie lehnte sich an die Fensterbank, senkte ihren Blick und starrte auf den Boden. "Ich weiß es doch auch nicht." Sie sollte keine Dummheiten machen. Als ob sie wirklich danach entscheiden würde, was dumm war oder nicht. Als ob sie jemals danach entschieden hätte. Ihre Gefühle, egal ob es nun Trotz war oder Wut oder… Liebe… waren schon immer stärker als ihr Verstand gewesen. Ihr Kopf wandte sich zur Seite, so dass ihr Gesicht für Brix nun im Profil zu sehen war, und sie blickte hinaus, in die Dämmerung, die mittlerweile so weit fortgeschritten war, dass es eigentlich schon fast Nacht war. Sie hatte es gesagt. Eigentlich wollte sie bleiben. Eigentlich… wenn es nur so einfach wäre…


    Und dann, plötzlich, schnellte ihr Kopf wieder zurück. Sie starrte Brix an. "Wie… was? Ein Zimmer?" Sie war davon ausgegangen, dass sie hier bleiben würde, in diesem Zimmer. Dass sie hier bleiben konnte. Immerhin war das das Praktischste, oder nicht? Sie würde doch weiterhin ihren Tätigkeiten hier nachgehen, für Corvinus da sein, ihm helfen, ihn begleiten… Sie hatte gedacht, wenn sie hier blieb – wenn sie sich dafür entschied, tatsächlich –, würde sich nicht großartig etwas an ihren Aufgaben ändern. Hieß ein anderes Zimmer auch andere Arbeit? Oder… Siv presste die Kiefer aufeinander. Wenn, falls, sie sich entscheiden sollte zu bleiben, dauerhaft, dann weil sie zu dem Schluss gekommen war, dass sie es aushalten würde – dass die wenigen glücklichen Stunden, die sie mit Corvinus hatte, alles andere wert war, auch die Ablehnung, die sie manchmal von ihm erfuhr. Aber wenn sie nicht mehr neben ihm schlief, dann minimierte das schlicht die Zeit, die sie miteinander verbrachten – verbringen konnten, ohne dass es auffiel. Sie würde noch mehr darauf angewiesen sein, dass er sich Zeit nahm, um mit ihr zusammen zu sein. Es würde noch schwieriger werden als ohnehin schon. "Ich… muss ich… kann ich nicht hier… bleiben?"

    Froh darüber, dass Brix ihre Tränen ignorierte, sah Siv ihn nun doch wieder an. Dass Corvinus in letzter Zeit gereizt war, das hatte auch sie gemerkt – aber dass es ihm nicht gut ging, das war ihr nicht so bewusst geworden. Nicht wirklich. Dafür war es ihr selbst in letzter Zeit selbst nicht gut genug gegangen. Und selbst wenn… die Verbindungen, die sie herstellte, waren nicht immer die richtigen – und wie sollten sie es auch sein, wo Corvinus doch jedes Mal, wenn sie über dieses Thema sprachen, darauf hinwies, wie schwierig es für ihn war? Wie falsch es war? War es da verwunderlich, dass Siv davon ausging, es ging ihm deswegen schlecht, und nur deswegen – weil er seiner Frau kein guter Ehemann war, weil er als Römer und Senator, als Mann von Stand keine… kein… was auch immer mit einer Sklavin haben sollte? Auf Brix’ Worte, dass Corvinus sie hören könnte, zuckte sie nur mit den Achseln. Ein Teil von ihr hoffte fast, dass er es tat, und dass er hereingestürmt kam und etwas sagte oder ihretwegen auch gleich los brüllte, weil sich dann wenigstens etwas getan hätte. Es wäre etwas passiert. Sie könnte zurückbrüllen. Sie könnte ihm an den Kopf werfen, was ihr so zu schaffen machte. Sie könnte… Sie zuckte noch mal mit den Achseln. Sie bezweifelte, dass Corvinus noch genug von ihren Germanisch-Stunden damals wusste, um zu verstehen, was Brix und sie hier sprachen. "Ich kann es nicht ändern. Und ich kann ihn nicht ändern. Und ich kann es auch keinem leichter machen, mir nicht und ihm auch nicht", erwiderte sie leise. "Das heißt, ich könnte es. Ich könnte gehen", fügte sie dann bitter an. Sie presste die Lippen aufeinander. "Bitte, Brix, glaubst du denn, er würde mich auf seine Plantage schicken, wenn ich sein Kind trage? Wenn schon sonst nichts, dann bedeutet wenigstens das ihm etwas. Auch wenn ich nicht weiß, was."


    Sie holte tief Atem. Nein. Hochschwanger, wie sie war, konnte sie nicht nach Germanien gehen, das wusste sie. Sogar sie, die häufig eher zu Leichtsinn, oder eher: Risikofreudigkeit tendierte, wusste, dass sie für seine solche Reise ganz sicher nicht im richtigen Zustand war. Nicht jetzt. "Nein, das nicht. Aber es kann nicht mehr allzu lange dauern, bis das Kind da ist." Wieder strichen ihre Finger in einer unbewussten Geste über ihren Bauch. "Was soll ich denn in Rom, Brix? Du weißt doch genauso gut wie ich, dass ich hier verloren bin. Es läuft nur so gut, weil ich hier bin, in der Villa, weil ich es seit Jahren gewohnt bin und weil es hier Platz gibt und den Garten und dich und die anderen und… und ihn…" Wieder holte sie tief Luft. Wie oft hatte sie in den ersten Monaten hier wach gelegen, weil sie sogar in der geräumigen Villa das Gefühl gehabt hatte, die Wände würden sie erdrücken? Wie oft hatte sie nur schlafen können, wenn sie in den Garten gegangen war – oder wenn sie die Nacht bei ihm, in seiner Gesellschaft, hatte verbringen können? "Aber Rom? Jeder Wald wäre mir lieber. Ich weiß, dass ich mittlerweile zu verweichlicht bin, um jetzt direkt im Winter zu überleben, schon gar nicht mit einem Kind, aber das ist nichts, was sich nicht auf Dauer wieder ändern ließe."