Beiträge von Decima Seiana

    Als Lanassa damit herausbrach, dass sie sie mit ihrem Leben schützen würde, erstarrte Seiana – was auch gut so war, sonst hätte sie sich vermutlich heillos in den verschiedenen Stoffbahnen verheddert. „Das… hrm.“ Sie räusperte sich. Sie wusste, theoretisch, dass ein Leibwächter – gleich ob männlich oder weiblich – dafür da war. Genau aus diesem Grund legte man sich einen Leibwächter zu. Aber sie hatte bisher noch nie einen gehabt. Es war das erste Mal, dass ein Mensch so etwas zu ihr sagte, und Lanassas Stimme war noch dazu anzuhören, dass sie wirklich ernst meinte, was sie da sagte.


    Seiana schwieg zunächst und ließ sich von der Sklavin dabei helfen, den Stoff zurecht zu rücken, was diese mit kundigen Händen in kürzester Zeit schaffte – während die Decima sich verwirrt fragte, wie sie das geschafft hatte. Hoffentlich war das Ausziehen von dem Ding leichter als das Anziehen. Die Verwirrung währte allerdings nur den Bruchteil eines Augenblicks, dann hatte sie sich wieder im Griff und lächelte Lanassa an, die allerdings ihren Blick schon wieder gesenkt hatte. Nach einem winzigen Zögern ergriff Seiana ihre Hand und drückte sie kurz. „Ich hoffe, dass es nicht so weit kommen wird.“ Ihr linker Mundwinkel hob sich noch etwas weiter, während sie die Hand der anderen gleich wieder losließ, die Arme hob und dann eine halbe Drehung machte. „Was meinst du? Passt das?“ Dann fiel ihr etwas ein. Die wichtigsten Dinge waren Lanassa bereits zur Verfügung gestellt worden, wie zum Beispiel ein Kamm und weiteres. Und etwas an Kleidung hatte sie mitgebracht, aber Seiana hatte sich bis jetzt noch keinen Überblick darüber verschafft, von welcher Qualität diese waren. „Hast du eigentlich ein paar feinere Tuniken? Und gibt es sonst irgendwas, das dir fehlt?“

    Seiana lächelte unvermindert weiter. Dass das Gedicht nicht von ihm war, fand sie nicht so schlimm, wer wusste schon, was dann daraus geworden wäre – sie kannte ihn inzwischen gut genug um zu wissen, dass so etwas nicht unbedingt zu seinen Stärken gehörte. Aber dass er es überhaupt versucht hatte, und dass er sich hatte helfen lassen von jemandem, um eines zu haben… „Ich brauch kein Gedicht. Ehrlich nicht“, grinste sie. „Aber ich find’s toll, dass du es versucht hast. Dass du dir solche Gedanken gemacht hast.“ Er wollte sie. Nicht ‚nur’ eine Frau, die aus einer angesehen Familie stammte und einigermaßen umgänglich war. Sonst würden sie auch nicht hier im Schlamm sitzen, sondern vermutlich irgendwo anders. Und es wäre… anders, wenn es hierbei hauptsächlich um eine politisch und traditionell möglichst vorteilhafte Verbindung gehen würde. Offizieller. Steifer. Nicht so verspielt und lustig, dass die Leute, die an dem Gerüst und dem Schlammbecken vorbei kamen, nicht anders konnten als gucken.


    Dass die Menschen guckten, mochte vielleicht auch daran liegen, dass sie sich schon wieder küssten. „Mh, Briefe?“ meinte sie dann, auf die Briefe bezogen. „Bin gespannt was sie schreiben.“ Caius – Seiana grinste schon wieder, als ihr auffiel, wie schnell sie schon in Gedanken begann, ihn Caius zu nennen – stand inzwischen auf und reichte ihr eine Hand, und sie ergriff sie und ließ sich mit Schwung hochziehen, was dem Schlamm ein lautes Plopp entlockte. „Ans Eheregister? Äh, ja, klar, gern, auf jeden Fall!“ Da war wohl einiges zu klären jetzt, und das Eheregister war dabei nur eins von vielen. „Oh, und Faustus muss ich auch gleich schreiben. Und Meridius.“ Sie stockte kurz und sah ihn an. „Was, äh, wie wollen wir das überhaupt machen? Ich meine, mit der Hochzeit dann und so…“ Nun machte sich erneut Aufregung breit in ihr, aber sie schob sie beiseite. „Egal. Das hat Zeit. Erst feiern wir, was meinst du? Sollen wir hier weiter machen, oder willst du woanders hin?“

    Seiana warf Lanassa gelegentlich einen Seitenblick zu. Lange war sie noch nicht bei ihnen, nicht lange genug, um sich wirklich schon kennen gelernt zu haben, zumal die Sklavin ziemlich zurückhaltend war. Was Firas davon halten mochte, dass sie die Leibwächterin mitnahm, war ihr nicht bewusst, aber sie hatte Lanassa ja auch nicht unbedingt gekauft, weil sie selbst der Meinung war, sie bräuchte diesen Schutz. Sie glaubte einfach eher, dass ihre Familie sich in dem Wissen wohler fühlte. Und jetzt war Lanassa nun mal bei ihnen, und ein Leibwächter – oder eine Leibwächterin – begleitete einen doch immer, wenn man unterwegs war. Mutmaßte Seiana jedenfalls. Wie auch immer, sie wollte sie näher kennen lernen, und dafür wollte sie jede Gelegenheit nutzen. Immerhin musste sie ihr ja vertrauen können, und so zuverlässig Lanassa sich auch erweisen mochte – von ihrem bisherigen Verhalten zu schließen schien sie ein echter Glücksgriff gewesen zu sein –, Vertrauen war noch einmal etwas anderes, das brauchte einfach etwas Zeit. Und Lanassa schien jedenfalls eher ruhig und zurückhaltend zu sein, allerdings war Seiana sich nicht ganz sicher, ob sie tatsächlich so war, oder ob ihr das angetrimmt worden war. Vielleicht lockerte der heutige Ausflug sie ja etwas auf. Elena und Katander hätte sie ja auch mitgenommen, aber die hatten dankend abgelehnt und, wen wunderte es, es vorgezogen, lieber zuhause zu bleiben und die dort anfallenden Arbeiten zu erledigen – und danach zu genießen, dass sie etwas Zeit allein miteinander verbringen konnten, wozu sich ihnen doch eher selten die Gelegenheit bot.


    Firas wirkte für Momente etwas abgelenkt, während Seiana die Straße auf und ab sah, die sie inzwischen schon öfter entlang gegangen war. „Das Paneion? Klingt großartig.“ Sie grinste übermütig. Heute war sie definitiv in der Stimmung für eine ausgiebige Besichtigung aller möglicher sehenswerter Punkte – die Frage war nur, wie viel sie heute wirklich schaffen würden. Aber das hieß ja nicht, nicht wenigstens alles zu geben. Vorfreudig rieb sie sich die Hände. „Na dann lass uns loslegen. Das Paneion. Erzähl.“ Und Firas legte los, erzählte von Pan, mal mehr in Lanassas Richtung, mal mehr in ihre. Wer Pan war, wusste sie, allerdings hatte ihr noch niemand auf diese Art erzählt, wer dieser Gott war und vor allem, wofür er zuständig war, und sie konnte nicht anders als leise zu kichern. „Wollust und…“ Seiana hustete und grinste dann noch breiter. Nein, auf die Art hatte ihr noch niemand von Pan erzählt. Sie wich einem Mann aus, der kurz zuvor Firas angerempelt hatte und sich rücksichtslos weiter seinen Weg suchte. Kurz wollte sie fragen, ob alles in Ordnung war, aber Firas sprach bereits weiter. „Ist er das, wirklich? Wofür ist Pan noch bekannt?“ Erneut streifte ein kurzer Seitenblick Lanassa, um zu sehen, ob Firas’ Erzählung der Sklavin eine Reaktion entlocken konnte. Sie suchte nach Worten, was sie zu der Sklavin sagen könnte, aber im Moment wollte ihr nichts einfallen.


    In der Zwischenzeit hatten sie das Paneion erreicht, der Park breitete sich vor ihnen aus, und in der Mitte konnten sie den künstlichen Hügel sehen, von dem Firas gesprochen hatte. „Weißt du, warum der Hügel diese Form hat? Hat das irgendwas mit Pan zu tun?“ fragte Seiana neugierig, während sie sich gleichzeitig schon darauf freute, hinaufzulaufen und den Ausblick zu genießen. „Was meint ihr, wie lange wir brauchen, bis wir oben sind?“

    Seiana grinste weiter, obwohl sie von sich selbst und dem zaghaften Kuss überrascht war, und es war ihr völlig egal, wie bescheuert sie dabei wohl aussehen mochte. Sie schien gar nicht aufhören zu können mit dem Grinsen. Sie strampelte etwas, um ein bisschen aus dem Schlamm herauszukommen, als Archias ein Stück zur Seite rückte, aber waren höchstens ein paar Fingerbreit, die sie herauskam, und mindestens die Hälfte davon war wieder dahin, als sie zurücksank. Es war ihr egal. Sie strahlte einfach nur. Gedanken wirbelten durch ihren Kopf, und gleichzeitig konnte sie keinen davon fassen. Es war auch nicht wichtig. Es war egal.


    Etwas überrascht war sie dann doch, als Archias ihr gestand, wie lange er sich schon Gedanken machte, wie sehr ihn das beschäftigt hatte, und mit wem er alles gesprochen hatte – bei dem Namen Iunia Axilla klingelte irgendwas bei ihr, aber im Moment verschwendete sie keinen weiteren Gedanken daran. Wichtig war nur, was er sagte. Haarklein hatte er es sich überlegt. Sie strahlte noch mehr, wenn das überhaupt möglich war. Da hatte sie sich die ganzen letzten Wochen immer häufiger gefragt, was in ihm vorgehen mochte, und er hatte darüber gewälzt, wie er sie fragen könnte… „Du hast ein Gedicht vorbereitet?“ Sie fand das süß, und sie fühlte sich eindeutig geschmeichelt. „Das ist nicht peinlich“, kicherte sie. „Und alles andere als unspektakulär, ich bitte dich. Ich find’s toll. Das hier ist einzigartig. Das hätte nicht besser sein können. Und das können wir noch unseren Enkelkindern erzählen, irgendwann mal.“


    Weiter kam sie nicht, denn in dem Moment beugte Archias – Caius – sich nach vorne und küsste nun sie. Es war ein Kuss. Wie der ihre. Technisch gesehen. Praktisch war es etwas völlig anderes als das, was sie kurz zuvor gemacht hatte. Seiana blieb die Luft weg, hatte sie doch herzlich wenig Erfahrung damit – aber sie stellte fest, dass es ihr gefiel, und sie hatte das Gefühl, sie könnte das schnell lernen. „Ähm. Hrm.“ Sie holte Atem, räusperte sich und tastete unwillkürlich mit ihren Fingern über ihre Lippen, als er sich wieder zurücklehnte. Wie von fern hörte sie, wie irgendwer irgendetwas rief, und sie brauchte etwas bis sie realisierte, dass sie gemeint war, mit der Belästigung. Ohne zu dem Kerl zu schauen, winkte sie nur ab. „Wir sind verlobt“, rief sie hinauf, dann grinste sie Caius an. „Verlobt. Das klingt gut. Das ist…“ Seiana kicherte erneut, eindeutig albern diesmal. „…toll“, vollendete sie schließlich, und dann küsste sie ihn erneut, nicht ganz so wie er, aber ganz eindeutig auch nicht mehr so zaghaft wie noch zuvor.

    Seiana konnte nicht anders, sie musste lachen, als sie ihn nach Luft schnappen hörte. Es klang, als ob er die ganze Zeit den Atem angehalten hätte, was sie absolut nachvollziehen konnte, war es ihr doch kurz zuvor auch zumindest schwer gefallen, Luft zu holen. Für Augenblicke saß er einfach nur da und starrte sie an, dann breitete sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus, dass dem ihren in nichts nachstand. Ihr Lächeln wurde noch einmal strahlender, während ihre Unterlippe erneut zwischen die Zähne gezogen wurde. Sie konnte gar nicht genau sagen, was alles in ihr los war. Sie war aufgeregt, sie war ein bisschen nervös, sie war sich nicht sicher, ob das gerade wirklich passierte… Und sie freute sich. Oh, sie freute sich so sehr. Die ganze Unsicherheit der letzten Wochen fiel auf einmal von ihr ab, die Fragen, die Grübeleien darüber, ob er es sich nicht doch anders überlegt hatte, ob er das Interesse verloren hatte, ob er sie zu wenig angemessen fand…


    Sie lachte, als er sich auf die Knie stemmte und zu ihr hinüber krabbelte, nur um sofort wieder das Gleichgewicht zu verlieren, weil der Schlamm ihn nicht freigeben wollte. Er kippte vornüber, in ihre Richtung, was sie ebenfalls zum Wanken brachte und sie gleichzeitig mit ihm im Schlamm landen ließ, halb unter ihm. Sie sah sein Grinsen, sah seine glühenden Ohren, die sich an den freien Stellen rot von all dem Schlamm drum herum abhoben, und grinste selbst so breit, dass sie das Gefühl hatte, ihre Mundwinkel versuchten sich an ihren Ohrläppchen aufzuhängen. Erneut fuhr sie über sein Gesicht, diesmal nur mit den Fingerspitzen, zeichnete Muster in den Schlamm hinein. „Ja“, lachte sie. „Echt. Caius.“ Danach hob sie ihren Kopf an und küsste ihn schnell auf die Lippen, ganz leicht nur, ganz vorsichtig, bevor sie – nun selbst hochrot im Gesicht und etwas peinlich berührt – den Kopf wieder sinken ließ.

    Seiana duckte sich schon vorbeugend etwas weg, und tatsächlich, wie sie geahnt hatte schaufelte auch Archias Schlamm hoch. Dann ließ er die Hand aber wieder sinken, was sie etwas verwunderte, hatte sie doch fest damit gerechnet, nun ebenfalls eine Ladung abzukriegen. Gerade als sie fragen wollte, was denn nun mit seiner Schmink-Drohung war, da versuchte er sich des Schlamms zu entledigen und begann, nach irgendetwas in seinen Taschen zu suchen, während er sie aufforderte zu warten. Ihr Grinsen wurde etwas schwächer, während sie ihn neugierig und verblüfft zugleich musterte. Die Kuhle, die sich gebildet hatte zwischen ihnen, als Archias regelrecht nach Schlamm gebaggert hatte, fühlte sich langsam und ganz leise glucksend mit Wasser, das gelegentlich winzige Bläschen bildete. Von irgendwo wehte etwas Gekreisch her, gefolgt von einem lauten Platschen, und weitere Geräusche zeigten, das überall auf dem Gelände Menschen unterwegs waren und Spaß hatten. Seiana allerdings hörte gar nicht hin. Sie registrierte nur dieses Wasserglucksen am Rande, der Rest ihrer Aufmerksamkeit war auf Archias gerichtet, der nun erneut das Wort ergriff, mit einer Stimme, die irgendwie… seltsam klang. In jedem Fall anders als noch kurz zuvor. Ernster, irgendwie.


    Ihr Blick wanderte kurz zu dem Papyrus, den er zutage gefördert hatte, und der völlig schlammdurchweicht war, konnte nichts erkennen, nicht aus ihrer Position heraus, aber vermutlich hätte sie ohnehin nicht viel lesen können, so wie es aussah. Archias hatte sich inzwischen etwas aufrechter hingesetzt, und er las von dem Papyrus – allerdings schien er nicht mehr wirklich viel lesen zu können, seinem Stottern nach zu schließen. Noch verwirrter sah Seiana ihn an. Ein… Buch hatte er geschrieben? Über… Das mulmige Gefühl, das sie oben auf dem Seil gehabt hatte, war auf einmal wieder da, nur irgendwie anders, und irgendwie… stärker. Sie zog ihre Unterlippe ein und kaute kurz darauf herum, während sie wartete und ihn ansah. Und dann, plötzlich, ließ er den Papyrus mit einem Fluch sinken und erwiderte ihren Blick. Und stellte die Frage. DIE Frage. Seianas Mund öffnete sich etwas. Aber noch kam kein Ton heraus. Sie war sprachlos. Sie hatte gehofft, dass er sie endlich fragen würde, und es war ja irgendwie klar gewesen, er wäre nicht bei Meridius gewesen, sie wäre nicht immer noch hier in Alexandria… Trotzdem verschlug es ihr nun beinahe den Atem. Was gut so war, denn sonst hätte sie zunächst herumgestottert, anstatt nur geschwiegen. Sie wusste nicht, womit sie gerechnet hätte. Aber sicher nicht hiermit.


    Und genau das war es, was der Situation, in ihren Augen, etwas Besonderes, etwas Einzigartiges verlieh. Es war so typisch für ihn und seine Art, hier, im Schlamm, damit herauszuplatzen. Es war so typisch für das, was sie so sehr an ihm mochte. Langsam breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus, während ihr Magen plötzlich Überschläge zu machen schien und ihr Herz zu rasen begann. Langsam hob sie eine zitternde Hand und strich ihm den Schlamm aus dem Gesicht, oder besser, sie versuchte es, war ihre Hand doch genauso schlammbedeckt wie alles an ihm. „Ja.“

    Seiana hätte Archias nun nur zu gern böse angefunkelt, als der gar nicht daran dachte, aufzuhören. Im Gegenteil. Er wippte weiter, während er sich – sie fragte sich, wie bei Pluto er das anstellte – sogar noch näher an sie heran schob. Aber für einen bösen Blick hatte sie gerade keinen Nerv, sie war zu beschäftigt damit, sich festzuhalten und mal leise, mal weniger leise Angstlaute auszustoßen. „Nein… ich… waaah… ich weiß nicht, ich…“ Sie wusste tatsächlich nicht mehr, ob sie schwindelfrei war. In diesem Augenblick war sie es wohl eher weniger, befürchtete sie. Ihr Fuß rutschte erneut etwas ab, und in diesem Moment erreichte Archias sie – und brachte das Seil noch mehr zum Wippen. Und Seiana, die ohnehin keinen allzu sicheren Stand hatte, verlor immer mehr den Halt. Archias gönnte sie in diesem Augenblick keinen Blick, aber sie spürte seine Hand an ihrem Arm, und gleich darauf klammerte sie sich auch an ihn, weil er ihr stabiler erschein als dieses dünne, klägliche Seil. Was aber ein Fehler war. Archias hatte nämlich selbst nicht mehr den sichersten Stand auf dem Seil, ganz im Gegenteil, und es vergingen nur wenige Herzschläge, in denen sie noch mit dem Seil hin und her schaukelten. Dann segelten sie gemeinsam gen Boden, genauer in den Schlamm.


    Sie konnte gar nicht sagen, wer zuerst den Halt verloren hatte, aber sie hatte das vage Gefühl, dass es Archias gewesen war. Dafür sprach, dass er zuerst im Schlamm landete. Mit dem Bauch voran. Einen Augenblick später verkündete ein Platschen, dass auch Seiana aufgekommen war. Schlammbedeckt richtete Archias sich auf und grinste sie nun an, und sie grinste zurück – bauchabwärts ebenso schlammbedeckt wie er, bauchaufwärts nur gesprenkelt mit braunen Flecken und Spritzern, war sie doch günstiger gelandet als er. „Ups. Ups? Das ist alles, was du zu sagen hast?“ Sie machte ein erbostes Gesicht, auf dem sich das Grinsen aber nicht mehr lange zurückhalten ließ. Mit einem Funkeln in den Augen schaufelte sie eine Handvoll Schlamm hoch und schmierte es ihm genüsslich in die Haare. „Ups“, machte sie dann, breitgrinsend.

    Zum Glück konnte Seiana keine Gedanken lesen – würde sie es können, würde sie in diesem Moment vermutlich rot werden und loslachen müssen gleichzeitig. Aber sie konnte es nicht, und sie machte sich auch keine Gedanken darüber, wie sie aussah in der nassen Tunika. Archias hatte etwas an sich, das sie in seiner Gegenwart vergessen ließ, wie eine Römerin ihres Standes sich eigentlich zu benehmen hatte – es war eine Art von Lebensgefühl, das sie seit ihrer Kindheit immer seltener gehabt hatte, je älter sie geworden war, und das sie spätestens seit Faustus’ Verschwinden damals nicht mehr gehabt hatte. Mit Archias hatte sie das wieder entdeckt, und mit ihm konnte sie einfach sie selbst sein.


    „Nein, das war noch nicht alles, nur… hast du mal nach unten geguckt?“ Sie klang belustigt, aber die Art, wie sie erneut nach unten äugte, und die Tatsache, dass sie sich immer noch nicht vorwärts bewegte, schien dann doch zu sagen, dass es zumindest vorerst alles war. Etwas verlegen grinste sie, als Archias zu ihr aufschloss, nur um im nächsten Moment einen erschrockenen Ruf ertönen zu lassen, als er zu wippen begann. „Nein, hey, lass das, du-“ Sie klammerte sich noch fester an das Seil, aber das bot lediglich eine vage Stütze und keinen wirklichen Halt, vor allem dann nicht, wenn das gesamte Seilkonstrukt sich im Wackeln befand. Seiana versuchte, so etwas wie Balance zu finden, aber auf einem schwankenden Seil, mit nassen Sandalen und einem ohnehin schon etwas mulmigen Gefühl im Magen fand sie das nicht sonderlich einfach. Sie wackelte immer mehr und klammerte sich schließlich ganz an das Halteseil, als einer ihrer Füße kurzzeitig abrutschte und erst nach ein paar Versuchen wieder so etwas wie Halt fand. „Oooh, hör auf damit, das ist gemein, lass das…“ Das Jammern in ihrer Stimme war nur halb gespielt, und sie vermied es nach unten zu sehen.

    Seiana kicherte, als Archias sich schüttelte und sie ein paar Tropfen abbekam. Dann breitete sich eine leichte Röte auf ihren Wangen aus. „Keine?“ Ein verlegenes Grinsen spielte um ihre Lippen, während Archias seine Worte etwas revidierte. Dass er seinen ersten Kommentar für ein Fettnäpfchen hielt, fiel ihr gar nicht auf, im Gegenteil – sie freute sich über das, was er gesagt hatte. Dass er keine anderen Römerinnen ansah, hieß doch, dass sie ihm gefiel. Sie räusperte sich leise und stimmte dann in sein Lachen mit ein. „Das ist ein Wort. Ich geh zuerst… und dann sehen wir weiter.“


    „Mh, also, ich hoffe mal dass sie hier eine ähnliche Auswahl wie in den Thermen treffen. Also zumindest was den Geruch betrifft. Sonst dürften sie hier eigentlich keinen Eintritt verlangen.“ Sie neigte grinsend und gespielt huldvoll den Kopf, als Archias ihr bei dem Seil den Vortritt ließ, und stieg hinauf, vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend, während sie sich gleichzeitig an dem anderen Seil festhielt. Oben angekommen hielt sie kurz inne und sah zu Archias zurück, der ihr gefolgt war. „Mal sehen, der Rest wird sicher nicht so einfach…“ Vorsichtig schob sie einen Fuß vor auf das erste Seil, das immer noch vergleichsweise straff gespannt war, dann folgte auch der zweite, und während sie sich mit beiden Händen an dem Halteseil entlang hangelte, tasteten sich ihre Füße immer weiter vorwärts, bis sie schließlich ungefähr in der Mitte angekommen war und den Fehler beging, nach unten zu sehen. Es war faszinierend, wie viel mehr zwei Meter sein konnten, wenn man sich auf einem Seil in eben dieser Höhe befand. „Äh. Äääh. Ich weiß grad nicht…“ Das Seil fing an zu schwanken. Oder besser: Seiana fing an zu schwanken, und mit ihr das Seil. Ihr Griff um das Halteseil verstärkte sich. „Ich bin mir grad nicht mehr so sicher, ob ich schwindelfrei bin…“ Natürlich war das irgendwie lächerlich, immerhin war das Seil nicht wirklich hoch gespannt, und unter ihr war jede Menge Schlamm, sicherlich genug, um schlimmere Verletzungen zu vermeiden. Trotzdem klang ihr Tonfall nicht nur danach, dass sie einen Spaß machte, sondern es schwang auch ein winziger Hauch von, nun, nicht wirklich Angst, aber doch so etwas wie Besorgnis mit.

    Als Archias in eine Richtung deutete, folgte Seianas Blick der Handbewegung und nahm den Parcours in Augenschein, den er vorschlug. Ihre Lippen verzogen sich kurz etwas nach links, während sie das Gebilde musterte, dass aus Seilen und Plattformen zu bestehen schien – in zwei Meter Höhe. Das konnte spaßig werden. „Seeungeheuer? Ja, die können sie dann weiter verkaufen, falls sie mit dem Spielplatz hier mal keinen Gewinn machen“, flachste sie, während sie nach dem Saum ihrer Tunika griff und sie etwas auswrang. Zum Glück war der Tag heiß und die Sonne schien, ihre Tuniken würden recht schnell wieder einigermaßen trocken sein.


    „Ach, wie, ich bin zu blass? Du bist schon zu lange hier, guck dir doch mal die ganzen Römerinnen an – da bin ich noch lange nicht blass genug, wenn man danach geht…“ Und würde es wohl auch nie sein, dafür sorgte das hispanische Blut in ihren Adern. Aber obwohl sie durchaus jemand war, der Wert auf ihr Erscheinungsbild legte, ging es bei ihr doch nicht so weit, dass sie sich darüber tatsächlich geärgert hätte, dass sie die vornehme Blässe mancher Römerinnen niemals würde erreichen können. Jetzt waren ihre Haare dran mit Auswringen, während sie weitergingen, und dass Archias erneut ein paar Spritzer abbekam, war durchaus gewollt von ihr. Anschließend grinste sie ihn wieder an. „Ich schmink dich mit Schlamm. Das ist besser. Vertrau mir einfach. Soll ja auch gut für die Haut sein, und so, jedenfalls behaupten sie das in den Thermen. Oder nehmen die da speziellen Schlamm, was meinst du?“ Inzwischen waren sie angelangt bei dem Konstrukt, das sie als nächstes angehen wollten, und etwas zweifelnd legte Seiana den Kopf in den Nacken. Ein schmales Seil, nur mit einem weiteren in Brusthöhe zum Festhalten, führte zur ersten Plattform hinauf. Dann zuckte sie die Achseln und begann langsam den Aufstieg, der sich noch als überraschend einfach erwies. Das Seil war straff gespannt, weswegen man gut Halt fand, aber sie konnte bereits von hier sehen, dass einige Seile recht lose hingen und hin und her schwanken würden, so bald man unvorsichtigerweise einen Fuß darauf setzte.

    Prustend kam Seiana wieder hoch und fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht, sowohl um das Wasser aus den Augen zu bekommen als auch um die nassen Strähnen nach hinten zu verbannen. „Argh, was kommt von was? Reinfallen weil du durch die Gegend springst?“ Am liebsten hätte sie einen Sprung in seine Richtung gemacht und ihn unter Wasser gedrückt, aber sie war zu weit weg von ihm und musste zu sehr lachen, als dass sie sich schnell genug dafür hätte bewegen können. Mit einer hochgezogenen Augenbraue und einem leicht kritischen Gesichtsausdruck zupfte sie mit spitzen Fingern etwas aus ihren Haaren, was vermutlich eine Alge war, bevor sie wieder zu Archias blickte, der sich schon auf den Weg zum Ufer gemacht hatte. „Was war da überhaupt im Wasser?“


    Langsam bewegte sie sich ebenfalls auf die Stufen zu, aber bevor sie sie erreichte, und bevor Archias auf ihre Frage antworten konnte, streifte auf einmal etwas ihr Bein – etwas längliches, glitschiges. Während in ihr ein Ahnung zu dämmern begann, warum Archias sich kurz zuvor so aufgeführt hatte, quiekte sie erneut auf und katapultierte sich nach vorn, zu der Treppe. „Was war DAS denn?!?“ Schnell nahm sie die wenigen Stufen zum Ufer empor und starrte in das Wasser. „Ja, eh. Schlamm. Gute Idee. Da gibt es wenigstens keine Viecher drin…“ Ein letzter misstrauischer Blick ins Wasser, dann grinste sie Archias an. „Und dir wird Braun sicher vorzüglich stehen.“

    „Das bist du schon“, lachte Seiana, nur um ihm nächsten Moment aufzukreischen, als eine Welle an Wasser auf sie zukam, aufgescheucht von Archias. Große Spritzer ergossen sich über sie, aber noch war sie lange nicht so durchnässt wie er. Was er scheinbar vorhatte zu ändern, seinem Gesichtsausdruck und der plötzlichen Entschlossenheit nach zu schließen, mit der er nun auf sie zukam. „Hey… Eh, also, mach bloß keinen Unsinn, ja?“ Etwas schwankend richtete sie sich auf ihrer Holzplattform auf, um zum Rückzug anzusetzen. Ob es ihr rechtzeitig gelungen wäre, den Sprung zur nächsten Plattform zu vollenden oder nicht, blieb dahin gestellt, denn in diesem Moment stoppte Archias und starrte in das Wasser. Gleich darauf sprang er wild durch die Gegend und stieß ein paar Schreie aus. Seiana allerdings hatte wenig Ruhe, um ihm dabei zuzusehen oder zu fragen, was los war. Die Springerei von Archias brachte das Wasser in Bewegung, und gemeinsam mit dem Wasser auch die Holzplattformen – eingeschlossen der, auf der Seiana gerade stand, mit einem nicht sehr sicheren Halt, war sie doch gerade im Begriff gewesen, sich abzustoßen. Im einen Augenblick sah sie noch verblüfft zu Archias, im nächsten fing sie selbst schon an zu quieken, als ihre Plattform immer mehr hin und her schwankte aufgrund der Wellen, die Archias verursachte. Schließlich war die Schräglage so groß, dass Seiana mit ihren inzwischen durchnässten Sandalen keinerlei Halt mehr fand auf der schmierigen Oberfläche, und mit einem Aufschrei verlor sie endgültig das Gleichgewicht und kippte rücklings ins Wasser.

    Archias sagte – erst mal gar nichts. Stattdessen griff er nun doch nach seinem Becher und trank erst einmal etwas von dem Wein. Und Seiana saß da und wusste nicht so recht, was sie nun sagen sollte. Nervös zupften ihre Finger an der Tunika herum, während sie darauf wartete, dass er endlich etwas sagte, irgendetwas. Hatte sie ihn damit jetzt überrumpelt? Es war schon irgendwie seltsam, wie wenig Probleme sie damit gehabt hatte, ihn zur Rede zu stellen und auf ihn einzuschimpfen, in seinem Büro kurz nach ihrer Ankunft – und wie sehr sie es seitdem vermied, die Sprache auf dieses Thema zu bringen. Wie waren sie denn verblieben? Dass sie ihn kennen lernen wollte. Sonst wäre sie nicht nach Alexandria gekommen. Hatte sie ihm irgendwann mal gesagt, wie sehr sie ihn inzwischen mochte? Sicher, sie war hier geblieben, aber hatte sie es ihm irgendwann gesagt? Dachte er… Seianas Finger krampften sich etwas zusammen, während sie sich gleichzeitig wünschte, sie könnte seine Gedanken lesen.


    Schließlich sagte er dann doch etwas. Nur war es nicht das, was sie hatte hören wollen, und es war nichts, was ihr irgendwie weiterhalf. Oder Klarheit schaffte. Er wich aus, das war alles was er tat, und er schien… aufgewühlt zu sein, aber das gab ihr keinen Hinweis auf den Grund – es konnte genauso gut daran liegen, dass er sich nicht traute zu fragen, wie daran, dass er sich nicht traute ihr zu gestehen, dass er kein Interesse mehr hatte. Jetzt war es an Seiana, nach ihrem Becher zu greifen und etwas von dem Wein zu trinken. „Ehm“, machte sie dann. Sie war inzwischen soweit, klare Verhältnisse schaffen zu wollen. Aber irgendetwas verhinderte, selbst zu fragen. Sicher war es zum Teil ihre Erziehung, die Frauen eine solche Rolle nicht zugestand. Zu einem Großteil war es aber auch ihr Stolz, der sie daran hinderte, nun DIE Frage zu stellen. Er war es gewesen, der zuerst Interesse gezeigt hatte, er war es gewesen, der – noch dazu hinter ihrem Rücken! – bei Meridius gewesen war, um ihn um Erlaubnis zu bitten, er war es gewesen, der mit ihr Briefe getauscht und kein Sterbenswörtchen von seinen Absichten verraten hatte. Warum sollte sie es jetzt sein, die den entscheidenden Schritt tat? Immerhin war sie nach Ägypten gekommen. „Also… ich weiß nicht, wann… hrm.“ Sie räusperte sich. „Wenn du meinst, dass jetzt nicht… also, der richtige Zeitpunkt ist, dann…“ Sie starrte in ihren Weinbecher. Das Problem an der Sache mit dem, was sich gehörte, und mit ihrem Stolz war nur: inzwischen mochte sie ihn wirklich sehr. „Wann steht das denn an? Also, hast du… welche Pläne hast du, für die Zukunft? Möchtest du bald nach Rom zurück?“

    Seiana hatte tatsächlich Probleme mit dem Stoff. Das Ding kannte sie auch gar nicht wirklich, fiel ihr auf. Hatte Elena das mitgenommen? Gelegentlich kam es vor, dass sie sich einfach in einem Geschäft ihre Maße nehmen ließ, um es dann Elena und dem Händler zu überlassen, was sie nun bekam – wichtig war, dass es ihr wirklich passte, und Elena kannte ihren Geschmack gut genug, dass sie sich darauf verlassen konnte. Und Elena hatte Spaß an so etwas, im Gegensatz zu ihr, zumal häufig für sie auch eine edlere Tunika als für Sklaven üblich dabei heraussprang. Wie auch immer, diese Tunika hatte mehrere Lagen, die noch dazu in verschiedene Bahnen eingeteilt waren, und sie, die sie das Kleidungsstück einfach über den Kopf hatte ziehen wollen, brachte es im Handumdrehen fertig, sich zu verheddern. „Ehm, ja.“ Da war sie gerade dabei, den Stoff über den Kopf zu ziehen, weswegen ihre Stimme kurzzeitig etwas gedämpft klang. „Also, ich glaube nicht, dass du bei mir wirklich kämpfen musst. Ich meine, ich bin zumindest bisher noch nicht überfallen worden. Aber meine Familie fühlt sich sicherer damit, immerhin bin ich allein hier.“ Ihr Kopf tauchte hervor. „Es ist gut, dass du auch andere Dinge gern tust“, und gut kannst, fügte sie im Stillen hinzu, „sonst würdest du dich wahrscheinlich langweilen bei mir.“ Seiana versuchte die richtigen Öffnungen für die Arme zu finden, musste aber feststellen, dass sie schon für den Kopf nicht die richtige gefunden hatte. Diese verflixten Bahnen waren untereinander nur an bestimmten Stellen miteinander verbunden und legten sich nun schief um ihren Körper oder hingen einfach in der Gegend herum, während Seianas linker Arm sich irgendwo darin verfangen hatte und ihr rechter versuchte, sich durch den Stoff zu wühlen. „Ehm. Kannst du… mir mal kurz helfen, bitte?“

    Seiana zögerte etwas. Bei Sklaven, die nicht ihr gehörten, achtete sie selten darauf, was diese empfinden mochten – zumal wenn sie nicht viel mit ihnen zu tun hatte. Aber bei Elena war sie nun mal anderes gewohnt, und Lanassa gehörte nun ebenfalls ihr. Sie war sich allerdings unschlüssig, ob sie sie genauso wie Elena behandeln sollte – so wie Lanassa sich verhielt, würde sie das momentan eher vor den Kopf stoßen. „Ehm… Anprobieren? Hm“, machte Seiana, immer noch unschlüssig. Das war einer der Gründe, warum sie Einkaufen nicht sonderlich leiden konnte. Das Anprobieren. Und dann das Abwägen. Genauso verhielt es sich, wenn sie sich für irgendwelche Anlässe etwas Besonderes anziehen musste. Beim morgendlichen Ankleiden vermied sie es für gewöhnlich, sich allzu lange Gedanken über das zu machen, was sie anziehen sollte, sondern nahm einfach etwas.


    Weil sie Lanassa nicht vor den Kopf stoßen wollte – und in der Hoffnung, dass es das Rote bleiben würde – nickte sie schließlich. „In Ordnung.“ Sie nahm den Stoff entgegen, aus einer Hand, die keine überflüssige Bewegung zu machen schien. Seiana bewunderte die Körperbeherrschung, die dahinter steckte, während sie hinter der Trennwand verschwand. Während sie sich umzog, überlegte sie kurz und beschloss dann, das Verhältnis etwas aufzulockern. Am besten mit einer Frage, die sie ihr eigentlich schon am Tag des Kaufs hatte stellen wollen. „Wo hast du eigentlich gelernt, so zu kämpfen, Lanassa?“

    Seiana war gerade fertig geworden mit der morgendlichen Wäsche, als sich die Nebentür öffnete und Lanassa sie in das Ankleidezimmer bat. Elena war unten, in Archias’ Wohnung – schon bevor sie Lanassa gekauft hatte, hatte die Spanierin gelegentlich darum gebeten, dort schlafen zu dürfen, bei Katander, und Seiana hatte nie etwas dagegen gehabt. Seitdem Lanassa bei ihr war, schlief Elena fast nur noch unten, was auch seine Vorteile hatte – immerhin war in der Regel sie für das Frühstück zuständig, seit Ophelia von ihrem Vorbesitzer wieder zurückgefordert worden war. Seiana hatte es nicht ganz verstanden, aber scheinbar hatte der Händler einen Fehler gemacht. Oder besser: irgendein krummes Ding gedreht. Jedenfalls hatte der Vorbesitzer sie wohl eigentlich nicht verkaufen wollen, und da Archias sein Geld zurückbekommen hatte, hatte er eingewilligt, sie wieder zurück zu geben.


    Während Elena ein Stockwerk tiefer also wohl schon damit beschäftigt war, Frühstück für sie anzurichten, und Flaminia Aviola, die ältere Dame, die Seiana gegen eine geringe Miete bei sich wohnen ließ, noch zu schlafen schien, ging die Decima nun in den Nebenraum zu Lanassa. So ganz sicher war sie sich noch nicht, wie sie mit der Sklavin umgehen sollte. Schon am ersten Tag war deutlich geworden, dass Lanassa eine vorbildliche Sklavin war – der man in keinster Weise anmerkte, zu was sie fähig war. Sie sprach in der Regel erst, wenn sie gefragt wurde, sie gehorchte, sie sah sie nicht einmal wirklich an, wenn es sich vermeiden ließ. Sicherlich kannte Seiana solche Sklaven – aber es war nicht das, was sie gewohnt war von den Menschen, mit denen sie am meisten zu tun hatte. Mit Elena war sie aufgewachsen, sie standen sich nahe – und dementsprechend benahm Elena sich selten wie eine Sklavin, jedenfalls wenn sie alleine waren. Was für Seiana völlig in Ordnung war. Was Lanassa betraf, fiel es Seiana etwas schwer sich daran zu gewöhnen, jemanden tagtäglich um sich zu haben, der sich so, nun ja, unterwürfig benahm. Noch hatte sie ihr nichts dazu gesagt, hatte eher freundlich, aber dezent versucht, sie dazu zu bringen, etwas offener zu werden. Allerdings bezweifelte sie langsam, dass das etwas bringen würde. „Guten Morgen, Lanassa“, sagte sie, freundlich wie meistens, und ließ ihren Blick über die Stoffe schweifen, die die Sklavin zurecht gelegt hatte. Da waren mehrere. Seiana zog eine Augenbraue hoch. Mehrere? Sie brauchte nur eine Tunika, eigentlich, und ihr schwante nichts Gutes – Lanassa wollte nicht wirklich, dass sie verschiedene Kleidungsstücke anprobierte?

    Seiana grinste, als sie gemeinsam mit Lanassa hinter Firas herlief. Sie hatte schon einiges von Alexandria zu sehen bekommen, weil sie mit Elena ein paar Erkundungen gemacht hatte, aber bisher hatte sie noch keinen Ausflug wie diesen gemacht. Firas hatte vor, ihr alles mögliche zu zeigen, und da er hier schon immer gelebt hatte, konnte er ihr sicher einiges erzählen. Ein kurzer Blick streifte ihre Leibwächterin, die sie, eher spontan, in der letzten Woche gekauft hatte. Faustus hatte auf ihren letzten Brief noch nicht geantwortet, aber sie hatte sich trotzdem mal auf dem Sklavenmarkt umgesehen, einfach um einen Eindruck zu bekommen. Und da war Lanassa gewesen. Es hatte schon einige Interessenten gegeben – die deutlich an etwas anderem interessiert gewesen waren als an ihren kämpferischen Fähigkeiten –, aber Seiana war letztlich stehen geblieben, weil sie gehört hatte, wie der Händler sie angepriesen hatte. Elena hatte sie schon weiter ziehen wollen, aber Seiana war aufmerksam geworden, und sie hatte sich durch die Menge nach vorne gedrängt und ein paar Fragen gestellt, und schließlich hatte Lanassa auch etwas von dem gezeigt, was sie konnte. Das war der Moment gewesen, in dem einige der Männer um sie herum urplötzlich das Interesse verloren hatten – während das ihre nur gestiegen war. Eine Leibwächterin hatte immer den Vorteil der Überraschung auf ihrer Seite, weil kaum jemand von einer Frau erwartete, kämpfen zu können. Und wenn sie dann noch in Betracht zog, dass sie eigentlich nicht der Meinung war, einen Leibwächter zu brauchen… da konnte sie dieses Risiko gut eingehen. Nur hatte sie ihre Zweifel, ob Faustus von einer Frau als Leibwächter so begeistert wäre.


    Seiana lächelte ihrer neuen Sklavin kurz zu und sah dann wieder zu Firas, der sich zu freuen schien, ihnen seine Stadt zeigen zu können. „Wo sollen wir denn als erstes hin?“

    Seiana klammerte sich weiter an der Plattform fest und sah zu, wie Archias noch einmal an Tempo zulegte. „Nein, keine Sorge, mir geht’s gut. Pass du auf, du…“ Da passierte es schon. Er kam auf der Holzplatte auf, die ihr am nächsten war, und verlor das Gleichgewicht. Zuerst lachte Seiana noch, dann verstummte sie erschrocken, als er endgültig die Balance verlor und die Plattform sich mitsamt ihm drehte. Mit einem Ruck drehte sie sich ganz zu ihm um, kniete sich auf ihre Plattform hin, um einen sichereren Halt zu haben, und beugte sich besorgt in seine Richtung. „Archias?“ Dann tauchte er schon wieder auf, prustend und lachend, und Seiana stimmte in sein Lachen ein.


    „Das ist… so seicht ist das?“ Sie grinste vergnügt, während sie den triefenden Archias betrachtete. „Aber trotzdem bist du komplett nass geworden.“ Ihre rechte Hand tauchte ins Nass und spritzte ihm noch mehr Wasser entgegen. „Na wer weiß, vielleicht ist das nächste Wasserbecken ja tiefer“, neckte sie ihn. „Sonst lohnt es sich ja nicht, reinzufallen. Was ist, fühlst du dich denn noch in der Lage, die letzten paar Sprünge bis zum Ufer zu vollenden? Oder watest du lieber durch das Wasser, jetzt wo du eh schon nass bist?“ Ein weiterer Spritzer und ein freches Schmunzeln folgte diesen Worten.

    Seiana zuckte nur die Achseln, als Archias vehement ablehnte, seinen Verwandten zu besuchen. Sie würde ihn natürlich nicht zwingen, mitzukommen, wenn er das partout nicht wollte… Aber wenn sie in Rom waren und sie vorhatte hinzugehen, würde sie ihn noch einmal fragen, und vielleicht hatte er bis dahin ja seine Meinung geändert. Oder so. Sie grinste leicht, setzte aber gleich wieder eine ernstere Miene auf, als sie weitersprachen. „Natürlich beeindruckt. Es geht doch nicht darum, was für einen Posten du inne hast. Es geht darum, dass du dich nicht auf dem Namen deiner Familie ausruhst, sondern selbst etwas erreichen willst. Und erreicht hast.“ Dass sie ihm indirekt zu verstehen gegeben hatte, dass zumindest sie durchaus davon beeindruckt war, schien ihm nicht so viel zu bedeuten. Oder hatte er es nicht verstanden? Genau wusste Seiana es nicht zu sagen, und sie beschloss, nicht weiter darauf einzugehen.


    Stattdessen wandte sich das Gespräch den Geschäften zu, und ging weiter zu ihren in Bezug auf die Schola – und das Museion. Seiana stockte, als sie Archias’ Worte hörte, und in ihrem Magen machte sich ein seltsames Gefühl breit. Ja, was wäre wenn? Es kam darauf an. Wenn es so blieb wie es jetzt war… Seiana holte Luft und antwortete zunächst auf seine erste Frage. „Also, Kurse für die Schola könnte ich hier machen, ja. Immerhin leben einige Römer hier. Und für Peregrini werden ja auch Kurse angeboten. Also das geht.“ Jetzt räusperte sie sich, suchte nach Worten. Sie wusste eigentlich, was sie sagen wollte, aber es war so schwer, das nun letztlich herauszubringen. „Also, ehm. Wegen dem Museion. Also, ich würde dann schon hier bleiben. Ehm. Also, ich bin ja jetzt hier. Aber…“ Sie holte erneut tief Luft. Inzwischen hatte sie das Gefühl, dass ihre Wangen zu brennen begonnen hatten, so heiß schienen sie zu sein. „Ich weiß es nicht. Es kommt drauf an. Ich meine, was… was ist denn nun… mit uns? Wir haben nicht mehr… also darüber geredet, seit ich angekommen bin, aber… Ich würde wieder nach Rom gehen, mit dir. … Wenn du das auch willst, heißt das.“

    „Ein Fass. Auf dem Forum? Ist das dein Ernst?“ Seiana starrte ihn einen Augenblick lang an. „Das klingt wirklich durchgeknallt. Also… Ein Fass… Vielleicht sollten wir dem mal einen Besuch abstatten, wenn wir das nächste Mal in Rom sind“, kicherte sie dann. Ein Mann, der in einem Fass wohnte und von sich behauptete, Senator zu sein. Das konnte interessant werden. Vielleicht war da sogar ein Artikel für die Acta drin, wer wusste das schon.


    Anschließend legte sie den Kopf etwas schief. Nicht einmal seine Eltern… Seiana fühlte einen kurzen Stich, als sie an ihre Mutter dachte. Und noch einen, als das schlechte Gewissen sich bemerkbar machte. Hatte ihre Mutter wirklich erst sterben müssen, damit sie begann ihr Leben zu leben? Seiana biss die Zähne aufeinander und vertrieb die Gedanken. Allerdings musste sie erneut nach Worten suchen – und fand diesmal keine. „Das tut mir leid. Ehrlich“, sagte sie also nur. Was konnte sie auch mehr tun, außer für ihn da zu sein und zuzuhören, wenn ihm so etwas auf dem Herzen lag und er es los werden wollte. Dann lächelte sie. „Nun, er kann nicht so schlecht von dir denken, wenn er dich gern bei sich in Rom hätte, oder? Vielleicht beeindruckt ihn auch, dass du erst deinen eigenen Weg gehen wolltest. Fern von Rom, ohne seine Unterstützung. Ich kann jedenfalls sehr gut verstehen, wenn er das denkt.“


    „Also… meine Geschäfte laufen eigentlich ganz gut. Sie tragen sich selbst, das ist großartig.“ Nicht dass Seiana wirklich etwas anderes erwartet hätte, schließlich hatte alles mehrfach durchgerechnet, bevor sie diesen Schritt wirklich gewagt hatte. „Und sie werfen Gewinn ab, gar nicht mal so schlecht, finde ich jedenfalls. Und bei der Schola sieht es auch gut aus, also mit einer Anstellung. Ich hab vor, da dran zu bleiben. Mal sehen, wie es beim Museion wird…“