„Leb wohl…“, murmelte Seiana, als Appius sich bedankte und dann verschwand. Einen Moment lang musterte sie die Tür, die sich hinter ihrem Bruder geschlossen hatte, dann wandte sie sich Faustus zu, der sie im selben Augenblick ansprach. „Keine Ahnung.“ Wieder zog sie die Beine an und schlang die Arme um die Knie. Ihr war ebenfalls aufgefallen, dass Appius’ Abschied etwas abrupt ausgefallen war – so abrupt, dass er sich von Faustus kaum wirklich verabschiedet hatte. „Wir haben ihn so lang nicht mehr gesehen… Ich weiß nicht, ich… also, das Gespräch selbst war gut, und… da war schon die Vertrautheit von früher, jedenfalls hat es sich so angefühlt. Aber trotzdem… irgendwie war auch gleichzeitig was Fremdes da. Die Jahre, die wir uns nicht gesehen haben. Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn wirklich noch kenne, weißt du? Das hat nichts damit zu tun, ob ich das will, ich meine, er ist mein Bruder, ich liebe ihn, und ich werd für ihn da sein, wenn er mich braucht, genauso wie für dich und Caius, so gut ich kann… Nur, wir haben uns eben alle weiterentwickelt. Verändert. Und was er erlebt hat…“ Seiana seufzte. „Ich weiß nicht.“
Sie grinste, etwas verlegen, als Faustus auf den Aelier zurückkam. „Jaaa. Ich hab ihn gefragt, warum er nach Ägypten will, und es waren wohl verschiedene Gründe – er interessiert sich für andere Länder, er war auch schon in Germanien. Karrieremöglichkeit war auch ein Grund. Er möchte sich selbst einen Namen machen, meinte er. Ich hab neulich erst einen Brief von ihm bekommen, inzwischen ist er Praefectus Vehiculorum von Ägypten.“ Sie zuckte andeutungsweise die Achseln. „Und er… Na ja, das klingt vielleicht komisch, aber er hat mich zum Lachen gebracht. Ist schon länger her, dass das jemand geschafft hat…“ Seiana wurde nachdenklich, zuckte dann schließlich erneut die Achseln und nippte an ihrem Wein. Dann sah sie überrascht hoch. „Wie, du willst auch schon gehen? Musst du schon wieder zurück?“ Nein, in die Stadt musste er – und Seiana fiel das kurze Stocken durchaus auf. Für den Bruchteil eines Augenblicks blitzten Erinnerungen in ihr auf, an den Tag, als ihre Mutter den ersten Bericht bekommen hatte über Faustus und was er in Rom getrieben hatte – dem Seiana ohne das Wissen ihrer Mutter gelauscht hatte. Aber es war nur Erinnerung. Diese Zeit hatte Faustus hinter sich, das wusste Seiana, sie spürte es. Trotzdem legte sie den Kopf schief und musterte ihn, nicht misstrauisch, sondern offen und neugierig. „Was willst du denn noch in der Stadt?“ Danach stützte sie ihren Kopf in beide Hände. „Ich weiß dein Angebot wirklich zu schätzen. Aber… hm… also, finanzielle Probleme hab ich nicht. Ich werd von der Familie unterstützt, und ein bisschen was von Mutter ist ja auch noch da… Aber… na ja, ich möchte gerne was eigenes machen, weißt du? Wenn ich davon dann irgendwann mal leben kann, umso besser. Und das würd ich gern aus eigener Kraft schaffen. Ich hab schon ein paar Ideen, und ich möchte mir auch einen Patron suchen, weil das eben, na ja, der normale Weg ist, jedenfalls, wenn man von der Familie keine Unterstützung bekommt, weißt du?“ Seiana musterte ihren Bruder. Dann grinste sie plötzlich. „Solltest du tatsächlich darauf bestehen, dann müsstest du Partner werden – in welcher Form auch immer. Dann bekommst du eine Gegenleistung. Ah ja, und wenn ich auf die Nase falle und mein Patron mich verstößt – das heißt, wenn ich überhaupt einen finde –, dann kannst du mir natürlich auch gern helfen.“ Jetzt lachte sie. Natürlich meinte sie das nicht wirklich ernst. Sie hatte nicht vor, auf die Nase zu fallen, ganz im Gegenteil, und sie würde sich einen Plan überlegen, würde strukturiert vorgehen bei der Umsetzung ihrer Ideen, um das Risiko eines Fehlschlags so gut es ging zu vermindern. Aber selbst wenn dieser Fall eintreten sollte, würde sie lieber schuften, um es wieder gerade zu biegen, als ihren Bruder zu bitten, für sie einzuspringen. Sie konnte durchaus Hilfe annehmen, aber es gab einen Unterschied zwischen Hilfe annehmen und sich aus der Verantwortung ziehen, und letzteres würde sie ganz bestimmt nicht.