Beiträge von Decima Seiana

    Seiana genoss es, einfach nur dazustehen. Sie ließ ihre Gedanken treiben und ihre Aufmerksamkeit wandern, und so sah sie im ersten Moment überrascht hoch, als der Aelier auf einmal neben ihr auftauchte. „Hm?“ Im nächsten Augenblick lächelte sie schon wieder. „Ja, sehr schön…“ Sie seufzte erneut leise und musterte versonnen die Häuserlandschaft vor ihr. „Hier ist alles so anders… Ich mag das, den Ausblick, die Menschen, die Atmosphäre… Ich könnte mir aber vorstellen, dass es im Sommer fast schon zu heiß wird. Sogar in Tarraco meint man ja manchmal schon zu schmelzen, so heiß wird es in den Sommermonaten.“


    Lächelnd sah sie Archias dann wieder an. „Nein, viel Hunger hab ich nicht. Elena müsste ich fragen, aber ich denke es wird schon reichen.“ Sie genoss auch den eher lockeren Umgangston, den sie bei ihm anschlagen konnte und der ihr so viel mehr lag als die eher förmliche Redeweise. Gleich darauf zog sie die Augenbrauen hoch. „Ophelia? Hast du hier eine Haushälterin oder Sklavin?“ Wieder wurde ihr bewusst, wie wenig sie eigentlich von dem Mann neben ihr wusste – die Sklaven oder Angestellten, die er hatte oder eben nicht, waren da nur der Anfang. Mitten in diese Gedanken hinein stellte Archias plötzlich eine Frage, die ihr zuvor ebenfalls schon mehrmals durch den Kopf gegeistert war. „Eine Unterkunft? Nein, noch nicht… Die nächsten Tage können wir in unserer Kabine im Schiff schlafen, bis es wieder ablegt, heißt das. Für danach müssen wir uns etwas suchen. Umbonius hat bereits seine Hilfe angeboten, ich wollte dich aber auch noch fragen, ob du vielleicht etwas empfehlen kannst.“

    Seiana betrachtete den Raum, in den sie getreten waren, eingehend. Und tatsächlich war sie bei so manchem Detail überrascht, nicht nur bei dem Blumenstrauß, der ihr fast sofort ins Auge fiel. Aber genau deswegen, weil sie eine viel spartanischer eingerichtete Wohnung erwartet hätte, fand sie schön, was sie sah – obwohl die Räumlichkeiten hier noch anders aussehen würden, wenn sie sie einrichten könnte. Manchmal war weniger mehr, das wusste Seiana auch, aber es bestand ein Unterschied zwischen einer geschmackvollen, nicht überladenen Einrichtung, in der diverse Dekorationsobjekte Akzente setzten, und reiner Zweckmäßigkeit, in der in ihren Augen sogar das ein oder andere nötige Detail fehlte. Sie dachte in diesem Moment nicht daran, dass Archias möglicherweise noch mehr Sklaven hatte, die für die Verschönerung verantwortlich zeichneten – sie ging auch davon aus, dass die Menschen, die sie aus dem Nachbarraum, vermutlich der Culina, hörte, Katander und Elena waren. In jedem Fall war sie angetan, und sie erwiderte Archias’ Lächeln, der offensichtlich überrascht war von ihrer Reaktion. Jetzt konnte sie sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. „Ich hätte ja etwas anderes erwartet“, neckte sie ihn schmunzelnd, als sie seinen Gesichtsausdruck aussah.


    Danach ließ sie sich von ihm hinausführen auf die Terrasse. „Danke“, erwiderte sie und ließ sich auf einer Liege nieder. „Dann bis gleich.“ Sie sah ihm noch kurz nach, wie er wieder im Inneren der Wohnung verschwand, dann wandte sie ihr Gesicht der Sonne zu und schloss für einen Moment die Augen. Im nächsten Moment jedoch war sie schon wieder auf den Füßen und trat an die Brüstung, um ihren Blick über die Straße und die Häuser schweifen zu lassen. Sie stützte die Unterarme auf dem Stein auf, ließ sich die Brise durch die Haare streifen, die inzwischen etwas abgekühlt war und eine angenehme Frische brachte, und seufzte leise auf. Sie sog alles auf, was sie sah, hörte, roch – alles was so anders war, so fremdartig und so faszinierend. Sie hatte das Gefühl, dass ihre Brust weit wurde bei dem Anblick, der sich ihr bot, und erst jetzt begann sie zu realisieren, wirklich zu realisieren, wo sie eigentlich war – und dass sie noch vor einem Jahr nicht einmal davon zu träumen gewagt hatte, eines Tages nach Rom reisen zu können. Und jetzt wohnte sie nicht nur in Rom, jetzt war sie sogar hier, in Alexandria, war einfach hierher gereist und konnte all die Dinge sehen und erleben, von denen sie bisher immer nur gelesen hatte. Und ohne es selbst zu merken, reifte in ihr bereits ein neuer Entschluss. Sie konnte es noch gar nicht merken, war sie doch zu fasziniert, zu gefangen von dem, was sich ihr hier bot – aber der Wunsch weiter zu reisen, andere Länder zu sehen, der schon lange in ihr ruhte, war endgültig geweckt. Für den Moment aber war sie einfach nur zufrieden damit, auf dieser Terrasse zu stehen und den Blick in diese fremde Welt zu genießen, in die sie jederzeit auch wirklich eintauchen konnte – nicht indem sie ein Buch aufschlug, sondern einfach indem sie vor die Tür trat.

    Auf der Straße hatte Seiana sich zuerst nach der Sänfte umgesehen, aber Elena hatte sich offensichtlich schon darum gekümmert, die Träger zu entlassen, und so wandte sie sich dem Aelier zu, der mit ihr loszog. Zu Fuß durchstreiften sie in den nächsten Stunden Alexandria, und Archias zeigte ihr eine Menge – angefangen von den Parks, die hier tatsächlich beinahe zahlreicher zu sein schienen als Götterstatuen, über die Märkte mit den verschiedenen, bunten Ständen und einem Angebot an Waren, bei denen Seiana nur mit Mühe ihre Faszination wenigstens zeitweise unterdrücken konnte, bis hin zu einer Arena, in der Wettkämpfe stattfanden – welcher Art, wollte der Aelier nicht verraten, aber er versprach, sie die nächsten Tage einmal mitzunehmen. Seiana musste sich eingestehen, dass sie lange nicht mehr so viel Spaß gehabt hatte wie an diesem Tag, nach dem ersten Gespräch im Officium, wohlgemerkt. Es gefiel ihr sogar, über die Märkte zu schlendern, und das nicht nur wegen all der fremdartigen Waren und den vielen Farben, den Gewürzen, den Gemüse- und Obstsorten, die übrigen Dinge, Tücher, ägyptische Kleidungsstücke, Statuen, Vasen, Schmuck und mehr, das meiste davon auch in Rom erhältlich, aber nicht in dieser Fülle, und nicht in dieser Atmosphäre, die Stimmung kreiert durch die fremdartigen Gerüche und Laute und Formen… Seiana kaufte nichts davon, machte nicht einmal Anstalten dazu. Sie spazierte einfach mit dem Aelier an den Ständen vorbei, schaute und ließ sich von ihrem Begleiter Geschichten erzählen von dem, was er hier schon erlebt hatte – was eine Menge gewesen war, wenn sie seinen Worten trauen konnte. Aber selbst wenn, wie sie den Verdacht hatte, das ein oder andere Mal eine Prise Übertreibung seine Erzählungen würzte, spielte das keine Rolle. Sie genoss diesen Spaziergang, und fühlte sich einfach leicht.


    Als sie endlich das Haus erreichten, in dem der Aelier wohnte, spürte Seiana eine wohlige Erschöpfung. Sie hatten zwischendurch noch etwas gegessen und eine Pause in einem der zahlreichen kleineren Parks gemacht, aber trotzdem taten ihre Füße inzwischen etwas weh, und die Müdigkeit der Reise saß ihr ebenfalls in den Knochen. Archias und sie stiegen die Treppen hinauf, und zum ersten Mal, seit sie das Officium verlassen hatten, kam Seiana wieder die Frage in den Sinn, was als nächstes kommen würde. Sie hatte noch nichts geplant, weder wie lang sie bleiben wollte, noch wo, noch was sie hier tun sollte. Aber wieder verschob sie diesen Gedanken – möglicherweise würde sie später Archias fragen, ob er eine gute Unterkunft kannte, und wie viel Zeit er erübrigen konnte, so lange sie hier war. Immerhin war sie wegen ihm gekommen, um ihn zur Rede zu stellen, sicher, aber deswegen nach Ägypten zu reisen hätte sie schließlich niemals in Erwägung gezogen, wenn sie nicht grundsätzlich Interesse hätte… Zu gleichen Teilen nachdenklich, erschöpft und zugleich gut gelaunt betrat sie schließlich die Wohnung und sah sich um. Die beiden Sklaven schienen gerade in einem anderen Raum herum zu hantieren, den Geräuschen nach zu schließen, der erste Raum war jedoch leer. Seiana musterte die Einrichtung und lächelte schließlich. „Schön hast du’s hier.“

    Seiana nickte nur auf seine Antwort hin. An dem was passiert war, konnten sie beide nichts mehr ändern, und das war ihr auch klar gewesen, bevor sie nach Ägypten gekommen war. Aber sie fühlte sich besser, jetzt wo sie endlich mit ihm hatte reden und sich ein bisschen Luft hatte machen können, und darüber hinaus nicht mehr komplett in Mutmaßungen und Rätselraten gefangen war. Sie war ein wenig irritiert von seinem Grinsen, aber es verging ebenso schnell wie es gekommen war, und sie dachte nicht weiter darüber nach. Stattdessen trank sie erneut einen Schluck Wasser und stellte sich lautlos dieselbe Frage, die sie gerade Archias gestellt hatte: Und jetzt? Sie stellte fest, dass sie – eigentlich recht untypisch für sie – sich kaum darüber Gedanken gemacht hatte, was sie tun sollte, wenn sie den Aelier erst einmal zur Rede gestellt hatte. Irgendwie hatte sie es immer geschafft, um diese Frage herum zu schiffen, ohne sie zu beantworten oder sich auch nur ansatzweise damit zu beschäftigen. In ihrem Kopf war irgendetwas Verschwommenes, bei dem Ägypten ansehen eine Rolle gespielt hatte, vorbei geschwebt, und dann hatte sie das Thema immer beiseite geschoben. Jetzt drängte es sich ihr regelrecht auf.


    Diesmal bekam sie allerdings Schützenhilfe von außen, um die Frage wenigstens noch einmal aufzuschieben. Archias grinste sie erneut an und erhob sich, bevor er ihr eine Hand reichte. Seiana zögerte einen Moment, dann legte sie ihre in seine und ließ sich beim Aufstehen helfen, bevor auch sie ihren Becher leer trank. „Den weltbesten Führer, soso… Du solltest vielleicht besser keine Erwartungen schüren, die du dann nicht erfüllen kannst.“ Auf ihren Lippen lag ein leichtes Lächeln, auch wenn in ihrem Hinterkopf immer noch die Frage herumgeisterte, was nun – bis das Schiff ablegte, konnten sie dort nächtigen, aber spätestens danach musste sie sich um etwas kümmern. „Keine Ahnung. Wenn du der weltbeste Führer bist, solltest wohl besser du entscheiden, was es sich zu zeigen lohnt. Einen Park also auf jeden Fall…“ Seiana ließ sich von ihm nach draußen führen und wartete dort, während Archias die Tür abschloss, um ihm dann hinaus zu folgen.

    „Dein Name spielt nur eine Rolle, wo der meine eine spielt. Wo es gilt, der Familie und den Traditionen gerecht zu werden. Oder glaubst du wirklich, das wäre das einzige, was für mich zählt?“ Diese Frage konnte sie sich nicht ganz verkneifen. „Ich weiß auch nicht, wie das ist, ich mein, die Situation ist völlig neu für mich. Ich weiß nur dass es mir nicht gefallen hat, dass mein Onkel mir davon erzählt hat, oder besser: dass er mich damit so überrascht hat. Ich kam mir dabei nicht veralbert vor, nur… überrascht eben, und… hilflos. Das mag ich nicht.“ Sie schwieg einen Moment und musterte ihn, bevor sie anfügte: „ Ich find dich jedenfalls sympathisch, und das hat nichts mit deinem Namen zu tun.“


    Anschließend konnte Seiana nicht verhindern, dass sich ein Gefühl, das sie verdächtig an Erleichterung erinnerte, in ihr breit machte, als der Aelier bestätigte noch Interesse zu haben. Sie konnte nur nicht ganz genau sagen, ob sie erleichtert war weil ihr Erscheinen nicht mehr in Gefahr war, lächerlich zu wirken, oder weil einfach wegen der Tatsache an sich. „Nein“, sie grinste etwas schief, „jedenfalls nicht im Moment.“ Bei Archias’ nächsten Worten spürte sie, wie ihre Wangen warm wurden, und sie hatte die Befürchtung, dass eine leichte Röte sichtbar war. Sie war es nicht gewohnt, derartige Komplimente zu kriegen – wenn, dann kamen sie meistens von ihren Brüdern, und die nahm sie ohnehin nicht ernst. Und wenn ein anderer Mann ihr ein Kompliment machte, dann hielt sie es in der Regel auch für höfliches Geplänkel. Archias dagegen war der erste, der ihr so etwas sagte, von dem sie schlicht wusste, dass er Interesse an ihr hatte – und darüber hinaus klang er einfach so, als ob er es ernst meinte. Er konnte es nicht wissen, aber hätte er in diesem Moment einen der Dichter bemüht oder andere schöngeistige Formulierungen flüssig über die Lippen gebracht, Seiana hätte sein Interesse an ihr nicht mehr so ernst genommen wie sie es im Moment tat. Dementsprechend fiel ihr aber nun keine flüssige Antwort ein, wie sie kontern konnte. „Hm. Das… Danke.“ Jetzt griff auch sie nach dem Becher und trank von dem Wasser, hatte sie doch plötzlich das Gefühl, einen trockenen Mund zu haben. „Und jetzt?“

    „Ich weiß es nicht, dafür kenn ich dich nicht gut genug“, giftete Seiana zurück, nur um sich im nächsten Moment die Stirn zu reiben. „Es tut mir leid, das war unfair. Nein, das glaube ich nicht.“ Sie seufzte und schloss die Augen, bevor sie Daumen und Zeigefinger für einen Moment auf die Lider presste. „Ich weiß. Ich kenn die Traditionen, und mir bedeutet meine Familie viel – und damit auch die Traditionen.“ Die Formulierung war durchaus bewusst so gewählt, ließ sie doch erkennen, dass es zumindest einige Traditionen gab, die Seiana nur der Familie wegen achtete. „Natürlich hat der Pater Familias das letzte Wort, und selbst wenn nicht würde ich nicht gegen Meridius’ Willen handeln. Und mir ist auch klar, warum du ihn zuerst gefragt hast – du konntest nicht wissen, dass ich selbst entscheiden kann, und selbst wenn, hättest du ihn nicht übergehen können. Nur, danach… warum hast du mir danach nichts gesagt, warum hast du mich auflaufen lassen? Wir haben uns Briefe geschrieben, und die ganze Zeit hattest du diesen Hintergedanken, und mein Onkel wusste auch Bescheid, während ich nichts geahnt hab. Ich mein, du hast ja noch nicht mal irgendwelche Andeutungen gemacht, jedenfalls hab ich nichts davon gemerkt. Ich kam mir ehrlich gesagt ziemlich dämlich vor, als Meridius mir von deiner Anfrage erzählt hat.“


    Seiana atmete tief durch und blies sich dann eine Strähne aus dem Gesicht. „Meridius hat’s mir aber nun mal vorher erzählt“, murmelte sie. Daran ließ sich nichts mehr ändern, genauso wenig wie an der Tatsache, dass der Aelier bei Meridius gewesen war und ihn gefragt hatte, und ihr davon nichts erzählt hatte. Auch wenn sie das nach wie vor störte, konnte sie doch nachvollziehen, warum er geschwiegen hatte. „Was ich will? Wenn ich das wüsste…“ seufzte sie, mehr zu sich selbst als zu ihm gewandt. Dann sah sie ihn wieder an. „Ich will, oder besser wollte wissen, warum du nicht auch mit mir geredet hast. Und ich will wissen, warum du überhaupt dieses Interesse an mir hast. Und ich will dich näher kennen lernen. Das wollte ich sowieso, und jetzt…“ Sie sprach es nicht so deutlich aus, aber ihre Worte machten doch klar, dass sie eine Verbindung mit ihm zumindest nicht ablehnte, wenn nicht sogar in Erwägung zog. „Dein Interesse besteht ja offenbar nach wie vor noch. Tut es doch, oder?“ fragte sie nach, plötzlich etwas misstrauisch und mit der Befürchtung, sich gänzlich lächerlich zu machen.

    Seiana, die sich bereits halb im Aufstehen befunden hatte, sank wieder auf den Stuhl zurück, als Archias keine Anstalten machte sich zu erheben. Mit einem aufmerksamen Blick lehnte sie sich an und überkreuzte erneut die Beine. Der Wasserbecher stand nach wie vor unberührt vor ihr, unbeachtet von den beiden Menschen. Das Angebot mit der Führung schien vom Tisch zu sein, jedenfalls vorerst. Seiana unterdrückte den Impuls, sich auf die Zähne zu beißen. Gerade noch war sie zu der Auffassung gekommen, dass ein Spaziergang ihr ganz gut tun würde, einfach um den Kopf freizubekommen. Aber Archias hatte seinen Entschluss geändert, oder er hatte es nicht ernst gemeint, was auch immer – jedenfalls saßen sie immer noch da und sahen sich an. Seiana war entschlossen, nichts zu sagen, aber warten musste sie gar nicht, denn der Aelier ergriff erneut das Wort. Seiana schüttelte den Kopf. „Ich kann ja verstehen, was du meinst. Trotzdem, es geht um mich, um meine Zukunft, ganz davon abgesehen dass ich inzwischen in der Situation bin selbst zu entscheiden, wen ich heirate.“ Ob das wirklich so glücklich war, wusste Seiana nicht so genau – es machte einiges einfacher, wenn die Eltern einfach entschieden, jedenfalls kam ihr das in diesem Moment so vor, in dem sie im Grunde ihres Herzens zutiefst verwirrt war von der Situation. „Was ich gemacht hätte? Ich weiß es nicht! Du hast mir ja keine Chance gegeben! Aber warum hätte ich was dagegen haben sollen, dass wir uns schreiben?“ Wieder sah sie kurz zur Seite, bevor sie ihn erneut anfunkelte. „Vielleicht hättest du Meridius einfach noch nicht darauf ansprechen sollen. Ich meine, wie ernst war dir das? Wir haben uns kaum gekannt, im Grunde kennen wir uns ja jetzt noch kaum!“


    Auch sie vermied es unbewusst, auszusprechen, weswegen Archias bei ihrem Onkel gewesen war. Allerdings stellte sie beiläufig und mit Verblüffung fest, wie sehr ein paar Briefe und ein solches Ansinnen den Umgang verändern konnte. Das letzte Mal als sie miteinander gesprochen hatten, war sie nicht so form- und zwanglos mit ihm umgegangen. „Ich weiß es nicht, wie ich reagiert hätte. Ich weiß nicht, was ich davon gehalten hätte, dass du mir so was vor die Füße wirfst und dann verschwindest. Ich wär wohl nicht sonderlich begeistert gewesen. Trotzdem hätte ich einfach gern von dir erfahren, welches… na ja, Interesse du an mir hast. Nicht von meinem Onkel. Nicht während du am anderen Ende der Welt bist. Vielleicht wär ich skeptisch gewesen, aber einen Briefkontakt hätte ich noch lange nicht abgelehnt. Und den Posten in Ägypten hattest du schon bevor wir uns kennen gelernt hatten, dass du den nicht aufgibst, um eine Frau näher kennen zu lernen, die dich zwar interessiert, die du aber kaum kennst, ist klar.“ Seiana seufzte und sah wieder zum Fenster hinaus. Was sollte sie denn davon halten? Wie ernst war es ihm gewesen? Wie ernst war es ihm jetzt? Und was wollte sie? Erst als Archias wieder sprach, sah sie erneut zu ihm. Schweigend begegnete sie seinem Blick und musterte ihn einen Moment lang, bevor sie antwortete. „Natürlich bin ich deswegen gekommen. Was hätte ich denn tun sollen? Dich in einem Brief fragen, was du dir dabei gedacht hast? Was du damit bezweckt hast, was du jetzt willst? Oder mir wochenlang Gedanken machen, über dich und was du willst und wer du bist, und was ich will, bis sich alles in meinem Kopf im Kreis dreht?“

    Seiana musste mit Mühe ein Grinsen unterdrücken, als sie Archias’ Antwort hörte – die konnte über so etwas lachen, aber sie wollte es im Moment einfach nicht. Nicht bevor nicht eine gewisse Sache geklärt war. Also ging sie gar nicht darauf ein, und auch auf die weiteren Worte zu Umbonius und Ennius reagierte sie nur mit wenigen Worten. „Es bleibt abzuwarten. Der Name ist gewöhnungsbedürftig, aber er selbst leistet gute Arbeit – ich war jedenfalls zufrieden.“


    Ihre anschließende Gegenfrage zeigte Wirkung – deutlich genug, dass Seiana einen Hauch von Genugtuung verspürte. Sie hatte sich wochenlang den Kopf zerbrochen, also konnte der Aelier ruhig einen Schreckmoment haben, und das sich in die Länge ziehende Schweigen in Kombination mit seinem Gesichtsausdruck war ihr Beweis genug dafür, dass es so war. „Ein Brief wäre besser gewesen als gar nichts. Davon abgesehen warst du, wenn ich richtig informiert bin, im Anschluss an deinen Besuch bei Meridius bei mir. Warum hast du da nichts gesagt? Aber unschuldig fragen, ob du mir schreiben darfst!“ Ihre Stimme blieb in einer normalen Lautstärke, aber der Ton hatte an Schärfe zugenommen. Ohne die Miene zu verziehen, hörte sie seiner anschließenden Erklärung zu. Und sie konnte ihn, wenigstens zum Teil, auch verstehen. Es konnte nicht leicht gewesen sein, einen Mann wie ihren Onkel mit einem derartigen Anliegen aufzusuchen. Und sie wusste aus eigener Erfahrung wie es war, wenn man etwas erreichen wollte, aber die Chancen dafür gering erschienen. Wenn man sich an die Regeln halten musste, die geschriebenen genauso wie die ungeschriebenen. Trotzdem hätte er ihr erzählen sollen, weswegen er an jenem Tag bei Meridius gewesen war. Ihr Onkel hatte ihm sicher gesagt, dass sie unter keiner Patria Potestas stand, dass sie selbst entscheiden konnte, dass er sie fragen musste. Und davon ganz abgesehen: unabhängig davon, ob sie selbst über ihre Zukunft entscheiden konnte oder nicht, hätte sie verlangt miteinbezogen, oder wenigstens informiert zu werden.


    Erneut breitete sich Schweigen aus. Seiana ging viel im Kopf herum, und sie hätte viel sagen können. Dass ihr Onkel nicht für sie entscheiden konnte. Dass ihr aber die Familie wichtig war, deren Ehre, das Einverständnis ihrer Verwandten zu haben, und seine Ambitionen insofern durchaus eine Rolle spielten. Dass ihr, ihr ganz persönlich, wenn sie Familie und Ansehen und Tradition außen vor ließ, seine Ambitionen völlig egal waren. Sie erwiderte seinen Blick und sagte nichts davon, und schließlich ergriff Archias wieder das Wort und schlug einen Spaziergang vor. Zum ersten Mal wandte Seiana den Blick ab und sah aus dem Fenster. Was sollte sie nun davon halten, dass er auswich, dass er das Thema wechselte und offenbar gar nicht wissen wollte, was sie davon hielt? Im ersten Moment war sie versucht, unwillig den Kopf zu schütteln, aber die Idee an sich erschien ihr gar nicht so schlecht. Sie brauchte Zeit, Zeit, um die Gedanken in ihrem Kopf zu ordnen, sich darüber klar zu werden, was sie überhaupt von diesem Besuch erwartete. Also wandte sie den Kopf wieder Archias zu und meinte nur: „In Ordnung.“

    „Oh, nein, da gab’s keine Probleme“, meinte Elena. „Seiana steht unter keiner Patria Potestas, und sie hat auch keinen Vormund oder so. Und wenn sie sich was in den Kopf setzt, zieht sie das durch – ich könnt dir Sachen erzählen…“ Elena grinste. „Sie war… milde ausgedrückt: sprachlos. Dann ist sie sauer geworden. Aber sie hat auch angefangen zu grübeln.“ Im nächsten Moment verging der Spanierin das Grinsen, als Katander sie an den Schultern packte und aus dem Raum schob. „Hey“, protestierte sie, wohlweislich wieder so leise, dass nur er sie verstehen konnte. Sie hielt überhaupt nichts davon, die beiden allein zu lassen, ganz im Gegenteil – sie wollte wissen, was passierte. Aber Katander hatte sie bereits zur Hälfte aus dem Raum bugsiert, und im Grunde wusste sie, dass er Recht hatte, also verschwand sie mit ihm.


    Seiana unterdessen warf den beiden Sklaven noch einen kurzen Blick nach und war sich nicht so ganz sicher, ob sie froh sein sollte oder nicht, dass Elena fort war. Je nachdem wie dieses Gespräch lief, hätte ein wenig Unterstützung nicht geschadet, und sei es nur durch das Wissen, dass ihre Leibsklavin da war. Aber gerade eben noch hatte sie nur genickt, als es um die Knabbereien ging, und jetzt war es zu spät. „Gerne“, antwortete sie etwas verspätet auf die Einladung zum Essen. Dann musste sie, fast schon gegen ihren Willen, schmunzeln, als Archias so verblüfft auf ihre Bemerkung reagierte. Bei seiner Gegenfrage zog sie dann nur die Augenbrauen hoch und warf einen bezeichnenden Blick auf die Federreste, die er zusammenschob, und dann auf seinen Kopf, wo sich gerade vermutlich eine Beule bildete. „Nun ja, ich gehe nicht davon aus, dass du jeden Tag um diese Uhrzeit unter dem Tisch herumkriechst – oder doch?“ Die folgende Frage ließ sie vorerst unbeantwortet, stattdessen ging sie auf die Reise ein. „Nein, wir haben uns gegen ein kleines Entgelt einer Gruppe von Händlern angeschlossen – ich habe mich erkundigt, sie machen das öfter und haben einen recht guten Ruf, was Organisation und Betreuung während und auch nach der Reise angeht, wenn das gewünscht ist. Titus Umbonius Imperiosus ist wohl der Hauptverantwortliche, er sprach während der Seefahrt sogar davon, seine bisherigen Handelsgeschäfte gänzlich seinem Partner zu überlassen und sich nur noch auf derartige Reiseorganisationen zu konzentrieren. Als Bezeichnung wollte er ein Akronym aus seinem Namen bilden, meinte er, immerhin habe er bereits einen recht guten Ruf… Allerdings bin ich mir nicht so sicher, ob TUI tatsächlich ein angemessener Name für ein derartiges Geschäft ist.“


    Seiana zuckte leicht die Achseln. Die Unterhaltungen mit Umbonius waren durchaus interessant gewesen, und seine Idee hörte sich gut an – aber für den Moment wollte sie darauf nicht weiter eingehen. Gleich darauf zog sie erneut die Augenbrauen hoch, aber Archias verhinderte, dass sie weiter auf das Krokodil einging, sondern wieder darauf zu sprechen kam, warum sie hier war – oder genauer, warum sie nicht geschrieben hatte. Seiana schwieg einen Moment und musterte ihn nur. Zum ersten Mal stellte sie sich bewusst die Frage, ob sie ihn zappeln, im Unklaren lassen wollte. Sie könnte mit irgendetwas Unverfänglichem antworten, ausweichen, oberflächlich bleiben – obwohl klar war, dass sie nicht einfach nur so nach Ägypten gekommen war. Aber das war nicht ihre Art. Höfliches Geplänkel – sie beherrschte es, aber sie mochte es nicht. In diesem Fall hätte zwar einiges dafür gesprochen, aber es blieb dabei: Seiana gehörte nicht zu dieser Sorte Mensch. Also stellte sie schließlich nur eine simple Gegenfrage: „Warum hast du nicht geschrieben, warum du bei meinem Onkel gewesen bist?“

    Selbst wenn Seianas Kopf nicht plötzlich leer gewesen wäre, hätten ihr die Worte gefehlt angesichts der Situation, die sie in dem Officium erwartete. Katander schien gerade in voller Fahrt zu sein, die er erst unterbrach, als er auf die beiden Frauen aufmerksam wurde; Archias kroch gerade unter seinem Schreibtisch herein; und verstreut auf und unter dem Möbelstück lag etwas, das verdächtig nach den Überresten einer Feder aussah. Überrascht blieb Seiana so abrupt stehen, dass Elena in sie hineinlief und dann, nachdem sie an ihrer Herrin vorbei gesehen hatte, mit offenem Mund dastand und auf die Szenerie blickte, die sich ihr bot. Katanders Ausruf wurde ignoriert, beide waren zu überrascht von dem, was sie sahen. Der Aelier allerdings hatte seinen Sklaven gehört und sah unter dem Schreibtisch hervor – und stieß sich im nächsten Moment so heftig den Kopf, dass sowohl Seiana als auch Elena unwillkürlich zusammenzuckten bei dem dumpfen Laut, den das Kollidieren des Kopfes mit der Tischplatte erzeugte. Die Zeit, die Archias im Anschluss brauchte, um hervorzukommen und aufzustehen, nutzte Seiana, um sowohl ihre ursprüngliche Sprachlosigkeit als auch ihre Verblüffung zu überwinden und ihre Fassung wieder zu gewinnen. Als der Aelier sie schließlich begrüßte, neigte sie leicht den Kopf. Ihr Gesichtsausdruck spiegelte oberflächlich neutrale Freundlichkeit wider, aber darunter lag etwas Undeutbares, und in ihren Augen war unterschwellig eine Warnung zu erkennen, wenn man sie kannte – oder aufmerksam hinsah. „Archias. Als Überraschung war mein Besuch auch geplant.“


    Während Elena Katander zum Fenster folgte, nahm Seiana Platz auf dem Stuhl, den Archias ihr anbot. „Einen Becher Wasser, bitte.“ Sie schlug ein Bein über das andere und wartete, bis sie das Getränk erhalten hatte. Sie hatte verschiedene Möglichkeiten durchgespielt zuvor, wie das Gespräch laufen könnte, aber konkret geplant hatte sie nichts – und auch jetzt dachte sie nicht bewusst darüber nach, es dem Aelier schwer zu machen oder ihn im Unklaren zu lassen, was ihr Besuch zu bedeuten hatte. Dennoch tat sie nichts anderes als genau das. „Was macht die Arbeit? Und was war hier eigentlich gerade los?“ fragte sie beiläufig, so als ob sie ebenfalls in der Stadt wohnte und auf einen Höflichkeitsbesuch vorbei gekommen war.


    Elena unterdessen lehnte sich an die Wand neben dem Fenster und lächelte Katander an. „Grüß dich, ich freu mich auch. Endlich sind wir da… Ja, die Reise war so weit in Ordnung, ich fand’s ziemlich aufregend. Kann ich dir später noch mehr von erzählen, wenn du möchtest.“ Sie sah kurz zu ihrer Herrin und dem Aelier. „Bin gespannt was das wird…“, murmelte sie so leise, dass nur Katander sie verstehen konnte. „Der Senator hat inzwischen mit ihr geredet. Deswegen sind wir hier – und deswegen hat sie auch nichts geschrieben, und es mir auch verboten. Ah ja genau, das ist eine gute Frage: was war los?“

    Sie wurden in einer einfachen Sänfte durch Alexandrien getragen, die einer der Händler, der die Reise organisiert hatte, aufgetrieben hatte. Seiana war froh, dass sie nicht auf eigene Faust nach Alexandrien gekommen war, so wie Elena es ursprünglich vorgeschlagen hatte – „Ach geh, wir kommen doch allein zurecht!“ –, sondern sich nach einer Gruppe umgesehen hatte, der sie sich anschließen konnte. Ihr Gepäck hatten sie noch auf dem Schiff lassen können, dass einige Tage im Hafen von Alexandria vor Anker liegen würde, bevor es erneut die Segel setzen würde. Und sie waren auf dem Weg in die Stadt, genauer gesagt, zum Postbüro. Denn dort würde sie den Aelier um diese Tageszeit wohl finden, davon ging sie jedenfalls aus – ganz davon abgesehen war das vermutlich wesentlich einfacher zu finden.


    Seiana staunte über ihre Umgebung, genoss den Anblick, versuchte so viel zu sehen wie möglich – aber je mehr Zeit verging, je länger sie brauchten, desto mehr machte sich Aufregung bemerkbar. Wie oft hatte sie sich in den letzten Tagen und Wochen, seit ihr Entschluss festgestanden hatte, diesen Moment ausgemalt? Was der Aelier wohl sagen würde… was wenn Meridius etwas missverstanden hatte, in irgendeiner Form? Wie würde es dann aussehen, dass sie auf einmal vor Archias stand, den sie nicht darüber informiert hatte, dass sie kommen würde? Seiana biss die Zähne zusammen und fluchte lautlos. Vielleicht hätte sie den Händler erst einmal darum bitten sollen, Elena und ihr eine saubere und sichere Unterkunft zu organisieren und sich erst einmal dort einrichten sollen, bevor sie Archias besuchte. Dann könnte sie wenigstens so tun, als sei sie einfach nur so hier… Aber dafür war es zu spät, im wahrsten Sinne des Wortes, denn in genau dem Moment, in dem Seiana das dachte, wurde die Sänfte abgesetzt. Sie waren da. Seiana holte noch einmal tief Luft und warf Elena einen empörten Blick zu, als diese sie angrinste. Dann verließ sie die Sänfte, die Sklavin im Schlepptau wie ein Schatten, und betrat nach einem lediglich zur Ankündigung gedachten Klopfen das Officium. Hatte sie sich eben noch ein paar Worte der Begrüßung zurecht gelegt, war ihr Kopf auf einmal wie leergefegt. Ein „Salve“ war alles, was sie über die Lippen brachte – aber das immerhin in einem ruhigen Tonfall, der nicht verriet, wie seltsam sie sich auf einmal fühlte.

    Der Weg von Rom nach Ostia war nicht lang gewesen, vor allem im Vergleich zu der Reise, die noch vor ihr lag – aber in Anbetracht der Tatsache, dass der eigentliche Aufbruch in Seianas Augen erst mit Ablegen des Schiffes begann, erschien ihr dieser Teil viel zu lang. Nach außen hin scheinbar ungerührt, fieberte sie innerlich der Ankunft in Ostia entgegen, und dem Moment, an dem sie endlich das Schiff betreten konnte. Elena dagegen machte sich keine Mühe, ihre Aufregung zu verbergen, und da für sie die eigentliche Reise bereits mit dem Aufbruch in Rom begonnen hatte, fand sie jetzt schon alles furchtbar aufregend.


    Es war nicht das erste Mal, dass sie mit dem Schiff reisten, aber es würde die längste Reise bisher sein. Und als sie sich schließlich Ostia näherten, machte sich auch in ihr die Aufregung breit, die sie in den letzten Stunden und Tagen erfolgreich unterdrückt hatte. Während Elena munter drauflos plapperte und ständig etwas Neues, Faszinierendes entdeckte, schwieg Seiana die meiste Zeit nur, betrachtete ihre Umgebung aber um keinen Deut weniger aufmerksam als ihre Leibsklavin es tat. Schließlich erreichten sie den Hafen. Sowohl das Schiff als auch die Gruppe von Händlern und anderen Reisenden, der sie sich für ein Entgelt angeschlossen hatte und die ihr vor allem in Alexandrien zunächst helfen würden, sich zurecht zu finden, waren leicht zu finden. Es dauerte nicht mehr lang, die letzten Modalitäten zu besprechen, und schon gingen sie an Bord, richteten sich in ihrer Kabine ein – und mussten, sehr zum Leidwesen Elenas, deren Geduldsspanne deutlich geringer war als Seianas, warten. Das Schiff benötigte noch etwas an Vorbereitung, zudem sei die Ladung noch nicht in Gänze verstaut, ließ der Kapitän Seiana wissen, als sie auf Elenas Drängen hin nachfragte. Aber schließlich war auch diese Wartezeit vorbei, und mit einem Grinsen auf dem Gesicht und einer übermütigen Elena neben sich stand Seiana an der Reling, als das Schiff endlich ablegte.

    Seiana hatte an jenem Abend, als Faustus und Appius zu Besuch gewesen waren, noch länger hin und her überlegt – aber letztlich hatte ihr Entschluss festgestanden: sie würde nach Ägypten reisen. Je länger sie darüber nachdachte, desto klarer wurde ihr, dass sie keine andere Wahl hatte, jedenfalls nicht, wenn sie den Aelier tatsächlich auf seinen Besuch bei ihrem Onkel ansprechen wollte. Und auf sein Vorhaben. Und warum er ihr nichts gesagt hatte. Sie konnte es einfach nicht in schriftliche Worte fassen, alles erschien ihr ungenügend – und allein das Wissen, wie lange sie auf eine Antwort würde warten müssen – die dann womöglich wenig zufriedenstellend ausfiel – gab letztlich immer den Ausschlag. Wenn sie ihm gegenüber stand, konnte er ihr nicht ausweichen, oder nicht so gut. Und davon abgesehen… was war denn, wenn er es zugab? Wenn er auf ihren Brief antwortete und schrieb, dass er tatsächlich Interesse an einer Ehe mit ihr hatte? Von vornherein absagen, ohne eine Verbindung überhaupt in Erwägung zu ziehen, würde sie nicht – dafür war der Aelier nicht nur eine zu gute Partie, sondern ihr zu sympathisch erschienen, und darüber hinaus war ihre Neugier einfach zu groß. Um aber eine Entscheidung treffen zu können, dafür kannte sie ihn zu wenig. Und so, wie die Dinge momentan standen, konnte sie ihn nicht besser kennen lernen, es sei denn… es sei denn sie reiste nach Ägypten. Besuchte ihn. Lernte ihn kennen. Aber vorher würde sie ihm gehörig den Kopf waschen. Was fiel ihm ein, mit Meridius zu reden, sie aber nur ganz unschuldig zu fragen, ob er ihr schreiben dürfe?


    So hatte sie sich in den anschließenden Tagen und Wochen daran gemacht, die Reise vorzubereiten. Sie hatte Erkundigungen eingezogen, hatte mit Bekannten gesprochen, die bereits in Ägypten gewesen waren, und hatte schließlich in der Familie ihren Entschluss bekannt gegeben – auf eine Art, die klar machte, dass sie sich davon nicht abbringen lassen würde. Nachdem sie das hinter sich gebracht hatte, hatte sie sich nach einer Reisegruppe umgesehen, in deren Begleitung und Schutz sie und Elena nach Alexandrien reisen konnten, hatte eine Schiffspassage gebucht und sich um alles gekümmert, was sie sonst noch brauchte. Und schließlich war der Tag der Abreise gekommen.

    Nachdem Seiana geendet hatte, wartete sie mit angehaltenem Atem auf die Reaktion des Aureliers. Sie hatte getan, was sie hatte tun können – mehr hätte sie sich nicht vorbereiten können, das wusste sie. Jetzt lag es einfach daran, ob sie ihn hatte überzeugen können. Sie war sich nicht ganz sicher, ob sie nicht vielleicht doch so mit der Tür ins Haus hätte fallen sollen, oder ob sie für seinen Geschmack schon zu viel geplant hatte, ob er mehr Mitspracherecht haben wollte, bei der Auswahl des Betriebes… Aber dann wäre er nicht der richtige Patron gewesen, überlegte sie. Sie hatte sich bewusst für eine Töpferei entschieden, hatte sie doch ein paar Ideen, die sie nur mit dieser Art von Geschäft umsetzen konnte. Künstlerisch gestaltete Gegenstände, ob sie nun zum alltäglichen Gebrauch bestimmt waren oder der Dekoration dienten, war dabei zweitrangig. Seiana zeichnete schon länger, und seit sie den Entschluss gefasst hatte, sich ein Geschäft zuzulegen, hatte sie auch derartige Entwürfe zu Papier gebracht. Aber zuerst einmal musste sie eine Töpferei kaufen, und dann dafür sorgen, dass sie auch gut weiterlief, bevor sie anfangen konnte diese Pläne umzusetzen.


    Der erste Satz, den Corvinus von sich gab, ließ Seiana kurz erstarren. Sie hatte eine klare Vorstellung – das konnte alles bedeuten. Aber schon mit den nächsten Worten sorgte der Aurelier für Erleichterung bei ihr. Es gefiel ihm. Es gefiel ihm, dass sie alles durchgeplant hatte, bevor sie gekommen war. Innerlich jubilierte sie schon, aber sie zügelte sich, hielt sich vor, dass er noch nicht zugesagt hatte, und nach außen hin blieb ihr Gesicht weitestgehend unbewegt. Nur das Funkeln in den Augen und ein leichtes erfreutes Zucken ihrer Mundwinkel nach oben konnte sie nicht unterdrücken. „Gerne.“ Noch bevor sie winken konnte, trat Elena erneut einen Schritt vor und reichte dem Aurelier die Papyri, die sie mitgebracht hatte. „Danke für den Hinweise – das werde ich noch machen. Ich hatte mir mehrere Betriebe angesehen, hatte aber bei allen vorher um einen Termin gebeten.“ Als Corvinus anschließend aufzuzählen begann, was er von ihr als Klientin erwartete, musste Seiana sich auf die Innenseite ihrer Unterlippe beißen, um ein – möglicherweise voreiliges – Lächeln zu unterdrücken. Er würde ihr das doch kaum erzählen, wenn er nicht vorhatte zuzusagen… aber sicher sein konnte sie noch nicht. Erst als er ihr die Hand hinhielt, breitete sich das so lange unterdrückte Lächeln auf ihrem Gesicht aus. „Wir stimmen überein“, antwortete sie und nahm seine Hand. Mit den Bedingungen, die er aufgezählt hatte, hatte sie so ungefähr gerechnet – sie war sich lediglich nicht sicher gewesen, wie Corvinus die morgendliche Salutatio in ihrem Fall handhaben wollte. Dass sie nur kommen musste, wenn sie tatsächlich etwas zu besprechen hatte, ließ ihr mehr Freiheiten als es für die meisten Klienten üblich war. Das Lächeln wurde strahlender. „Ich danke dir für dein Vertrauen.“

    Seiana grinste, als der Auctor ihr zuzwinkerte. „Irgendwie werde ich es schon finden.“ Dann nickte sie. „Nun ja, ich denke, man kann es nicht jedem Recht machen. Man kann es nur versuchen.“ Sie musterte den Aurelier aufmerksam und lächelte schon wieder, als sie daran denken musste, wie schnell das gerade gegangen war – sie war in den Park gekommen, um in Ruhe zu lesen, und jetzt konnte sie, mit der offiziellen Erlaubnis des Auctors, für die Acta schreiben.


    In Gedanken bereits mit Worten spielend, sah sie auf, als hinter ihnen ein Räuspern erklang. Corvinus’ Begleiter hatte sich bemerkbar gemacht und schien andeuten zu wollen, dass es spät wurde. Der Aurelier nickte und begann, sich von ihr zu verabschieden, und Seiana erhob sich ebenfalls. „Das hoffe ich auch. Und noch einmal danke."“ Erneut lächelte sie, als sie seinen letzten Kommentar hörte. „Ich werde jedenfalls versuchen, sie mir gewogen zu stimmen – sollte sie es nicht sein, dürften Beschwerden nicht lange auf sich warten lassen.“ Ihr Tonfall und ihr Gesichtsausdruck machten deutlich, dass sie ebenso scherzhaft geantwortet hatte. Nach einem letzten Gruß entfernte sich der Aurelier von ihr, und auch Seiana blieb nicht mehr lange in dem Park. Elena hatte zwar ihren Auftrag erfüllt, aber es jetzt war es zu spät, um im Park noch etwas zu essen, also gingen die beiden nach Hause.


    ~~~ finis ~~~

    „Der Fels in der Brandung?“ Seiana zog die Brauen leicht hoch, als sie das hörte. „Also ich weiß nicht… Aber wenn du meinst.“ Sie grinste. Sie selbst hätte das nicht über sich gesagt, aber wenn Faustus so von ihr dachte, freute sie das. Dann nickte sie, und ihre Augen begannen zu glänzen. „Ja, Ägypten – ich meine, allein der Name klingt schon faszinierend. Ich war ja sonst noch nirgends“ – im Gegensatz zu ihren Brüdern – „und hab daher keinen Vergleich, aber… hm… mal sehen, vielleicht besuch ich ihn ja mal. Dann kann ich dir erzählen, wie es ist. Und Tribun anlachen, will ich einen Mann, bei dem ich ständig Angst haben muss, dass er irgendwohin abgerufen wird? Reicht schon, dass zwei von meinen Brüdern Soldaten sind… Außerdem, was heißt hier überhaupt anlachen – ich hab mir niemanden angelacht, wir schreiben uns nur, da ist gar nichts…“ Noch nicht. Seiana biss sich auf die Zunge, während ihr gleichzeitig, jetzt wo sie es ausgesprochen hatte, der Entschluss bewusst wurde, der sich in ihr gebildet hatte – den Aelier zu besuchen. Sie hatte ihm bisher noch nicht wieder geschrieben, einfach weil sie nicht gewusst hatte was – fest hatte für sie gestanden, dass sie ihn darauf ansprechen wollte, aber jedes Mal wenn sie sich hingesetzt hatte, um ihm zu schreiben, hatte sie irgendwann wieder aufgegeben. Entweder fand sie nicht die richtigen Worte, oder sie war unzufrieden mit dem Brief, wenn sie ihn im Nachhinein noch einmal durchlas. Nun, vielleicht würde ihr das auch so gehen, wenn sie dem Aelier gegenüber stand, aber dann konnte sie nicht mehr zurücknehmen, was sie gesagt hatte. Und sie würde eine Reaktion bekommen, würde hören können, was er zu sagen hatte.


    Dennoch behielt sie diesen Entschluss vorerst für sich. Er war zu frisch, für sie selbst noch so neu, dass sie sich erst wirklich klar werden musste darüber. Und die Reise erst planen… Plötzlich begann sich Aufregung in ihr breit zu machen, und weil sie gerade mit den Raupen in ihrem Bauch beschäftigt war, bemerkte sie nur am Rande, dass Faustus auf einmal um Worte verlegen war und auch sonst seltsam wirkte. Erst als ihr kleiner Bruder schon beim nächsten Thema war, fiel ihr auf, dass er seltsam gewirkt hatte, und sie runzelte flüchtig die Stirn, während sie noch einmal über seine vorigen Worte nachdachte. Eine Person? Der er geschrieben hatte? Und er war aufgeregt? Seiana legte den Kopf schief, und ihre Mundwinkel zuckten. Wenn sie sich nicht irrte, dann konnte das zusammen mit Faustus’ Verhalten eigentlich nur den Schluss zulassen, dass er eine Frau traf, eine in die er offensichtlich verliebt war. Dass er bewusst die Bezeichnung Person gewählt haben könnte, kam ihr nicht in den Sinn – aber sie fragte auch nicht nach, hatte sie doch noch zu gut im Kopf, wie sie sich gerade eben gefühlt hatte bei der Befragung durch ihre Brüder. „Ja, was eigenes. Ich weiß nicht, ob es schwieriger ist, aber ich werd schon klar kommen. Du kennst mich doch.“ Wieder grinste sie, bevor sich der Ausdruck in ein warmes Lächeln verwandelte. „Ein Theater, das klingt gut, sehr gut. Da bin ich auch gern dabei, wenn’s dir Recht ist. Oh, das könnte ich mir gut vorstellen. Wir beide irgendwann…“ Sie stand ebenfalls auf und erwiderte Faustus’ Umarmung, so fest sie konnte. „Also dann… Lass dich bald mal wieder blicken. Und ich wünsch dir viel Spaß noch bei deiner Verabredung.“ Sie küsste ihn zum Abschied auf die Wange und ging mit ihm zur Tür, die sie leise hinter ihm schloss, nachdem er ihr Zimmer verlassen hatte.

    „Leb wohl…“, murmelte Seiana, als Appius sich bedankte und dann verschwand. Einen Moment lang musterte sie die Tür, die sich hinter ihrem Bruder geschlossen hatte, dann wandte sie sich Faustus zu, der sie im selben Augenblick ansprach. „Keine Ahnung.“ Wieder zog sie die Beine an und schlang die Arme um die Knie. Ihr war ebenfalls aufgefallen, dass Appius’ Abschied etwas abrupt ausgefallen war – so abrupt, dass er sich von Faustus kaum wirklich verabschiedet hatte. „Wir haben ihn so lang nicht mehr gesehen… Ich weiß nicht, ich… also, das Gespräch selbst war gut, und… da war schon die Vertrautheit von früher, jedenfalls hat es sich so angefühlt. Aber trotzdem… irgendwie war auch gleichzeitig was Fremdes da. Die Jahre, die wir uns nicht gesehen haben. Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn wirklich noch kenne, weißt du? Das hat nichts damit zu tun, ob ich das will, ich meine, er ist mein Bruder, ich liebe ihn, und ich werd für ihn da sein, wenn er mich braucht, genauso wie für dich und Caius, so gut ich kann… Nur, wir haben uns eben alle weiterentwickelt. Verändert. Und was er erlebt hat…“ Seiana seufzte. „Ich weiß nicht.“


    Sie grinste, etwas verlegen, als Faustus auf den Aelier zurückkam. „Jaaa. Ich hab ihn gefragt, warum er nach Ägypten will, und es waren wohl verschiedene Gründe – er interessiert sich für andere Länder, er war auch schon in Germanien. Karrieremöglichkeit war auch ein Grund. Er möchte sich selbst einen Namen machen, meinte er. Ich hab neulich erst einen Brief von ihm bekommen, inzwischen ist er Praefectus Vehiculorum von Ägypten.“ Sie zuckte andeutungsweise die Achseln. „Und er… Na ja, das klingt vielleicht komisch, aber er hat mich zum Lachen gebracht. Ist schon länger her, dass das jemand geschafft hat…“ Seiana wurde nachdenklich, zuckte dann schließlich erneut die Achseln und nippte an ihrem Wein. Dann sah sie überrascht hoch. „Wie, du willst auch schon gehen? Musst du schon wieder zurück?“ Nein, in die Stadt musste er – und Seiana fiel das kurze Stocken durchaus auf. Für den Bruchteil eines Augenblicks blitzten Erinnerungen in ihr auf, an den Tag, als ihre Mutter den ersten Bericht bekommen hatte über Faustus und was er in Rom getrieben hatte – dem Seiana ohne das Wissen ihrer Mutter gelauscht hatte. Aber es war nur Erinnerung. Diese Zeit hatte Faustus hinter sich, das wusste Seiana, sie spürte es. Trotzdem legte sie den Kopf schief und musterte ihn, nicht misstrauisch, sondern offen und neugierig. „Was willst du denn noch in der Stadt?“ Danach stützte sie ihren Kopf in beide Hände. „Ich weiß dein Angebot wirklich zu schätzen. Aber… hm… also, finanzielle Probleme hab ich nicht. Ich werd von der Familie unterstützt, und ein bisschen was von Mutter ist ja auch noch da… Aber… na ja, ich möchte gerne was eigenes machen, weißt du? Wenn ich davon dann irgendwann mal leben kann, umso besser. Und das würd ich gern aus eigener Kraft schaffen. Ich hab schon ein paar Ideen, und ich möchte mir auch einen Patron suchen, weil das eben, na ja, der normale Weg ist, jedenfalls, wenn man von der Familie keine Unterstützung bekommt, weißt du?“ Seiana musterte ihren Bruder. Dann grinste sie plötzlich. „Solltest du tatsächlich darauf bestehen, dann müsstest du Partner werden – in welcher Form auch immer. Dann bekommst du eine Gegenleistung. Ah ja, und wenn ich auf die Nase falle und mein Patron mich verstößt – das heißt, wenn ich überhaupt einen finde –, dann kannst du mir natürlich auch gern helfen.“ Jetzt lachte sie. Natürlich meinte sie das nicht wirklich ernst. Sie hatte nicht vor, auf die Nase zu fallen, ganz im Gegenteil, und sie würde sich einen Plan überlegen, würde strukturiert vorgehen bei der Umsetzung ihrer Ideen, um das Risiko eines Fehlschlags so gut es ging zu vermindern. Aber selbst wenn dieser Fall eintreten sollte, würde sie lieber schuften, um es wieder gerade zu biegen, als ihren Bruder zu bitten, für sie einzuspringen. Sie konnte durchaus Hilfe annehmen, aber es gab einen Unterschied zwischen Hilfe annehmen und sich aus der Verantwortung ziehen, und letzteres würde sie ganz bestimmt nicht.

    Faustus wurde gerade durch ihre Schweigsamkeit neugierig – sie hätte es sich denken können, schoss Seiana im Nachhinein durch den Kopf. „Na ja…“, murmelte, etwas verlegen. „Ich weiß es nicht. Er wirkt nett…“ Sie kannte ihn kaum. Trotzdem, die wenige Zeit, die sie mit ihm verbracht hatte, hatte sie durchaus genossen. Sie hatte mit ihm lachen können. „Ja, das war der. Er ist in Ägypten im Postdienst tätig – daher schreiben wir uns auch.“ Sie verfiel wieder in Schweigen und musterte für einen Moment ihren Weinbecher, als ob etwas unglaublich Interessantes darin wäre. Das Ansinnen des Aeliers beschäftigte sie nun schon seit Tagen, und sie bekam es einfach nicht aus dem Kopf – wie denn auch? Er wollte sie heiraten, wie hätte sie das so einfach wegschieben können? Seiana wusste, wie wichtig die Familie war – ihre Mutter hatte darauf geachtet, dass allen ihren Kindern das klar war. Mehr als nur darauf geachtet. War das nicht der Grund gewesen, warum die beiden Brüder, die jetzt in ihrem Zimmer saßen, verschwunden waren? Weil sie dem Druck nicht mehr hatten standhalten können oder wollen? Es hatte eine Zeit gegeben, da wäre sie am liebsten auch verschwunden, und wie übel hatte sie es damals Faustus genommen, dass er es einfach getan hatte, hatte tun können, während sie, als Mädchen, als Frau, nicht wirklich die Wahl gehabt hatte… Oder war das nur eine Ausrede gewesen? Seiana seufzte lautlos. Die Familie war wichtig, das wusste sie, und es war nicht nur Pflichtgefühl oder Erziehung, die aus ihr sprachen – das Alter, in dem ihnen allen zu viel geworden war, wozu ihre Mutter sie hatte drängen wollen, war vorbei, bei ihnen allen, wie es schien. Nein, die Familie war ihr wichtig – und aus diesem Blickwinkel betrachtet war ein Aelier eine hervorragende „Wahl“. Nur… was war mit ihr? Mit dem, was sie wollte? Seiana schloss für einen winzigen Moment die Augen. Ihre eigenen Wünsche hin oder her, eine Ehe mit einem Aeliers war, gerade in der momentanen politischen Situation, eine zu gute Verbindung für ihre Familie, um sie nicht wenigstens in Betracht zu ziehen. Darüber hinaus mochte sie Archias ja. Sie kannte ihn nur kaum…


    Während, ohne dass sie selbst es bewusst registrierte, in Seiana der Beschluss zu reifen begann, nach Ägypten zu reisen, lauschte sie ihren Brüdern. Dass Appius begann, sie auf eine etwas seltsame Art anzusehen, bemerkte sie gar nicht, dafür war sie für Augenblicke dann doch zu versunken in ihre eigenen Gedanken. Erst als sie hochsah, in seine Augen, meinte sie für einen Moment einen merkwürdigen Glanz zu sehen – aber im nächsten war er schon verschwunden, und sie schob den Gedanken weg. Sie lächelte und nickte, als Appius Faustus antwortete, schwieg aber zuerst zu dem Angebot, das ihr jüngerer Bruder ihr gemacht hatte. Sie wusste nicht recht, was sie davon halten sollte, auch wenn es sie rührte, dass er sich um sie kümmern wollte. „Ähm. Ja. Hm. Danke für dein Angebot, das ist wirklich lieb von dir…“ Der ältere Bruder rettete sie für den Augenblick, indem er plötzlich aufstand und sich verabschiedete. Seiana machte sich nichts vor, Faustus würde auf sein Angebot zurückkommen, und sie hatte auch vor, ihm zu antworten – nur was, wusste sie noch nicht recht… Sie sollte ihm von ihren Plänen erzählen. Sie sollte ihm von so viel erzählen. Seiana verdrängte die Gedanken für den Moment, erhob sich ebenfalls und lächelte Appius an. „Nein, mach dir keine Gedanken. Ich hab mich gefreut, dich endlich mal wieder zu sehen, zu hören, wie es dir ergangen ist…“ Nicht ahnend, was sie damit möglicherweise anrichtete, stellte sie sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn leicht auf die Wange, bevor sie ihn umarmte. „Ich wünsche dir alles Gute – und dass du in Germanien findest, was du suchst. Dass du Frieden findest.“

    Es hatte eine Weile gedauert, bis die beiden Aurelierinnen und die Decima ihr Vorhaben, gemeinsam in die Therme zu gehen, in die Tat umsetzen konnten, aber eines Tages war es dann doch so weit. Gemeinsam mit den beiden anderen betrat Seiana die Thermen. Auch sie staunte, als sie die prachtvollen Verzierungen sah – zwar hatte sie in Tarraco ebenfalls Thermen besucht, aber an Prunk konnten die dortigen nicht mit dieser hier mithalten. Fasziniert betrachtete sie Mosaike und ließ für einen kurzen Moment versonnen ihre Fingerspitzen über einen besonders schön gestalteten Fischschwarm gleiten, bevor sie sich den anderen beiden zuwandte.


    „Das Tepidarium ist ein guter Anfang, finde ich“, antwortete sie auf Minervinas Frage. Sie hatte sich für diesen Besuch extra Zeit genommen, und sie hatte vor, die Thermen ausgiebig zu erkunden – bis es zu spät wurde oder ihr Kreislauf ihr einen Strich durch die Rechnung machte, je nachdem, was eher eintrat. Also war es nur gut, langsam zu beginnen. Dann grinste sie plötzlich, als Prisca auf einen Masseur aufmerksam wurde. Sie musterte den Mann kurz, aber eingehend, und ihr Schmunzeln wurde etwas breiter. Nicht ganz ihr Geschmack, auch wenn er durchaus gut aussah. Aber zum einen gab es ja noch andere – und zum anderen war es wichtiger, ob er tatsächlich etwas von seinem Handwerk verstand. Immer noch grinsend meinte sie zu Prisca: „Eine Massage kommt auf jeden Fall noch dran heute, so oder so. Aber du kannst ihn ja fragen, ob er mitkommen möchte – nur sollte er zwei Kollegen mitbringen… Oder was meinst du?“ Die letzte Frage war an Minervina gerichtet.