Die Tage vergingen, aber sie waren zäh, so zäh und klebrig wie Harz an einem Baumstamm. Seiana ließ sich von Sklaven auf dem Laufenden halten, was außerhalb der vier Wände von Faustus' Cubiculum geschah, aber sie selbst wich nur selten von der Seite ihres Bruders, und wenn sie es denn doch tat, spürte sie den Drang, so rasch wie möglich zurückzukehren an seine Seite. Sie kühlte seine Stirn, wenn er vor Fieber glühte, sie versuchte ihn beruhigen, wenn Albträume ihn in seinem Schlaf quälten, sie half den Sklaven ihn zu versorgen, und wenn es nichts zu tun gab, saß sie bei ihm, las ihm manchmal vor aus seinen Lieblingswerken, oder hielt häufig genug einfach nur seine Hand.
Mehr als einmal fühlte sie sich dabei unheilvoll an jene Zeit erinnert, als ihre Mutter krank geworden war. Sie war älter, reifer, sie konnte anders damit umgehen... und doch fühlte sie sich kaum weniger hilflos als damals, als sie am Bett ihrer Mutter gesessen hatte, und trotz all den Dingen, die sie auch damals getan hatte – ihr zu helfen beim Essen und Trinken, sie zu waschen, saubere Kleidung anzulegen, alles Kleinigkeiten, die sie den Sklaven mehr und mehr abgenommen hatte, einfach um irgendetwas tun zu können –, trotz all diesen Dingen also nicht wirklich mehr hatte tun können als letzten Endes einfach nur dazusitzen, und ihrer Mutter beim Sterben zuzusehen. Zuzusehen, wie diese Frau, die ihr Zeit ihres Lebens immer so stark erschienen war, schwach und schwächer wurde. Zuzusehen, wie diese Frau, die gerade wegen ihres ambivalenten Verhältnisses zueinander eine so prägende Rolle in ihrem bisherigen Leben gehabt hatte, immer kleiner zu werden schien. Zuzusehen, wie diese Frau, die vier Kinder ohne Vater aufgezogen hatte, die niemals aufgegeben, sich niemals hatte unterkriegen lassen, aufhörte zu kämpfen. Zuzusehen, wie sie starb.
Es waren Momente wie dieser, wenn sie nicht mehr unterscheiden zu können schien zwischen Gegenwart und Vergangenheit, wenn die Erinnerung so stark wurde, dass sie ihr wie ein eisernes Band um den Brustkorb zu schlingen schien und ihr den Atem raubte, in denen sie es nicht mehr aushielt, an seiner Seite zu bleiben. In denen sie regelrecht floh aus seinem Zimmer, zumeist in den Garten, wo sie nach frischer Luft rang, weil sie fürchtete zusammenzubrechen. Aber es gab auch jene Momente, die ihr deutlich machten, dass es nicht war wie damals. Auch wenn das Fieber heftig wütete, auch wenn er in fieberfreien Zeiten häufig düster vor sich hinbrütete, auch wenn er in beiden Phasen nur allzuoft nicht ansprechbar war und wenn doch, sie kaum an sich heranließ, was ihr jedes Mal einen Stich versetzte – Faustus wurde nicht schwächer, er wurde stärker. Langsam, so furchtbar langsam nur, aber die Tendenz war da, und das war genug um sie hoffen zu lassen.
Als Faustus an diesem Tag sie ansprach, war Seiana in einer Pose anzutreffen, die ziemlich vertraut war für jeden, der in der vergangenen Zeit das Cubiculum betreten hatte: sie saß in einem Sessel neben dem Bett ihres Bruders, der Oberkörper leicht zur Seite geneigt, die Augen geschlossen, eine Hand in der Nähe der seinen, von der sie allerdings herunter gerutscht war. Der Schlaf, in den sie gefallen war, war aber nur leicht, und als sie Faustus' Stimme hörte, war sie sofort wach. Die mittlerweile schon chronischen Schmerzen in ihrem Rücken aufgrund der ungesunden Haltung, in der sie viel zu häufig geschlafen hatte, ignorierend, richtete sie sich etwas auf. „Hola“, antwortete sie leise, bei diesem ersten Gruß unwillkürlich in die Sprache ihrer Vorfahren fallend, mit der sie als Kinder ebenso aufgewachsen waren wie mit Latein. „Wie... wie geht's dir heute?“