Beiträge von Decima Seiana

    „Nun... Mein Bruder ist nicht irgendjemand. Er war Praefectus Praetorio... das allein dürfte Grund genug sein“, erwiderte Seiana. Es wunderte sie ein wenig, dass dem Flavius das nicht ausreichend schien dafür, dass die Decimi nun einen schwereren Stand hatten. Männer in weniger hohen Militärpositionen hatten es ja schon nicht einfach, nachdem sie in einem Bürgerkrieg auf der falschen Seite gestanden waren – und ihr Bruder hatte den höchsten Posten des Reichs bekleidet. Es wäre wohl eher verwunderlich gewesen, wenn dies zu keinerlei Reaktion geführt hätte.
    Darüber, dass der Flavier ihren Bruder beim Praenomen nannte, wunderte sie sich hingegen kaum. Zwar begann sich ein kleiner Teil von ihr zu fragen, welcher Art die Freundschaft zwischen den beiden wirklich war, aber wirklich wichtig war ihr nur, dass die beiden befreundet waren – gut genug, dass Faustus trotz aller Inbrunst, mit der er sich für Vescularius eingesetzt hatte, sich dazu entschlossen hatte ihn hier aufzunehmen. „Und er ist nicht der einzige, der sich in den letzten Monaten... sagen wir unglücklich positioniert hat. Dass wir dafür den Preis zahlen, ist wohl Politik.“ Seiana unterdrückte ein Seufzen und versuchte stattdessen zu lächeln. „Aber es freut mich sehr zu hören, dass du es anders siehst.“

    „Ich werde dafür sorgen, dass du den noch ausstehenden Lohn heute noch erhältst“, lächelte Seiana ihr zu und gab dem Sklaven, der im Hintergrund auf etwaige Wünsche wartete, einen Wink sich schon mal darum zu kümmern.
    „Es freut mich, dass du uns weiterhin treu bleiben möchtest. Ich werde Aquila Bescheid geben und einen Termin arrangieren, bei dem ihr euch treffen könnt... derzeit ist er nicht im Haus, sonst würde ich ihn gleich holen. Hättest du in zwei Tagen Zeit, am späten Nachmittag?“ Nicht dass sie Aquilas Zeitplan kannte, aber in zwei Tagen sollte er zumindest Gelegenheit haben es möglich zu machen hier aufzutauchen. Bei der anschließenden Frage strich Seiana sich kurz über das Kinn. „Nun... er sollte einfach nicht zu sehr über die Stränge schlagen in seiner Freizeit. Vor allem nicht, wenn er gewählt werden sollte. Er muss sich einen guten Ruf erst noch erarbeiten, Minuspunkte gleich welcher Art wären wenig dienlich.“

    Seiana nickte leicht. Ein Exempel statuieren, das klang logisch. „Nach allem was ich weiß, wurden doch einige festgesetzt, und keiner von ihnen wurde unter Hausarrest gestellt. Es wurden aber auch viele wieder freigelassen in der Zwischenzeit... vielleicht war das der Sinn: ein Warnschuss, der ernst genommen wird, und dafür im Nachhinein weniger, die vor Gericht gebracht und verurteilt werden.“ Wobei das letztlich wohl bei so einigen noch offen war, ob etwas kommen würde – bei ihr ja auch. Der Kaiser hatte ihr nur gesagt, er würde ihr Bescheid geben. „Und es war wohl einfacher so, alle miteinander zu bewachen, als jeden unter Hausarrest zu stellen der es wohl verdient hätte.“


    Die Reaktion ihres Onkels trug auch nicht wirklich dazu bei, Seiana positiver zu stimmen. Sie war nicht mehr so jung, so naiv zu glauben oder zu hoffen, dass alles wieder gut werden würde, nur weil er hier war und die Dinge in die Hand nehmen konnte – diese Zeit ihres Lebens war lange vorbei, in der sie noch so gedacht hatte. Dennoch traf es sie zu sehen, zu hören, dass auch Livianus wenig Hoffnung zu haben schien, dass seine Intervention etwas bringen würde. „Ich hoffe sehr, dass du etwas bewirken kannst.“ Sie seufzte lautlos und rieb sich kurz über die Stirn, bevor sie ihren Onkel wieder ansah, als der weiter sprach. Sie bemühte sich um ein Lächeln. „Ja... doch. Die erste Zeit war nicht einfach, als ich noch im Carcer selbst war...“ Sie verschwieg, was diese Zeit noch um so vieles schlimmer gemacht hatte, verschwieg, was Livianus nicht wusste und auch sonst keiner aus der Familie: die Schwangerschaft, die Geburt, und dieses unendlich tiefe, schwarze Loch, in das sie danach gefallen war. „Ich hatte die Casa Decima verlassen, noch während des Bürgerkriegs, und habe anderswo gelebt – nicht so sehr weil ich die Befürchtung hatte, ich könnte gefangen genommen werden, aber weil ich es für wahrscheinlich gehalten habe, unsere Casa könnte geplündert werden. Gefunden haben sie mich dann trotzdem“, erzählte sie stattdessen, verschwieg aber auch hier wieder die Details: welche Angst sie gehabt hatte vor den Soldaten... und dass sie gezwungen gewesen war sich die nackten Füße wund zu laufen auf dem Weg quer durch die Stadt zur Castra. „Irgendwann konnte ich mit Duccius Vala sprechen, der zu dem Zeitpunkt Tribun der VIII war, in deren Verantwortung die Castra lag. Er hat sich an die Verbundenheit unserer Gentes erinnert, an die Ehe von Onkel Magnus mit Duccia Venusia... er hat dafür gesorgt, dass ich besser untergebracht wurde.“

    Schweigend saß Seiana neben ihrem Bruder und lauschte dem, was er Livianus erzählte. Sie kannte schon, was er da sagte, und sie konnte auch verstehen, was er mit seinen Worten wohl sagen wollte... die Rechtfertigung vor seinem Adoptivvater, warum es so weit gekommen war, warum sie nun waren, wo sie waren. Nach allem was ihre Verwandten getan hatten, um ihre Familie groß zu machen, hatten sie geschafft dafür zu sorgen, dass sie am Boden waren... aber nicht grundlos, und sie konnte so gut nachvollziehen, warum Faustus das erklären wollte. Ihr war es ja genauso gegangen, als Livianus gekommen war – es ging ihr immer noch so.
    Das allerdings trat völlig in den Hintergrund, als Faustus auf sie aufmerksam wurde. Mit ihr sprach. Auf eine Art, die... die ihr Angst machte. Seiana saß da und starrte ihren Bruder an, und sie bekam Angst. Er wirkte so leblos, so als sei er furchtbar weit weg von ihr. Da spielte es schon gar keine Rolle mehr, dass er sich offenbar nicht zurückgehalten, nicht geschwiegen hatte... mehr noch: verstand sie das richtig, dass er den Kaiser erpresst hatte, um gehen zu können? Seiana schloss die Augen, versuchte ihre Gedanken zu sortieren und die Angst in den Griff zu bekommen. Ihre Finger schlossen sich fester um die Faustus'. „Mach dir keine Gedanken. Du bist wieder hier, wir beide sind hier, das ist alles was zählt“, wisperte sie.

    Der Senator wirkte ein wenig blass, als Seiana ihn begrüßte, aber das lag womöglich nur am beginnenden Herbst, der das Wetter schon recht kühl sein ließ. Ihr Blick glitt flüchtig über ihre Sklaven, die in Begleitung des Flavius gekommen waren, bevor sie den Senator wieder ansah. Sie bemühte sich um ein Lächeln, als er auf ihre Inhaftierung zu sprechen kam, etwas, woran sie lieber nicht dachte... wie sie eigentlich so ziemlich alle unangenehmen Erinnerungen gerne verdrängte, so lange sie sich nicht damit beschäftigen musste.
    Allerdings, immerhin eines sagten ihr seine Worte: ihre Hoffnung hatte sich erfüllt. Der Flavius fühlte sich ein wenig verantwortlich und hatte sich für sie einsetzen wollen... auch wenn Seiana für sich sowieso nichts erwartet hätte, sondern nur gehofft hatte, sein Wort könnte für Faustus etwas bewirken. „Hab Dank für deine Anteilnahme, Senator“, erwiderte sie, nur um im Anschluss an seine folgenden Worte zu versichern: „Es gibt keinen Grund sich zu entschuldigen. Im Gegenteil, ich muss mich bedanken, dass du dich einsetzen wolltest für mich. Derzeit ist es nicht unbedingt risikolos, sich offen auf die Seite meiner Familie zu stellen. Umso wichtiger sind diejenigen, die es dennoch tun.“ Diesmal gelang ihr das Lächeln schon ein bisschen besser. „Ich wurde verhältnismäßig gut untergebracht in der Castra, insofern kann ich mich sicher nicht beklagen. Die Eintönigkeit war mein größtes Problem dort.“ Was so nicht ganz zutraf, vor allem nicht für die Anfangszeit dort, aber das war nun nicht gerade das richtige Gesprächsthema.

    „Das ist das mindeste, was ich tun kann. Wie hoch war dein Monatslohn? Ich werde nachher gleich veranlassen, dass du ihn bekommst.“ Seiana wäre es fast lieber gewesen, wenn sie ihr auch etwas für die Schwierigkeiten hätte zahlen können, in die Celeste offenbar aufgrund eines Auftrags von Faustus geraten war. Aber nachdem sie gemeint hatte, dass das erledigt war, wollte Seiana auch nicht weiter nachbohren.


    Als es dann allerdings um Aquila ging, konnte Seiana sich ein leichtes Schmunzeln nicht verkneifen. „Er mit dir zufrieden?“ wiederholte sie, leicht amüsiert, und realisierte erst einen Augenblick später, dass das Gespräch sie tatsächlich abzulenken begann. „Er steht noch ganz am Anfang seiner Karriere, er absolviert gerade ein Tirocinium fori bei einem Senator. Er kann froh sein, für seinen ersten Wahlkampf schon eine persönliche Hilfe zu bekommen... Faustus war mit dir zufrieden, das ist alles, was ich wissen muss. Und er auch.“ Sie lehnte sich etwas zurück, erfreut, dass Celeste tatsächlich Interesse zeigte. Es war vielleicht etwas übertrieben, einem Jungspund wie Aquila schon eine Scriba zur Seite zu stellen... irgendwas sollte der Junge schließlich auch selbst machen. Aber was sie derzeit für die Familie tun konnte, war ohnehin schon wenig genug. Wenn sie so einfach einen Verwandten bei seinen ersten Schritten in der Politik unterstützen konnte und zugleich einer Bekannten ihres Bruders dadurch half... würde sie es tun. Selbst wenn es den Jungen etwas verwöhnte. „Nun, zunächst mal wird er Hilfe beim Wahlkampf brauchen können. Sollte er gewählt werden, stehen später die Verpflichtungen an, die ihn im Amt erwarten. Möglicherweise muss ihm ab und zu der Kopf zurecht gerückt werden, falls du dir das zutraust.“ Seiana war nicht entgangen, dass Aquila vor einigen Wochen ein paar Tage lang mit deutlichen Anzeichen einer Prügelei durchs Haus gegangen war. „Sein Name ist übrigens Marcus Aquila.“

    Unruhig war Seianas Schlaf gewesen, wie so häufig – nicht erst seit den Ereignissen der kürzesten Vergangenheit, sondern schon seit Jahren im Grunde, so dass sie es gar nicht mehr anders gewohnt war. Entsprechend hatten der Sklave keine Mühe gehabt, sie zu wecken... und trotzdem hatte sie ein, zwei Momente gebraucht, bis sie realisiert hatte, was er ihr sagen wollte. Ihr Bruder. Faustus. Er war hier. Er war nach Hause gekommen. Als sie das begriffen hatte, war sie aufgesprungen und eilte nun den Gang entlang, zu seinem Zimmer. Sie konnte es gar nicht wirklich glauben, und doch... warum sollte sie geweckt werden mit dieser Nachricht, wenn es nicht stimmte? Nur: sie wollte sich keine Hoffnung machen, die dann doch wieder enttäuscht wurde.


    Als sie Faustus' Räume dann aber erreichte, stellte sie fest, dass es tatsächlich stimmte. Er war wirklich hier... aber was zuerst zu einer Welle purer Erleichterung in ihr führte, wandelte sich schon im nächsten Moment in Entsetzen. Faustus sah noch schlimmer aus als sie es in Erinnerung hatte – was wohl auch daran liegen mochte, dass es Nacht gewesen war, als sie ihn besucht hatte in seiner Zelle, und es ihr selbst auch nicht gerade blendend gegangen war, obwohl sie freilich bei weitem nicht so lang wie er in den eigentlichen Kerkerzellen gewesen war. Es schockierte sie, ihn so zu sehen... Aber obwohl alles in ihr danach drängte, zu ihm zu gehen, sich zu ihm zu setzen und ihn in den Arm zu nehmen, blieb sie dennoch stehen. Ihr Onkel war schon da, sprach mit ihrem Bruder, und etwas in ihr zögerte einfach so dazwischen zu platzen. Was dann schließlich doch den Ausschlag gab, war das Tuch, das er um sein Handgelenk trug, und das sie erkannte, obwohl es schmutzig und abgerissen war inzwischen. Wortlos ging sie an Livianus vorbei und setzte sich neben ihren Bruder, ignorierte wie er aussah, ignorierte den Schmutz und den Geruch, den er verströmte, und nahm seine Hand, immer noch ohne etwas zu sagen. Sie wollte die Männer nicht unterbrechen, sie wollte sich nicht einmischen, und sie wollte auch nicht Faustus' Aufmerksamkeit auf sich lenken. Sie wollte einfach nur bei ihm sein.

    http://img261.imageshack.us/img261/6518/raghnall.png Einen Moment lang schwieg der flavische Senator auf Raghnalls Bericht hin, und der Gallier wartete geduldig, bis weitere Fragen kamen oder die Anweisung, fortzufahren. Zu seiner Überraschung schickte ihn der Flavier allerdings weg, ohne noch etwas wissen zu wollen – nicht einmal darüber, ob er etwas über die Flavier hatte in Erfahrung bringen können. Aber gut, Raghnall ging davon aus, dass er ihm das auch noch ein andermal erzählen konnte... oder dass seine eigenen Sklaven vielleicht schon mehr in Erfahrung gebracht hatten. Immerhin wussten die vermutlich besser als er, wo sie noch suchen könnten. Mit einem Nicken gehorchte Raghnall also und verließ das Officium.







    SKLAVE - DECIMA SEIANA

    Seiana zuckte nur hilflos die Achseln angesichts des Entsetzens, das in den Worten ihres Onkels durchklang. „Ja. Er, Varenus und ich. Faustus wurde in der Schlacht bei Vicetia verletzt und gefangen genommen... Varenus und mich haben sie festgesetzt, als Rom eingenommen wurde. Deshalb konnte ich in der vergangenen Zeit auch nichts mehr schreiben.“ Bis auf diesen einen Brief, den der Duccius Messalina übergeben hatte... von dem Seiana aber nicht wusste, ob er angekommen war, weder hier in der Casa noch in Hispania. „Nein. Mir hat er nur gesagt, er würde Bescheid geben, wenn er eine Entscheidung trifft... Ich weiß nicht, ob sie an ihm ein Exempel statuieren wollen, oder ob Cornelius sich gnädig zeigt. Es kommt wohl auch darauf an, wie Faustus in den Gesprächen reagiert.“ Was Seiana wenig Grund zur Hoffnung gab, nicht so, wie ihr Bruder sich verhalten hatte bei ihrem Gespräch im Carcer. Aber er war krank gewesen... wenn es ihm vielleicht etwas besser ging inzwischen... Sie zwang sich an etwas anderes zu denken. Sie wollte sich nicht Hoffnungen machen, die dann enttäuscht wurden – und es brachte auch nichts, sich das Schlimmste auszumalen. Sie konnten einfach nichts anderes tun als abzuwarten, so schlimm das auch war. Außer vielleicht... „Hast du alte Kontakte, die du spielen lassen kannst? Jemanden, der Cornelius nahe steht, der ein gutes Wort einlegen könnte – jemanden, dessen Wort auch heute noch Gewicht hat?“ Die die sie kannte, hatte sie schon eingesetzt: der Duccius vor allem, und der Flavius, wenn dieser sich tatsächlich dazu verpflichtet fühlte, sich zu revanchieren. Sonst fiel ihr keiner ein, den sie gut genug kannte oder der ihr noch einen Gefallen schuldig war, der dem neuen Kaiser nahe genug stand, dass er auch etwas bewirken könnte.

    Seiana konnte ein erleichtertes Aufatmen nicht unterdrücken, als ihr Onkel sagte, dass er vorhatte zu bleiben. „Das ist gut zu hören“, antwortete sie mit einem schwachen Lächeln. Es fiel ihr schwer, ihre Gefühle auszudrücken – auch ihrem Onkel gegenüber... und sie wollte auch nicht schwach wirken. Trotzdem war ihr ihre Erleichterung wohl anzumerken. „Wir stehen nicht allzu gut da im Moment. Die Familie braucht dich.“ Was so nüchtern klang aus ihrem Mund, begann gar nicht erst zu beschreiben, wie sehr sie Livianus' Anwesenheit hier brauchen konnten. Nicht nur aus gesellschaftlicher Sicht, um die Decimer wieder auf die Beine zu bringen... sondern auch in ganz persönlich, was die Familie betraf.


    Dann fragte Livianus nach ihrem Bruder... und das Lächeln verschwand von Seianas Gesicht. „Ich weiß es nicht“, erwiderte sie leise. „Er ist im Carcer, genau wie ich bis vor kurzem. Ich weiß nicht, was mit ihm passieren wird.“* Seiana biss sich auf die Unterlippe, und wie jedes Mal, wenn es um Faustus und sein mögliches Schicksal ging, musste sie sich zusammenreißen, um nicht die Fassung zu verlieren. Ausgerechnet mit Livianus darüber zu reden, ihm sagen zu müssen, dass sein Adoptivsohn im Carcer war und sein Schicksal noch ungeklärt, machte es noch mal schwieriger. „Ich... konnte ihn einmal dort besuchen. Es ging ihm nicht gut, aber er war immerhin am Leben.“



    Sim-Off:

    *Nachdem die Zeitschienen da etwas durcheinander geraten sind, schlag ich vor wir machen das so... dann ist die Ankunft Serapios in der kommenden Nacht jetzt. Ist glaub ich die beste Lösung :)

    Sie fühlte sich trotzdem irgendwie schuldig, auch wenn sie seine Worte hörte, auch wenn sie wusste, dass er Recht hatte. Keiner von ihnen war Schuld... und trotzdem waren sie es irgendwie. Sie hätten gar nicht erst anfangen dürfen etwas füreinander zu empfinden, hätten damals, in den Albaner Bergen, einfach die Finger voneinander lassen sollen... dann wären sie jetzt nicht in dieser Lage. Trotzdem wollte sie auch im Nachhinein nichts davon missen, und trotzdem gab es da einen Teil in ihr, der sich freute, über seine Sorge, darüber, dass er das Mädchen als seine Tochter sah, und dass er sich kümmern wollte – auch wenn es das ungleich schwieriger machte für sie alle.
    Wir sind gar nichts, dachte sie dann, unwillkürlich, als Seneca weiter sprach. Sie sagte es nicht laut, weil es ihnen beiden wohl nur weh getan hätte, aber es stimmte irgendwie. Wenn man sie gemeinsam betrachtete – was waren sie denn schon? Es gab ja nicht einmal wirklich ein wir für sie. Und sie war mal wieder ratlos, was sie sagen sollte. Sie konnte ihm noch nicht einmal versichern, dass er sie nicht verlieren würde, weil das nur leere Worte gewesen wären. So gern sie ihm das gesagt hätte, sie wusste einfach nicht, was kommen würde. Also strich sie nur weiter durch seine Haare.
    Dass er ihr gestand selbst in Vicetia an sie gedacht zu haben, machte es nicht einfacher... was sollte denn aus ihnen werden? Sie konnten nicht zusammen sein, aber sie konnten auch nicht voneinander lassen, wie es schien. Trotzdem rührte es Seiana zutiefst, als er ihr das sagte. „Du auch“, antwortete sie leise. Sie kam nicht umhin sich zu denken, dass es vielleicht besser wäre nichts zu sagen, nicht noch zu bestärken, wofür sie keine Lösung sah, aber sie wollte, dass er es wusste. Er war immer da gewesen, und das nicht nur weil sie schwanger gewesen war und damit eine ständige Erinnerung an ihn gehabt hatte. Und es war auch nicht nur die Angst gewesen, die sie gespürt hatte, um ihn und um ihren Bruder. „Es lässt sich nicht ändern“, murmelte sie dann, als er noch mal auf Faustus zu sprechen kam, löste sich von ihm und setzte sich wieder hin. „Es... So ein Posten kommt nicht nur mit Macht.“ Seiana seufzte lautlos. „Wie lange hast du überhaupt Zeit?“

    Im Tablinum angekommen, wurde Flavius Gracchus von dem Sklaven eine Erfrischung angeboten. Seiana indes brauchte nicht lange, bis sie ebenfalls kam. Einen Senator warten zu lassen wäre ihr kaum eingefallen, schon gar nicht diesen. „Salve, Senator Flavius“, grüßte sie ihn, als sie eintrat. „Es freut mich zu sehen, dass du wohlauf bist.“

    Zitat

    Original von Manius Flavius Gracchus
    Durch die vescularische Herrschaft hindurch hatten die Sänftenträger der flavischen Familie ein durchaus angenehmes Dasein gefristet, doch mit der Rückkehr des Lebens in die Villa Flavia folgte schlussendlich auch für sie die Rückkehr zu mühevoller Normalität. Vier von ihnen trugen an diesem Tage eine schmucklose Sänfte, welche nur durch die erlesene Auswahl ihrer Materialien aus der Masse der zahllosen Sänften Roms mochte hervorstechen, über das Pflaster der Stadt, den Quirinal hinab zum Forum Romanum und von dort wieder ein Stück hinauf auf den Caelius Mons bis vor die Porta der Casa Decima hin. Geleitet wurden sie durch den flavischen Vilicus Sciurus, sowie zwei Sklaven der Decima, Raghnall und Álvaro, welche die zurückliegenden Wochen in der Villa Flavia hatten verbracht, nun in ihr eigenes Heim würden zurückkehren.
    "Salve", grüßte Sciurus den Ianitor der Decima pflichtgemäß. "Mein Herr, Senator Flavius Gracchus, lässt anfragen, ob Decima Seiana im Augenblick anwesend und geneigt ist, ihn zu empfangen."


    http://img16.imageshack.us/img16/1551/ephialtesianitor.jpg






    Ephialtes
    Wie üblich war es Ephialtes, der die Tür öffnete – und ein klein wenig überrascht war, als er die Sklaven von Decima Seiana in Begleitung des Gastes sah. Erfahren genug als Ianitor war er allerdings, um sich davon nichts anmerken zu lassen. „Salve“, grüßte er stattdessen höflich zurück. „Sie ist zu Hause und wird sicherlich Zeit haben, deinen Herrn zu empfangen. Wenn er mir bitte folgen würde?“ Mit diesen Worten hielt Ephialtes die Tür auf, um den Gast hinein zu lassen. Ein Sklave würde ihn ins Tablinum bringen, ein weiterer lief los, um die Decima zu holen.





    IANITOR - GENS DECIMA

    Celeste schien einiges erlebt zu haben, gerade für eine Scriba. In der Wüste abgedriftet, um von dort dann fliehen zu müssen? Seiana konnte sich nicht wirklich etwas darunter vorstellen, außer dass es Celeste wohl übel erwischt haben musste dort... „Du bist in Schwierigkeiten geraten, als du einen Auftrag für meinen Bruder erfüllt hast?“ fragte sie nach. „Du wirst natürlich eine Entschädigung dafür bekommen. Hast du in der vergangenen Zeit überhaupt einen Lohn erhalten?“ Es war das mindeste, was sie tun konnte. Wenn sie schon ihrem Bruder nicht helfen konnte, dann wenigstens denen, die ihm in irgendeiner Form nahe standen – selbst wenn Celeste nur seine Scriba gewesen wäre, hätte Seiana das getan, aber sie war mehr, musste mehr sein. Seiana glaubte kaum, dass Faustus einfach irgendwen als Alibi-Freundin ausgesucht und der Familie präsentiert hätte.


    „Nun“, erwiderte sie dann, als Celeste nach der möglichen Arbeit fragte, „ein junger Verwandter von mir plant, in die Politik einzusteigen. Natürlich kann er auf die Sklaven des Hauses zurückgreifen, wenn er Unterstützung braucht, aber er wird sicher nicht nein sagen, wenn er eine persönliche Scriba haben könnte. Und ihm würde es noch mal mehr Zeit verschaffen, sich auf seine Karriere zu konzentrieren, wenn er nicht wechselnde Hilfen hat.“

    Seltsamerweise konnte Seiana mit Senecas Entschuldigung auch nicht viel anfangen. Es war so... schwierig... das Richtige zu sagen... und einmal hinter ihrer Maske, fiel es ihr nur umso schwerer, wieder hervor zu kommen. Sie sehnte sich danach, über ihren Bruder zu sprechen, ihre Furcht ihn zu verlieren, und zugleich hatte sie wahnsinnige Angst davor, es auszusprechen – und Angst davor zusammenzubrechen, wenn sie diese Gedanken wirklich zuließ. So sehr sie sich Seneca auch anvertrauen wollte, sie brachte es in diesem Moment nicht über sich, sich wirklich zu öffnen. Brachte es nicht über sich, zu reden, nicht davon wie es in ihr wirklich aussah, nicht davon was sie von seiner Reaktion hielt, oder seiner Entschuldigung. „Ist schon in Ordnung“, murmelte sie nur, immer noch ohne ihn anzusehen. „Ich weiß, wie du es gemeint hast.“ Wusste sie eigentlich nicht... aber es kam ihr zumindest so vor als wäre es richtig das zu sagen, vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass sie sich nicht in der Lage fühlte wirklich zu reden.


    Als Seneca ihr zustimmte, stand Seiana rasch auf, so rasch, dass es beinahe einer Flucht gleich kam. Sie öffnete die Tür und bedeutete der Amme, die draußen wartete, das Kind zu holen, wartete, bis sie es getan hatte, und warf sogar einen flüchtigen Blick auf das Mädchen... und wusste immer noch nicht, was sie empfinden sollte. Sie konnte nicht ewig davor fliehen, das wusste sie, nicht jetzt, wo der Beschluss feststand, dass das Mädchen in ihrer Nähe bleiben würde und sie sich kümmern würde – musste. Aber sie war froh darum, noch einen Aufschub bekommen zu haben.
    Als die Amme wieder gegangen war und Seiana die Tür geschlossen hatte, sah sie Seneca endlich wieder an, der ihren Blick nun erwiderte. Sie näherte sich ihm wieder, langsam, ließ zu dass er nach ihrer Hand griff, und als er von den Bergen sprach, davon allein zu sein... Seiana musste schlucken, und mit einem weiteren Schritt war sie bei ihm, stellte sich neben ihn und zog ihn an sich. Sie neigte ihren Kopf, bis ihre Wange an seinen Haaren lag, und nickte leicht, auch wenn er das nicht sehen konnte. „Ich auch. Einfach allein sein, nur du und ich...“ In den Albaner Bergen. Seiana kämpfte dagegen an, dass es ihr plötzlich die Kehle zuschnürte. „Es tut mir so leid... wie alles gelaufen ist.“

    Seiana schwieg zunächst, als Celeste anfing zu reden und sie mit Fragen überhäufte, versuchte zu sortieren, was sie zu hören bekam. Celeste schien wenig von dem zu wissen, was hier passiert war... oder aber sie tat so, um mehr zu erfahren, was allerdings selbst für Seiana, die chronisch an leichter Paranoia litt, ein wenig unsinnig zu sein schien. Es war ja nichts, was nicht leicht herauszufinden wäre, und nichts, was gerade Celeste als Scriba ihres Bruders nicht ohnehin wissen sollte. Seiana wunderte es höchstens ein wenig, dass sie tatsächlich so schlecht informiert war, aber wenn sie erst seit kurzem in Rom war... der Informationsfluss in andere Provinzen war während des Bürgerkriegs denkbar schlecht gewesen, insofern war es verständlich, dass sie nur wenig wusste. „Er ist von Vescularius zum Praefectus Praetorio befördert worden. Die Garde zog in den Krieg, er wurde gefangen genommen. Eine Entscheidung über sein Schicksal steht noch aus.“ Seiana bemühte sich um einen neutralen Tonfall. „Allgemein steht unsere Familie nicht allzu gut da im Moment, aber wir... arbeiten daran, dass es wieder aufwärts geht.“ So viel zunächst mal dazu. Seiana atmete leise, aber tief ein, während sie sich auf das hier und jetzt konzentrierte. Es brachte nicht viel, in Gedanken zu ihrem Bruder abzudriften, wie es ihm wohl gerade gehen mochte, oder was wohl mit ihm passieren würde. „Einiges hat Faustus mir überschrieben, um andere Dinge, gerade um seine Betriebe, kümmert sich sein Leibsklave“, erklärte Seiana. Sie wusste zwar nicht, was Faustus mit Celeste ausgemacht hatte, warum sie nicht mit ihm zusammen oder kurz nach ihm nach Rom gekommen war und wann genau offenbar der Kontakt so abgerissen war, dass Ravdushara Celestes Aufgaben übernommen hatte, aber im Grunde spielte das keine Rolle. Sie war in Faustus' Diensten gewesen, hatte ihm darüber hinaus geholfen, und solange Faustus sich nicht selbst um diese Angelegenheit kümmern konnte, war es Seianas Aufgabe das zu tun. „Du kannst gerne Ravdushara dabei zur Hand gehen, ich weiß nur nicht, ob die Arbeit ausreicht für zwei. Falls nicht, hätte ich sicherlich andere Arbeit für dich, bis Faustus...“ Schicksal entschieden ist. Seiana stockte. Es fiel ihr schwer, das auszusprechen, aber es brachte auch wenig so zu tun, als wäre er einfach nur verreist. „Bis wir wissen, was mit ihm geschieht.“

    http://img853.imageshack.us/img853/2552/rheavilica.jpg Rhea blieb im Hintergrund stehen, während der Dominus mit dem Opfer begann. Sie starrte auf den glimmenden Weihrauch und schloss sich den Worten des Decimus an – stumm, aber dafür umso inbrünstiger bat sie darum, dass die Ahnen der Familie über sie wachen würden.


    Sie wartete, immer noch stumm, als das Opfer beendet war, wartete bis Dexter sich ihr zuwandte und sie ansah. Sie war sich nicht ganz sicher, was sie in seinem Blick sah... aber es war nicht der Blick eines selbstbewussten Hausherrn, der genau wusste, was er als nächstes zu tun hatte. Erneut wurde Rhea bewusst, dass es im Moment niemanden gab, zu dem sie aufsehen könnte, dass sie diejenige war, die Halt geben musste. Von dem Decimus konnte sie das nicht erwarten, er war zu jung und unerfahren... und auch wenn sie wohl jung war, sie hatte ihre Position in diesem Haushalt nicht umsonst erhalten, und sie musste ihr gerecht werden, auch wenn sie sich selbst nicht so sicher war, auch wenn sie gerne einen Herrn gehabt hätte, der wusste was zu tun war. So allerdings nickte sie dem Dominus zu und lächelte leicht, bevor sie zur Seite trat und ihn an ihr vorüber gehen ließ. Für heute waren sie wohl fertig, viel mehr konnten sie nicht tun... außer stetig weiter die Aufräumarbeiten zu überwachen.





    VILICA - GENS DECIMA

    Livianus wirkte zunächst erfreut sie zu sehen... dann veränderte sich die Stimmung. Seiana spürte es mehr, obwohl sie sehen konnte, wie das Lächeln ihres Onkels erlosch, wie seine Miene ernst wurde. Für einen Moment fürchtete sie fast, dass bereits jetzt Vorwürfe kommen würden, wie sie es hatte so weit kommen lassen können, wie sie alle es so weit hat kommen lassen können, und sie wappnete sich dafür – war aber in keinster Weise gewappnet für das, was tatsächlich kam. Ein, zwei Augenblicke lang standen sie einfach schweigend da und sahen sich an, dann kam Livianus auf sie zu und schloss sie in seine Arme. Und überrumpelte Seiana damit so völlig, so total, dass sie überhaupt nicht mehr wusste was sie tun sollte. Sie stand erst mal einfach, war halb erstarrt, ließ sich umarmen... dann, nach und nach, realisierte sie es, die Berührung, die Wärme, die Umarmung ihres Onkels. All das signalisierte eine Form von Geborgenheit, die sie so lang nicht mehr gespürt hatte, und auch jetzt wehrte sich ein Teil von ihr dagegen, hatte Angst sich darauf einzulassen, weil es doch nicht von Dauer war, weil es nie von Dauer war, und weil sie ohnehin nicht mehr alles abgeben konnte an Verantwortung, was sie inzwischen übernommen hatte – und weil sie es schlicht und ergreifend nicht mehr gewohnt war, loszulassen.


    Trotzdem hob sie die Arme und erwiderte schließlich die Umarmung, ein wenig hölzern zuerst, dann zwar immer noch sacht, aber ehrlich. Zu viel war passiert, zu viel hatte sie erlebt in den vergangenen Monaten. Sie hatte ihre Grenzen erreicht, sie konnte und wollte nicht mehr... und auch wenn das hier wohl nur eine Täuschung war, auch wenn sie nicht mehr zurück konnte zu jener Zeit, als es noch so einfach gewesen war anderen die Verantwortung zu überlassen und einfach darauf zu vertrauen, dass alles seinen Gang gehen würde, konnte ihr doch keiner diesen Augenblick nehmen. Und Livianus hatte sich immer schon um ihre Familie gekümmert, ihre Mutter, ihre Brüder und sie, seit ihr Vater gefallen war. Sie lehnte ihren Kopf an die Brust ihres Onkels, mit geschlossenen Augen, und stand einfach da, genoss wenigstens für diesen einen Moment die Illusion, sie könnte alles einfach abgeben, wegschieben, die ganze Verantwortung, alles was passiert war. „Ich bin so froh dass du hier bist“, erwiderte sie leise. Nicht alles war Täuschung, rief sie sich in Erinnerung. Sie konnte Verantwortung abgeben, einen Teil davon. Sie konnte nicht über alles reden oder alles wegschieben, aber wenn Livianus blieb, dann... Seiana löste sich ein wenig, genug, dass sie ihn ansehen konnte. „Wie lange wirst du bleiben?“ fragte sie, und hoffte dabei inständig er würde antworten, dass er nicht vorhatte Rom schnell wieder den Rücken zu kehren.