Beiträge von Decima Seiana

    Der letzte, den der Veteran aufsuchte, war Casca, und auch bei ihm folgte das gleiche Spiel: heftig klopfen, Tür aufreißen bevor auch nur der Hauch einer Chance bestand zu antworten, und einen kurzen Satz hinein werfen, bevor er wieder verschwand: „Die Rebellen sind da und wollen alle im Atrium sehen.“

    Weiter ging es zu Dexters Zimmer... nur um dort festzustellen, dass es verlassen war, und auch bei seiner weiteren Suche durch das Haus konnte er den Jungen nicht auftreiben – erfuhr allerdings immerhin von einem Sklaven, dass er vor einiger Zeit das Haus verlassen hatte und wohl noch unterwegs war.

    Er begleitete die Soldaten ins Atrium, wo ein paar weitere seiner Männer warteten, die sich allerdings deutlich im Hintergrund hielten. „Cossus Lucretius Celsus“, antwortete er auf die implizite Frage nach seinem Namen und gab dann seinen Leuten einen Wink, woraufhin einer von ihnen sich löste und verschwand. „Ich verlasse mich darauf, Centurio...“ Auch wenn er durchaus gehört hatte, dass der Mann niemand und nicht nichts gesagt hatte, gab es ohnehin nicht viel, was er tun konnte. „Die Bediensteten auch?“

    Ein kurzes Zögern... dann gab der Mann den Weg frei. Vielleicht wäre es ihnen sogar gelungen, diese Abordnung hier aufzuhalten, aber wenn diese scheiterte, würde kurze Zeit später die nächste vor der Tür stehen... mit mehr Männern. Die Tatsache musste ihm nicht gefallen, um sie dennoch anerkennen zu können und nichts Blödsinniges zu unternehmen. Er machte sogar so etwas wie eine einladende Geste ins Innere des Hauses und hielt dem Centurio die Tür auf. „Was möchtest du?“ fragte er, noch während er den Mann eintreten ließ. „Ich denke wir können das hier schneller und für alle Beteiligten zufriedenstellender über die Bühne bringen, wenn du mir sagst, was du hier zu finden suchst.“

    Seianas Lippen verzogen sich unwillkürlich zu einem leichten Lächeln, als er zustimmte, war sie sich doch nicht ganz so sicher gewesen, ob er ihre Gesellschaft nicht vielleicht doch ablehnte. Sie war gerade erst wieder eingezogen hier, wirklich zu Hause fühlte sie sich noch nicht... und es hätte ja auch sein können, dass er sich unter einem Vorwand zurückzog. Aber er blieb, und nach einem Moment des Zögerns wandte auch er sich dem Tisch zu, dem, woran er gerade gearbeitet, was er rezitiert hatte, als sie herein gekommen war. Was hatte er zuvor gesagt? Gönnt Rettung; beiden. Seianas Brust hob sich in einem lautlosen Seufzen und nickte leicht. „Nicht mehr sonderlich gut. Ich habe es vor Jahren einmal gesehen“, antwortete sie. Auch wenn sie gern las, hatte sie doch in den vergangenen Jahren viel zu wenig Zeit und Muse gehabt, sich damit zu beschäftigen... und genauso wenig, sich Theateraufführungen anzusehen.


    Sie lehnte sich an das Kopfstück eines der Regale, während Aton... der Senator... Aton wieder zu ihr sah und erneut zu sprechen begann, zu rezitieren, ihr von dem Stück vortrug, mit dem er sich vorhin noch beschäftigt hatte, und ließ sich vom Klang seiner Stimme umschmeicheln, von den Worten, die er aussprach. Seine Stimme wirkte anders... er wirkte anders, so. Sicherer? Sie konnte es nicht genau sagen. Aber er hatte eine angenehme Stimme, und er trug diesen einen Satz, den er aussprach, in einer Art vor, die berührte, die ihn eingängig machte für Zuhörer und sie mitzog. Fast war sie ein wenig traurig darüber, dass es bei diesem einen Satz blieb und er nicht fortfuhr. Ihr eigentlicher Bibliothekar hatte es nicht so mit dem Vortragen, und auch sonst fiel ihr auf Anhieb niemand in der Casa Decima ein, dessen Stimme wirklich dazu geeignet war, ganz zu schweigen davon, dass eine passende Stimme bei weitem noch nicht alles war... vielleicht sollte sie sich mal einen Sklaven anschaffen, nur dafür, ihr vorzutragen.
    „Ja...“ antwortete sie leise, und nun musste sie unwillkürlich an ihre Situation denken. Wer war es, der die Zeichen der Zeit nicht erkannte? Vescularius? Cornelius und seine Unterstützer? Oder war es nicht im Grunde Ulpianus gewesen, der zu krank, zu schwach oder zu lustlos gewesen war, um die Zeichen zu deuten für das Unwetter, das sich über dem Rom unter Vescularius zusammengebraut hatte? „Man sollte meinen, dass die Staatsmänner im Verlauf der Jahrhunderte sich manche Ratschläge zu Herzen genommen hätten. Und dennoch scheitern sie bis heute... und führen das Reich bis in Bürgerkriege hinein.“ Der Zug um ihre Lippen verhärtete sich ein wenig, und sie trat ein wenig zum Schreibtisch vor und nahm die Abschrift zur Hand, blätterte vor, suchte nach einer Stelle, bis sie sie fand. Doch statt des einen büßten alle seinen Haß. Und was lernen wir daraus? Dass der Mensch nichts aus seinen Fehlern lernt. Oder jedenfalls nicht der Staatenlenker aus denen seiner Vorgänger.“

    Kaum dass es geklopft hatte, öffnete sich die Tür, und in Erscheinung trat ein kräftiger, wenn auch älterer Mann, dem anzusehen war, dass er ein Veteran war – der allerdings keine Aggressivität ausstrahlte, sondern vielmehr Ruhe. „Salve, Centurio.“ Auch die Stimme klang ruhig, fast schon gelassen... alles, um zu zeigen, dass hier keine Schwierigkeiten zu erwarten waren – es also keinen Grund gab, Knüppel oder Messer zu ziehen und zum Einsatz kommen zu lassen, nur um sich Zutritt zu dem Haus zu verschaffen. „Wie kann ich dir helfen?“

    Die Nachricht vom Öffnen der Stadttore war auch zur Casa Decima vorgedrungen, und entsprechend alarmiert war man im Inneren des Hauses. Es waren einige Veteranen anwesend, Klienten der decimischen Senatoren und ehemaligen Legaten, die schon vor Tagen, genauer: seit Beginn der Belagerung Stellung bezogen hatten und gerufen worden waren, um Haus und Bewohner zu schützen – mit genauen Anweisungen vor wem oder was. Plünderern aus der Bevölkerung, die die Gunst der Stunde nutzen wollten, die Verwirrung und das Chaos, wenn Rom eingenommen wurde – diesen sollte Einhalt geboten werden. Gegen Soldaten der Rebellenarmee allerdings, die vor der Tür standen, wäre ein derartiges Vorhaben hoffnungslos, das war allen Beteiligten klar. Wenn diese kommen sollten, blieb nichts anderes als zu hoffen, dass sie sich zurückhalten würden. Decima Seiana hatte zwar schon nach der Nachricht von der verlorenen Schlacht um Vicetia dafür gesorgt, dass wichtige Unterlagen und die wertvollsten Dinge aus dem Haus fortgeschafft und in Sicherheit gebracht worden waren – so würden sich im Haus nun keine größeren Beträge an Münzen mehr finden, auch Schmuck und ähnliche Gegenstände, die sehr wertvoll und leicht zu transportieren waren, waren nicht mehr da –, aber natürlich hatte man bei weitem nicht alles fortschaffen können, und so war lediglich eine Auswahl getroffen worden, um das wertvollste in Sicherheit zu bringen... was noch einiges übrig ließ. Vom Verwüstungspotential gar nicht zu reden.
    Für den Fall also, dass Rom fiel und feindliche Streitkräfte vor der Tür standen, lautete die Order der Veteranen: für die Sicherheit der Bewohner sorgen, wenn irgend möglich mäßigend einwirken auf die Männer, die ja doch irgendwie so etwas wie Kameraden waren, und sie im Übrigen gewähren lassen. Kein Widerstand. Nichts, was zusätzliche Zerstörung provozieren könnte.


    Als es dann tatsächlich so weit war, hatten sich die Veteranen ins Haus zurückgezogen, die Bewohner, die noch übrig waren, informiert, die Tür, die in den vergangenen Tagen deutlich verstärkt worden war, geschlossen. Und darauf gehofft, dass die Privathäuser einfach in Frieden gelassen wurden. Als sich dann allerdings eine Abordnung von Soldaten näherte, schwand die Hoffnung, dass sie einfach nicht beachtet werden würden... allerdings öffnete die Tür sich noch nicht von selbst. Es war immer noch möglich, dass sie weiter zogen, man musste ja nicht von selbst auf sich aufmerksam machen – also wurde gewartet, bis sie tatsächlich zur Tür kamen und klopften. Oder sonstwie darauf aufmerksam machten, dass sie herein wollten... aber auch wenn sie eine andere Variante als Anklopfen wählen sollten, um Einlass zu bekommen, würde die Tür sich beim ersten Anzeichen öffnen, in der Hoffnung, eine Zerstörung zu vermeiden.

    Tage vergingen. Einer, zwei, drei, Seiana achtete nicht wirklich darauf. Sie fühlte sich unglaublich erschöpft – mehr noch, sie fühlte sich hohl. Ausgebrannt. Da war eine Leere in ihr, gegen die sie nichts tun konnte... und auch gar nicht wollte. Es war besser als die Angst, von der sie wusste dass sie irgendwo darunter lauerte, jedes Mal, wenn sie an Faustus dachte, oder an Seneca. Die ersten Tage lag sie noch im Bett, ließ die weiteren Besuche der Hebamme über sich ergehen, die kam um nach dem Rechten zu sehen, ließ ihre Tiraden über sich ergehen, dass sie teilweise selbst schuld war daran, wie erschöpft sie nun war, dass sie sich doch hätte vorbereiten sollen, dass alles sonst in Ordnung war und noch viel besser sein könnte... nach den ersten Tagen bemühte sie sich immerhin, regelmäßig aufzustehen, sich hinzusetzen, auch wenn sie keine rechte Lust darauf verspürte, und nicht einmal so sicher wusste wieso sie das machen sollte.


    Raghnall berichtete ihr in der Zeit regelmäßig, davon, dass die Rebellen näher kamen, davon, dass sie Rom erreicht hatten und die Stadt belagerten, davon, was in der Stadt passierte... aber er konnte nichts erzählen über die Prätorianer. Nichts über ihren Bruder. Erst recht nichts über ihren Geliebten. Dafür berichtete er davon, wie es dem Kind ging – etwas, was Seiana, wie sie feststellte, eigentlich gar nicht so wirklich hören wollte, was sie aber natürlich nicht sagte. Sie hörte auch heraus, dass Raghnall versuchte in Erfahrung zu bringen, ob sie das Kind sehen wollte... er fragte nie direkt danach, aber sie konnte es hören, in seinen Worten, wenn er davon erzählte, dass es wieder einen Tag überlebt hatte, dass es sich sogar recht gut machte dafür, dass es so klein war, und zu früh geboren, dass es einen ziemlichen Lebenswillen hatte, der ihm gefiel. Er erzählte jeden Tag von dem Kind, unaufgefordert, ungefragt. Und Seiana reagierte jeden Tag gleich: nie. Nicht bei diesem Thema. Sie fragte nicht nach, sie erwiderte kein Wort, sie ließ ihn einfach reden. Sie wusste immer noch nicht so recht, was sie mit der Tatsache anfangen sollte, dass sie ein Kind geboren hatte... sie wusste ja ohnehin schon nicht viel mit Kindern anzufangen, aber das hier, das war noch dazu eines, das kein eheliches war, und das niemals ihres würde sein können. Sie wusste einfach nicht, wie sie da reagieren sollte. Es war noch nicht einmal so, dass ihr der Gedanke kam, dass es vielleicht das Beste so war, wenn sie das Kind einfach gar nicht sah, weil es dann leichter sein würde... nein. Sie war einfach leer. Sie fühlte sich kaum imstande, irgendwas zu empfinden, geschweige denn sich darüber klar zu werden, was sie wohl für dieses Kind empfand, oder was sie im Hinblick darauf tun sollte. Einem Teil von ihr war durchaus bewusst, dass sie eine Verantwortung für dieses Kind hatte, und dass es deswegen wichtig war zu wissen, wie es ihm ging – und es wohl auch wichtig wäre sich davon mit eigenen Augen zu überzeugen, so lange sie noch konnte. Aber auch das drang nicht wirklich zu ihr vor, und so lag oder saß sie nur da, wenn Raghnall berichtete, und hörte ihm einfach nur zu, ohne zu reagieren.


    Eines Tages änderte sich das allerdings... und wieder war es Raghnall, der schuld war. Als er wie üblich hereinkam, sah sie nicht einmal wirklich auf. Sie saß einfach weiterhin da und starrte auf ihre Hände, die in ihrem Schoß lagen, weil es sonst nichts zum Ansehen gab... auch wenn ihre Hände ein Schriftstück hielten, das sie hätte lesen können, aber sie brachte nicht so recht die Energie auf, die nötig gewesen wäre dafür. Und sie wusste nicht, wieso nun die Energie hätte aufbringen sollen, um Raghnall anzusehen, der doch nur so aussehen würde wie immer, mit einem angedeutet fröhlichen Gesichtsausdruck, der doch etwas gezwungen wirkte, und dem schwachen Glanz von Sorge in den Augen. Sie wartete einfach darauf, dass er sich zu ihr setzte und zu erzählen begann... aber etwas war anders. Sie hörte es, noch bevor Raghnall in ihr Blickfeld trat – er machte seltsame Geräusche, irgendwie, ein leises Quengeln war zu hören, eigentlich viel zu hoch und viel zu schwach für einen Mann. Erst nach einigen weiteren Momenten begriff sie, was das bedeutete – und jetzt schnellte ihr Kopf nach oben, suchte ihr Blick nach ihm, der mittlerweile nahe gekommen war und im Begriff war sich zu setzen. Mit dem Kind. Seianas Blick saugte sich fest an dem kleinen Bündel Mensch, wie es in Raghnalls Arm lag, eingewickelt in Tüchter, sich ein wenig bewegend, die Arme streckend, blinzelnd auf eine Art, die Seiana irgendwie denken ließ, dass es noch nicht so wirklich etwas wahrnehmen konnte von dem, was es sah. Es war zu viel. Irgendetwas in ihr machte dicht, konnte gar nicht damit umgehen, das Kind, ihr Kind, hier jetzt einfach so und völlig überraschend zu sehen.


    http://img261.imageshack.us/img261/6518/raghnall.png „Was... was soll das?“ fragte sie schließlich mit brüchiger Stimme, nach endlosen Momenten des Schweigens, das auch von Raghnall nicht gebrochen worden war... nur hin und wieder von einem weiteren leisen... Quengeln, so kam es ihr jedenfalls vor, auch wenn sie nicht wusste ob es das war, das von dem Kind kam.
    „Was“, fragte Raghnall unschuldig nach, und Seiana brachte tatsächlich sogar die Energie auf, ihn wütend anzufunkeln. „Du weißt, was ich meine. Ich habe dir nicht gesagt, dass du es herbringen sollst!“
    Noch ein Quengeln, diesmal etwas lauter, als ihre Stimme lauter geworden war. Von Raghnalls Gesicht unterdessen verschwand nun das leichte Lächeln. Sie, antwortete er betont. „Sie. Und sie braucht einen Namen.“
    Seiana drehte ihren Kopf zur Seite, wich aus, seinem Blick und dem Anblick des Kindes. „Nicht vor dem achten Tag“, murmelte sie.
    „Es ist der achte Tag, Seiana“, antwortete Raghnall sanft – ein Tonfall, den sie so gut wie nie von ihm hörte. Allerdings achtete sie darauf im Moment gar nicht. Ihr Kopf ruckte wieder herum, und fast schon entgeistert starrte sie ihn an. Der achte Tag? Die Geburt war schon acht Tage her? Sicher, sie... sie hatte sich etwas hängen lassen, hatte keine Energie gehabt, sich kraftlos gefühlt, leer, ausgelaugt, aber dass so viel Zeit vergangen war... acht Tage... das schockierte sie beinahe. Sie starrte Raghnall an, dann das Kind, dann wieder den Sklaven, und wieder das Kind... sie neigte sich ein wenig nach vorne, und machte eine Bewegung, streckte die Hand aus, immer weiter, bis sie fast, beinahe, das Kind berührte... Aber sie hielt inne, bevor sie die zarte Haut wirklich ertasten konnte, hielt inne, bevor sie ihre Tochter hätte spüren, hätte streicheln können. Sie war sich so unsicher. Unsicher über sich selbst, unsicher darüber, ob sie das Kind überhaupt berühren wollte, ob es richtig war, ob sie das ertrug, mit dieser Leere in sich.
    Sie wollte die Hand gerade schon wieder wegziehen... da machte Raghnall eine leichte Aufwärtsbewegung mit seinen Armen und sorgte so dafür, dass ihre Finger ihr Kind berührten. Seiana erstarrte von einem Moment auf den anderen. Sie hörte sogar auf zu atmen... sah nur auf das Kind hinunter, und auf ihre Finger, die es berührten, ohne sich zu bewegen. Einen Moment. Zwei. Drei. Dann bewegten sich ihre Finger doch, strichen sacht über die so zarte, junge Haut... und zogen sich schließlich ruckartig zurück, als hätte sie sich verbrannt. Sie drehte ihren Kopf wieder zur Seite. „Bring es weg.“
    „Sie“, beharrte Raghnall.
    „Meinetwegen, dann bring sie weg!“ Sie wollte ihn wieder anfauchen, aber nicht einmal das brachte sie fertig. Stattdessen konnte sie selbst hören, dass ihre Stimme zu zittern begann.
    „Was ist mit ihrem Na-“
    „Bring. Es. Einfach. Weg!“ Sie konnte das nicht. Nicht jetzt. Nicht so. Das war so... so falsch, alles daran, dass sie das Kind so geboren hatte, dass sein Vater nicht hier war, dass er es nicht als seines annehmen konnte, dass er ihm keinen Namen geben konnte wie es sich gehörte, dass es niemand wissen durfte, dass es niemals wissen dufte wer seine Eltern waren, dass es gar keine Eltern haben, sondern irgendwo als Waise aufwuchsen würde, als armes Kind eines entfernten Verwandten der Decimer, der mit seiner Frau irgendwo, irgendwie gestorben war und nur dieses Kind hinterlassen hatte, dass sie keine andere Wahl hatte, und dass sie diese schreckliche Leere in sich nicht imstande war mit etwas zu füllen, und sei es nur mit Gefühlen für dieses kleine Kind, das sie geboren hatte. Sie konnte es nicht. Und so blieb sie einfach sitzen, bis Raghnall wieder verschwunden war, mitsamt dem Kind.

    Im Rückblick erschien Seiana alles ein wenig verzerrt. Irgendwann war Raghnall mit der Hebamme aufgetaucht, die die Dinge sofort an sich riss. Sie schmiss den Gallier sofort wieder raus – wenn auch nicht ohne ihm anzuordnen, dass er vor der Tür bleiben sollte, falls sie ihn brauchte –, orderte die beiden Sklavinnen herum, und tat auch mit Seiana das gleiche, und wo diese sich das sonst nie hätte gefallen lassen, wusste sie noch, wie froh sie in jenem Moment gewesen war, dass jemand da war, der übernahm. Nicht dass sie deswegen wirklich hätte loslassen können... aber es wurde leichter, ein bisschen, mit dem Wissen, dass da jemand war, der wusste was er tat... und der das auch sehr deutlich, beinahe herrisch so formulierte und keinerlei Widerspruch zuließ. Sie wusste auch noch, dass die Hebamme ziemlich missgelaunt war, weil sie nichts getan hatte, um sich vorzubereiten – sie hatte die Frau vor einiger Zeit schon kennen gelernt, und schon damals hatte sie geschimpft, aber Seiana hatte das nicht ernst genommen... und auch jetzt, wo Wehe um Wehe ihren Körper erschütterte, weigerte sich Seiana einzusehen, dass es vielleicht doch besser gewesen wäre, sich ein bisschen mehr mit dem Thema zu beschäftigen. Aber das Gerede der Hebamme erreichte sie ohnehin nur marginal. Sie wurde die Angst nicht los... Angst um Faustus und Seneca, und Angst vor der Geburt, vor dem Kontrollverlust, vor den Schmerzen. Letztere immerhin wurden recht bald so stark, dass sie allerdings an kaum etwas anderes mehr denken konnte. Sie hörte die Hebamme davon sprechen, dass die Geburt recht schnell voranschritt, hörte wie sie sich mit Raghnall austauschte, wie sie erfuhr wovon sie gesprochen hatten, als die erste Wehe gekommen war, und wie sie meinte dass sie verstehen würde, dass ein Schock die Geburt sowohl ein wenig verfrüht auslösen als auch sie beschleunigen könnte. Seiana verstand dagegen gar nichts. Sie hatte nur das Gefühl, es zerriss ihren Körper, und je mehr sie dagegen ankämpfte, je mehr sie versuchte trotzdem noch die Kontrolle zu behalten, desto schlimmer schien es zu werden. Die Hebamme unterdessen redete nahezu beständig auf sie sein, beschwor sie, sich nicht in den falschen Momenten zu verspannen, sich nicht so krampfhaft zu wehren, das Atmen nicht zu vergessen, noch nicht zu pressen, jetzt schon, wieder nicht, nicht verspannen, nicht verkrampfen, nicht wehren...


    Sie hätte nicht sagen können wie lange das so ging – aber irgendwann war es vorbei. Erschöpft lag sie da, die Anspannung aus ihrem Körper gewichen, der sich zwar wund anfühlte, aber wenigstens nicht mehr krampfte, und registrierte kaum, wie sich die Frauen um das Kind kümmerten. Nicht einmal, als sie es ihr an die Brust legten, wurde sie aus ihrer... fast schon Teilnahmslosigkeit gerissen. Seiana ließ zu, dass die Frauen ihre Arme bewegten, sie um das Kind legten, damit es gehalten wurde, und sie sah auch auf das Köpfchen, den winzigen Körper hinunter... aber der Anblick löste wenig in ihr aus. Irgendwo in ihrem Kopf schwebte die nur halb ausformulierte Frage herum, wie ein so kleines Etwas so große Schwierigkeiten machen konnte... und dann war da durchaus auch das schwache Bewusstsein darüber, dass das Senecas Kind war. Aber es kam ihr immer noch... fremd vor.


    http://img261.imageshack.us/img261/6518/raghnall.png Später – auch hier konnte sie nicht sagen, wie viel später, nicht einmal ob es noch am selben Tag war schon am nächsten – wachte sie auf, nach einem erschöpfungstiefen Schlaf. Als sie die Augen aufschlug, sah sie Raghnall an ihrem Bett sitzen – nach hinten auf seinem Stuhl kippelnd, eine Wachstafel in der einen und einen Stylus in der anderen Hand, während er auf irgendetwas herum kaute. „Wie...“ Sie machte eine vage Geste, die sie selbst und Raum umschloss. „Wie ist es gelaufen?“ Der Gallier sah auf, als er ihre Stimme hörte. „Ganz gut, wenn man der Hebamme glauben kann. Hätt sogar ne eher leichte Geburt werden können, wenn du’s dir nicht so schwer gemacht hättest, meinte sie.“
    „Ach, hab ich das.“ Sie hörte selbst, dass sie eher müde klang als gereizt. „Ich wusste nicht, dass man das so beeinflussen kann.“
    „Scheinbar geht das“, antwortete Raghnall, und über sein Gesicht glitt ein flüchtiges Grinsen. „Wir sollen doch bitte darauf achten, hat sie gesagt, dass du dich beim nächsten Mal wenigstens ein bisschen vorbereitest.“
    „Beim nächsten Mal...“ Seiana schauderte bei dem Gedanken daran, das noch mal durchzumachen. Noch ein Kind zu bekommen. Erst da fiel ihr auf, dass sie keine Ahnung hatte, was mit dem ersten war. „Wie...“ Ihre Stimme verlor sich, aber Raghnall ahnte dennoch, worauf sie hinaus wollte. „Gut“, antwortete er ruhig. „Bisschen klein, war ein paar Tage zu früh dran... aber es ist alles in Ordnung.“ Für einen Moment schwieg er, dann fügte er an: „Möchtest du sie sehen?“
    „Sie?“ wisperte Seiana zurück.
    „Sie“, bestätigte Raghnall. Ein Mädchen also. Seiana wusste nicht so recht, wie sie das finden sollte. Aber dann wiederum war es auch so, dass sie ganz allgemein nicht so recht wusste, was sie von dem Kind halten sollte, gleich ob Junge oder Mädchen.
    „Sie schläft gerade, drüben.“ Der Gallier machte eine Kopfbewegung zur Nachbarwohnung. Seiana zögerte. Zögerte einen langen Moment. Dann schüttelte sie den Kopf. „Nein. Lass es... sie schlafen.“ Es hatte ja Zeit, bis sie sich das Kind ansah, also, wirklich ansah und es dabei auch bewusst wahrnehmen konnte, das musste nicht jetzt sein. Das hatte Zeit.

    Seiana kam es wie eine halbe Ewigkeit vor, bis Raghnall endlich mit der Hebamme auftauchte. Sie hatte die Sklavin, die sie bei sich hatte, angewiesen, alles vorzubereiten, aber die war noch ein recht junges Ding und hatte keinerlei Erfahrung in solchen Dingen – auch so etwas, was Seiana überhaupt nicht bedacht hatte vorher, weil sie sich so rundheraus geweigert hatte, sich mehr mit dem Thema zu beschäftigen als unbedingt nötig. Das einzusehen oder gar zuzugeben, dafür hatte sie nun allerdings ganz sicher keinen Nerv, und auf die Frage der Sklavin, was denn eigentlich genau vorzubereiten wäre, schnauzte Seiana sie daher nur an, dass sie einfach machen sollte. Diese ganze Sache zerfetzte ihre sonst so perfektionierte Selbstbeherrschung wie die Fänge eines Wolfs die Schlagader eines Rehs. Dieses Gefühl, dass ihr die Kontrolle über sich selbst entglitt, erschütterte sie zutiefst, und gerade in diesem Moment, wo es um Faustus ging, um Seneca, konnte sie es nicht gebrauchen. Sie musste doch einen klaren Kopf bewahren. Sie musste nachdenken, musste überlegen, wen sie losschicken konnte, um etwas Zuverlässiges zu erfahren über den Verbleib der beiden Männer... und allein die Angst um sie beeinträchtigte Seiana schon viel zu sehr, ließ ihr Inneres sich zusammenkrampfen vor Panik, dass sie tot sein könnten, dass sie sie verloren hatte; allein das hätte schon große Anstrengung bedeutet, sich zu zwingen trotzdem ruhig zu bleiben und zu handeln, zu tun was sie konnte, so wenig es auch sein mochte. Aber dass dieses innere Krampfen aus Angst vor dem Abgrund, mit dem sie sich konfrontiert sah, seit Raghnall ihr von der verlorenen Schlacht berichtet hatte, sich nahtlos umzusetzen schien in ein tatsächliches Krampfen ihres Körpers, dass sich in regelmäßigen Abständen wiederholte und die Geburt einläutete, die für sie ein fast ebenso großer Anlass zu Panik war, war zu viel für sie.


    Die Sklavin unterdessen fasste sich nach einem Moment des Schrecks wieder – und verschwand erst mal, nur um gleich darauf mit der Amme wieder zu kommen. Und die wiederum wusste einerseits deutlich mehr darüber, was zu tun war, und behielt andererseits auch weiterhin ihre fast schon stoische Ruhe. Mit sanftem Druck geleitete sie Seiana zu dem einfachen Bett und brachte sie dazu, sich wenigstens hinzusetzen, bevor sie die Sklavin zum Wasser holen schickte, selbst Tücher bereitlegte und die Feuerstelle anheizte, damit das Wasser erwärmt werden konnte. Seiana sah ihr dabei zu, wie sie sich sacht durch den Raum bewegte, und die Ruhe, die die Frau ausstrahlte, half ihr... wenigstens ein bisschen. Die Panik in ihr ebbte etwas ab, auch wenn sie sie immer noch spürte, tief in sich drinnen, wo sie an der dünnen Schicht kratzte, die Seiana mühsam darüber geworfen hatte. Und die Angst war nach wie vor da, wuchs sogar noch an, die Angst um Faustus und Seneca. Früher, wenn Faustus' fort war, Parthien, Ägypten, seine Mission für die Garde – sie hatte einfach nicht gewusst, was los war, gar nichts, sie hatte immer erst davon erfahren, wenn es vorbei war, und dabei dann auch, dass es ihrem Bruder gut ging, dass er in Sicherheit war. Unumstößlich sicher zu wissen, dass etwas schief gelaufen war, und nicht gleichzeitig bestätigt zu bekommen, dass es ihm dennoch gut ging... Und das Schlimmste war: sie war so hilflos, so unfähig, etwas zu tun.
    Ihre Hände krampften sich um die Bettkante, so sehr, dass die Knöchel weiß wurden, und ihr Blick folgte nicht mehr der Amme, sondern fixierte starr einen Punkt auf den Boden. Einen Augenblick später spürte sie, wie sie jemand berührte, und als sie hochsah, sah sie die Amme vor sich stehen, mit besorgtem Blick, die irgendwelche Gesten machte, deren ihr sich nicht erschloss... sie hob eine Hand, die Innenfläche nach oben, drehte sie dann und senkte sie wieder, auf, ab, auf ab... Erst nach einem langen Augenblick wurde Seiana klar, dass sie ihr signalisieren wollte zu atmen, und begriff noch ein Stück später, dass sie wohl gedacht hatte, eine weitere Wehe hätte sie im Griff. Seiana deutete ein Kopfschütteln an und löste sich von der Berührung, in dem sie etwas zurück rutschte, und die Amme trat zurück und machte weiter.

    Seiana war drauf und dran, weiter auf Raghnall einzubrüllen, als der auf ihr Kommando erst mal gar nicht reagierte. Was war denn auch so schwierig an dem, was sie sagte? Eigentlich war das doch selbstverständlich, eigentlich hätte ihm das klar sein müssen, bevor er auch nur daran gedacht hatte mit dieser dürftigen Nachricht zu ihr zu kommen. Dass sie mehr wissen wollte. Mehr wissen musste. Und dass er dieses Mehr gefälligst herauszufinden hatte, bevor er sich hier überhaupt blicken ließ!
    So sehr sie allerdings auf ihn einbrüllen wollte, so sehr sie ihn sogar handgreiflich angehen und die Informationen, die sie so dringend haben wollte, mehr noch, die sie so dringend brauchte, damit es sie nicht zerriss innerlich vor Sorge und Angst und Einsamkeit, aus ihm heraus schütteln wollte, tat sie es doch nicht – weil es sie plötzlich tatsächlich zu zerreißen schien. Ein stechender Schmerz schoss durch ihren Unterleib, als sich dort alles zusammenzukrampfen schien, und für einen Moment raubte ihr das Gefühl beinahe den Atem. Sie bemerkte gar nicht, wie Raghnall ihre tastende Hand ergriff und sie stützte, nahm auch nicht wirklich wahr, wie ihre Beine auf einmal feucht wurden. Erst, als der Schmerz nachließ, wurde es wieder klarer – und sie begriff trotzdem nicht so recht, was das zu bedeuten hatte. Obwohl sie sich irgendwann gezwungenermaßen mit der Schwangerschaft beschäftigt hatte, hatte sie sich doch nicht wirklich damit auseinander gesetzt. Sie hatte Vorkehrungen getroffen, das ja, aber sie hatte stur alles ausgeblendet, was über das Nötigste hinausging, und das Nötigste war in ihrem Fall: dafür sorgen, dass keiner es mitbekam.


    http://img261.imageshack.us/img261/6518/raghnall.png Neben dem Schmerz, dessen Nachwirkungen immer noch durch ihren Körper klangen, war es also zunächst mal hauptsächlich Verwirrung, die sich in ihren Augen spiegelte, als sie wieder zu Raghnall aufsah. Der indes konnte nicht anders als zu grinsen, als er ihren Blick sah. „Ist ja nur meine unmaßgebliche Meinung, aber vielleicht sollte ich doch lieber erst mal die Hebamme holen?“
    Seianas Augen verengten sich. „Ich sollte dich irgendwann mal auspeitschen lassen“, fauchte sie zurück, aber lange nicht so aggressiv, wie sie es eigentlich vorgehabt hatte.
    „Ja... solltest du vielleicht mal“, gab Raghnall zurück, aber er lächelte immer noch, und diesmal war es fast sanft. Sie wussten beide, dass sie das nie tun würde... und zumindest er wusste, dass sie gerade nicht mehr ganz sie selbst war.
    Seiana indes hatte Mühe, die aufsteigende Panik zu bekämpfen. Sie konnte das nicht. Sie konnte es einfach nicht. Und sie hatte eine Riesenangst deswegen, denn ein Scheitern bei einer Geburt hieß in aller Regel nichts anderes als den Tod der Mutter, und sie konnte. das. einfach. nicht. Ganz davon abgesehen, dass sie das jetzt auch gar nicht wollte, es überhaupt nicht gebrauchen konnte, nicht mit dieser unerträglichen Ungewissheit über das Schicksal von Faustus und Seneca.
    „Also... wie ist das mit der Hebamme?“ fragte der Gallier nach, und Seiana wurde klar, dass sie immer noch seine Hand umklammert hielt. Ein wenig peinlich berührt – und eindeutig zu schnell, als dass das Raghnall nicht hätte klar werden können – ließ sie los und nickte dann ruckartig. „Ja“, knirschte sie mit zusammengebissenen Zähnen. Wollte nicht. Konnte nicht. Musste doch. Es war zum Verzweifeln, dass etwas, was gar nicht zu ihr gehörte, was sich seit Monaten als Fremdling in ihrem eigenen Körper breit gemacht hatte, in diesem Moment nun einfach alles an sich zog, ihr die Kontrolle über sich selbst entriss und bestimmte, was geschah und wann. Aber Seiana wusste auch, dass sie nichts tun konnte, außer es einfach nur hinter sich zu bringen. „Hol sie. Schnell“, presste sie noch hervor, als sich schon die nächste Wehe ankündigte.

    „Das hoffe ich auch. Solltest du etwas benötigen, bei dem dir die Scribae nicht weiter helfen können, steht meine Tür dir offen.“ Seiana ließ ihr höflich-kühles Lächeln sehen und nahm die angebotene Hand des Helvetiers an zum Abschied. „Ich wünsche dir noch einen schönen Tag. Vale, Helvetius.“

    „Das bist du in der Tat“, antwortete der Scriba. „Die Rectrix ist heute allerdings nicht im Haus, erst übermorgen wieder... da kann ich dir aber gleich einen Termin anbieten. Wenn du kurz vor der Mittagsstunde kommst, wird sie Zeit für dich haben.*“


    Sim-Off:

    *Einfach um mal was anderes auszuspielen, als dass sie zufällig immer da ist, wenn jemand spontan kommt :) Du kannst gern einfach im selben Post weiter schreiben, dass Arabicus zwei Tage später wieder da ist, und wir machen nahtlos weiter.

    Seiana behielt Casca im Blick, wollte sehen, wie er reagierte, und in der Tat gab er einiges zu erkennen von dem, was er wohl denken musste. Für einen Moment überlegte sie, ob das wohl am Alkohol liegen mochte, oder ob er generell offener war... wäre letzteres der Fall, würde er wohl auch daran ein wenig arbeiten müssen, jedenfalls wenn er Karriere machen wollte. Weder in der Politik noch im Geschäftsleben war es hilfreich, allzu offen zu erkennen zu geben, wie es in einem aussah. Ganz im Gegenteil. Sonderlich begeistert schien Casca in jedem Fall zunächst nicht zu sein von ihren Anweisungen – denn etwas anderes war es nicht, was Seiana ihm gerade erklärte. Sie gab ihm keinen Rat oder schlug vor, was eine Wahl seinerseits beinhaltet hätte, sie wies an, und sie erwartete, dass er gehorchte.
    Als es anschließend um die Betriebe ging, konnte Seiana sein Erstaunen sehen, Freude... und dann doch wieder Zweifel. Das allerdings hatte sie durchaus erwartet. Und nebenbei bemerkte sie durchaus, dass er sich nun wenigstens bemühte, seinen Schluckauf zu unterdrücken... trotzdem beschloss sie, zurückhaltend zu bleiben im Moment. Vorschusslorbeeren hatte Casca sich nicht verdient, fand sie, nicht so wie er gekommen war, und freundliche Worte und Lob konnte sie ihm immer noch geben für den Fall, dass er in ein paar Wochen einen positiven Bericht abliefern konnte. „Wann kann man sich schon sicher sein?“ antwortete sie daher, aber immerhin... wäre Casca einer ihrer Mitarbeiter gewesen, sie hätte rundheraus mit Nein geantwortet. So blieb es bei einer Gegenfrage, die alles und nichts heißen konnte, und sie ließ sogar doch ein vages Lächeln sehen. „Es ist einiges an Verantwortung. Das Sägewerk hat allerdings einen fähigen Verwalter, der dich unterstützen kann, und der Barbier erledigt seine Arbeit durchaus ordentlich.“ Sie hatte sich die Unterlagen alle selbst durchgesehen, die letzten Berichte geprüft, Kontakt gehabt mit dem Verwalter des Sägewerks sowie dem Barbier. Beide Betriebe liefen gut genug, dass ein junger, noch unerfahrener Mann sich in Ruhe einarbeiten konnte. „Jetzt kommt eine Reise nach Mantua ohnehin nicht in Frage... aber selbst wenn die Zeiten ruhig wären, wäre das nicht so dringlich. Irgendwann bietet sich eine Reise sicher an, einfach damit du das Werk kennen lernst, aber sicher nicht sofort. Sieh dir erst mal in Ruhe die Unterlagen an, würde ich vorschlagen... falls du Fragen hast dazu, kannst du dich gerne in den nächsten Tagen an mich wenden.“

    Seiana lächelte, aber es war kein fröhliches Lächeln, noch nicht einmal ihr übliches höflich-kühles, sondern ein zynisches – das auch nur kurz aufflackerte, bevor sie wieder ernst wurde. „Bis vor kurzem hätte ich es auch noch für undenkbar gehalten, dass andere Legionen als die Prima Fuß auf italischen Boden setzen. Und dennoch sind die Streitmächte in der Provinz, sowohl im Norden als auch im Süden.“ Sie schwieg einen Moment und blickte kurz zum Fenster hinüber, dachte an Faustus, an ihr letztes Gespräch, daran, dass auch er nicht sonderlich siegessicher gewirkt hatte, sondern eher besorgt... und es auch für eine Möglichkeit gehalten hatte, dass Truppen bis nach Rom kamen. Und dass es dann, für diese Phase, bis der Krieg endgültig vorbei war, nicht sicher sein würde, weder hier in der Casa noch auf den Landgütern, die sie im Umland Roms hatten. Seiana sah wieder zurück zu den beiden jungen Decimern. „Nach meinen Informationen sind Vescularius’ Truppen etwas in der Überzahl, aber bei weitem nicht so sehr, dass ein Sieg als gesichert angenommen werden kann. Und wenn die Rebellen gewinnen sollten, werden sie nach Rom kommen... davon können wir sicher ausgehen. Und obwohl Rom einen besonderen Status hat, gehe ich auch davon aus, dass hier geplündert werden wird, zumindest in den Häusern jener Familien, die als Unterstützer des Vescularius gelten. Und das tun wir.“ Dafür hatten einige von ihnen gesorgt inzwischen – Varenus, der in der Kanzlei angefangen hatte zu arbeiten und Klient eines Kaiserklienten geworden war; sie selbst, die ihre Posten zwar schon vor der Regentschaft des Vescularius innegehabt, aber nach dem Wechsel keinen von ihnen aufgegeben hatte und schließlich vom Kaiser in den Rang eines Ritters erhoben worden war; und nicht zuletzt Faustus... vor allem Faustus. Nicht dass er großartig die Wahl gehabt hatte – die Beförderung zum Praefectus Praetorio abzulehnen hätte geheißen, die gesamte Familie in Verruf beim Kaiser zu bringen, hätte vielleicht sogar ihre Sicherheit gefährdet. Trotzdem wusste Seiana besser als jeder andere, dass ihr Bruder auch tatsächlich daran glaubte, das Richtige zu tun. Er hätte Vescularius so oder so unterstützt... die Beförderung, und die Tatsache dass er mit der Garde für Vescularius in den Krieg gezogen war und nicht etwa abgewartet hatte, um dann das zu tun, was Prätorianer so häufig taten in innerrömischen Konflikten, hatte es nur für alle über jeden Zweifel hinaus offensichtlich werden lassen, wo Faustus – und mit ihm seine Familie – stand. „Ich werde dafür Sorge tragen, dass die wertvollsten Dinge außer Haus und in Sicherheit gebracht werden... und alles weitere kann repariert oder ersetzt werden, sollte es tatsächlich zu einer Plünderung kommen. Aber es wäre unsinnig, ein Risiko einzugehen, was uns selbst betrifft. Lieber zu vorsichtig sein als später das Nachsehen haben, wenn Rebellensoldaten es nach ihrem Sieg nicht allzu genau damit nehmen, wer noch alles zu Schaden kommt... oder im Rausch einer Plünderung sich schon allein durch die Anwesenheit eines Anhängers ihrer Gegner provoziert fühlen.“

    Ohne eine Miene zu verziehen, war Seiana ebenfalls mitgekommen zum Ort der Hinrichtung. So überrascht sie vom Auftreten des Viniciers gewesen war, so wenig war sie es davon, dass der Kaiser das Urteil bereits fertig hatte – und im Grunde war sie es auch nicht darüber, dass er es gleich vollziehen wollte. Vescularius war niemand, der halbe Sachen machte. Und so gern sie nach dem Prozess einfach verschwunden wäre... wusste sie doch, dass sie sich das nicht erlauben konnte. Nicht als Auctrix. Nicht als eine von wenigen, die überhaupt zu dem Prozess als Zuschauer zugelassen worden waren. Also war sie auch jetzt dabei, hatte erlebt, wie irgendjemand etwas auf den Kaiser geworfen hatte, ohne allerdings zu erkennen, um wen es sich handelte, war nach dem Kaiser gemeinsam mit den anderen Zeugen nur umso schneller in das Gebäude geschafft worden, und stand nun da, um aus nächster Nähe mitzuerleben, wie der Vinicius sterben würde.

    Als die Spannung irgendwie ein wenig zu weichen schien, machte Seiana noch einen Schritt zurück, leicht nur, bemüht es wie Zufall aussehen zu lassen, wie eine nebensächliche Bewegung. „Es besteht kein Grund mir zu danken“, erwiderte sie, mit dem Versuch eines Lächelns, damit ihre Worte nicht womöglich noch harsch klangen. Faustus war der, dem er danken musste – der ihn hier aufgenommen hatte. Und für den sie Stillschweigen bewahren würde. Auch wenn sie immer noch dabei war überhaupt erst zu realisieren, was das hier bedeuten konnte... welche Gefahr das hieß, nicht nur für ihren Bruder, sondern für die ganze Familie. Sollte das je heraus kommen, bezweifelte sie, dass Vescularius einen Unterschied machen würde, wer da nun davon gewusst hatte und wer nicht. Es war hirnrissig. Es war brandgefährlich. Aber es war Faustus' Entscheidung gewesen... und wäre es umgekehrt ihr Bruder gewesen, Seiana hätte alle Götter darum angefleht, dass er jemanden fand, der ihm Unterschlupf gewährte, wenn er das brauchte.


    Seiana hatte Mühe, ihre rasenden Gedanken einzufangen, zu beruhigen. Sie wechselten rasant zwischen zwei extremen Polen hin und her: wie tollkühn, wie gefährlich es war, hier einen Gegner des Vescularius' zu beherbergen – und dass ihr Bruder es so gewollt hatte, und das sicher nicht ohne sich Gedanken gemacht zu haben. Dass sie Faustus nicht in den Rücken fallen würde, war dabei die eine Konstante, die sich hindurch zog, der einzige Halt, den sie fand – aber der Rest war in Aufruhr. Sie schwankte zwischen Furcht, Fassungslosigkeit und den Selbstversicherungen, dass hier schon niemand suchen würde, und dass ihr Bruder für ausreichend Sicherheit gesorgt haben würde... und dann wieder Furcht. Und Fassungslosigkeit. Er hatte doch so vehement für Vescularius argumentiert, dafür, dass jener der rechte Kaiser war, von Valerianus eingesetzt, dass es die Verschwörer gewesen waren, die den Mord begangen hatten... Und plötzlich wurde Seiana bewusst, dass ihr hier vielleicht einer der wenigen Männer gegenüber stand, die die Wahrheit kannten. Wenn es tatsächlich eine Verschwörung gegeben hatte, wenn Vescularius' Lesart der Geschehnisse wahr war und der Senator darüber hinaus nicht einfach nur unschuldig mit hineingezogen... dann wusste er, was passiert war. Und für Momente drängte es Seiana, ihn danach zu fragen. Zu fragen, was er wusste. Was passiert war an jenem Tag in Misenum. Aber nichts davon kam über ihre Lippen. So selten sie um Worte verlegen war, wusste sie in diesem Augenblick doch nicht, wie sie eine solche Frage hätte formulieren sollen, noch dazu gegenüber jemandem, den sie kaum kannte.


    Mitten in diese Gedanken hinein klangen seine Worte über die Werke hier, die Bibliothek, sein Wissen darum. Seiana ließ ihren Blick kurz über die Regale schweifen, wusste aber in diesem Moment nicht so recht etwas damit anzufangen. Sie sah wieder zurück, sah etwas auf seinem Gesicht, das mit etwas Fantasie ein Lächeln sein mochte, und versuchte es zu erwidern. „Danke, aber... nein. Ich bin hiermit...“, sie hob leicht die Schriftrolle hoch, die er vorhin gegeben hatte, und von der sie schon gar nicht mehr wusste, was darauf überhaupt geschrieben stand, „... für den Moment gut ausgestattet. Ich würde lieber... einfach ein wenig hier bleiben. Wenn ein wenig Gesellschaft dich nicht stört.“ Sie wollte in der Tat noch nicht zurück in ihr Cubiculum, in die Einsamkeit dort, aber noch mehr Menschen, ihren Verwandten, wollte sie auch nicht unbedingt begegnen. Zu groß die Befürchtung, sie müsse sich dann erklären, würde unter Druck sein, weil sie schon wieder irgendwelche – echten oder eingebildeten – Erwartungen enttäuscht hatte. Er hingegen... trotz dem, was sie gerade erfahren hatte, fand sie es angenehm in seiner Gegenwart, ruhig wie er war. Und dann war da noch eine Sache... ihr brannten nach wie vor Fragen auf den Lippen. Fragen, die noch keine Formulierung hatten, die vielleicht nie eine haben würden, aber dennoch waren sie da, und Seiana hatte das unbestimmte Gefühl, dass sie nicht viele Chancen haben würde, sie überhaupt zu stellen. Wenn sie etwas in Erfahrung bringen wollte, musste sie die Gelegenheit nutzen, die sie nun hatte. Dieser Grund war nur vage vorhanden in ihr, mehr ein unterschwelliges Gefühl denn ein ausformulierter Gedanke... aber er trug dennoch dazu bei, dass sie bleiben wollte. Sie deutete auf den Tisch, an dem er zuvor gestanden hatte. „Woran hast du gerade gearbeitet?“

    „Nun, dann wünsche ich dir viel Erfolg bei deinem Einstieg. Wir werden uns von nun an sicher das ein oder andere Mal über den Weg laufen.“ Seiana lächelte erneut kurz und nickte ihm dann zum Abschied zu. „Vale, Iulius. Hab eine sichere Heimreise nach Ostia.“

    Die Tür öffnete sich gar nicht – stattdessen erklang ein vernehmliches „Herein“ von drinnen, und als der Gast dann schließlich eintrat, betrat er das Vorzimmer der Rectrix. Hinter einem Schreibtisch saß ein Scriba, der den Kopf gehoben hatte und ihm entgegen sah. „Wie kann ich dir helfen?“