HIERMIT ERNENNE ICH
Marcus Helvetius Commodus
ZUM PRAECEPTOR DER
SCHOLAE ATHENIENSIS
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ANTE DIEM IV ID FEB DCCCLXIII A.U.C. (10.2.2013/110 n.Chr.)
HIERMIT ERNENNE ICH
Marcus Helvetius Commodus
ZUM PRAECEPTOR DER
SCHOLAE ATHENIENSIS
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ANTE DIEM IV ID FEB DCCCLXIII A.U.C. (10.2.2013/110 n.Chr.)
ZitatOriginal von Marcus Helvetius Commodus
Commodus überlegte nicht wirklich lange.
"Das hört sich recht gut an und ich würde das Angebot gerne annehmen. Ich würde aber gerne noch nachfragen wie das gemeint ist mit dem beweisen. Was muss ich tun dafür?"
„Einfach nur in den nächsten Wochen zeigen, dass deine Worte mir gegenüber der Wahrheit entsprechen und du tatsächlich geeignet bist als Praeceptor“, lächelte Seiana auf die ihr eigene Art zurück. „Da wir uns einig sind, werde ich nun deine Ernennungsurkunde fertig machen. Von meinem Scriba wirst du bekommen, was du benötigst... hast du noch irgendwelche Fragen, die du mir stellen möchtest?“
Es war schwerer, als sie ohnehin schon befürchtet hatte. Seiana hätte sich selbst niemals als verwöhnt betrachtet, aber hier, eingepfercht – jedenfalls kam es ihr so vor – in dieser Insula, begann sie den Luxus der Casa Decima zu vermissen. Selbst das Haus auf den Landgütern bei Ostia, das nun wahrhaftig kein Prachtbau war, sondern im Gegenteil sehr auf das Praktische ausgelegt, bot weit mehr Annehmlichkeiten – allem voran Platz. Platz. Seiana hätte sich auch nie für die Art von Person gehalten, die übermäßig viel Platz brauchte, aber jetzt, wo er ihr nicht mehr einfach so zur Verfügung stand, fehlte er ihr nahezu beständig, etwas, womit sie nicht unbedingt gerechnet hätte. Verschiedene Räume zu haben für verschiedene Funktionen, den Raum wechseln zu können je nachdem ob man aß, las, sich zu einem Gespräch traf oder arbeitete... alles nicht möglich hier. Gar nicht zu reden vom Hortus, von der Möglichkeit, nach draußen zu gehen, ohne das Haus zu verlassen, ein wenig frische Luft zu schnappen... selbst wenn sie die Insula verlassen würde – was sie ohnehin nicht tat, nie –, war frische Luft etwas, was hier, in diesem Teil Roms, mehr einer Legende glich denn etwas, was Realität war.
Nein... auf ein, zwei Räume beschränkt zu sein, die dazu nicht sonderlich großzügig bemessen waren, und das in dieser Gegend, brachte sie an die Grenzen dessen, was sie noch für akzeptabel hielt. Wäre es nicht letztlich Faustus' Wunsch gewesen, dass sie genau das hier tat und sich nicht etwa in die Albaner Berge oder nach Ostia zurückzog, Seiana hätte schon am ersten Tag begonnen sich selbst zu verwünschen dafür, dass sie sich gegen diese Möglichkeiten entschieden hatte. Aber ihr Bruder war recht deutlich gewesen, als sie sich das letzte Mal getroffen hatten, und so zwang sie sich, sich mit der Situation abzufinden wie sie war. Sie jammerte nicht, sie schimpfte nicht, sie ließ ihre Unzufriedenheit mit ihrer Lage nicht an ihren Sklaven aus – sie tat einfach weiter das, was sie sich vor Jahren schon eingetrichtert hatte: Haltung bewahren. Unter allen Umständen.
Und sie zweifelte auch keinen Moment daran, dass ihr das gelang, viel zu geübt war sie inzwischen darin, eben das zu tun... und alles, was an ihrer Selbstbeherrschung rütteln könnte, rigoros zu unterdrücken. Bis dieser eine Tag kam, der alles ins Wanken zu bringen schien. Und Raghnall war verantwortlich.
http://img261.imageshack.us/img261/6518/raghnall.png „Bitte was?“ flüsterte sie, tonlos, als sie hörte, was ihr Sklave ihr berichtete. Der Gallier sah sie auf eine komische Art an... mit etwas in seinem Blick, das sie für Mitleid gehalten hätte, oder jedenfalls etwas, was dem verdächtig nah kam, wenn sie sich nicht sicher gewesen wäre, so etwas noch nie bei Raghnall gesehen zu haben. „Vescularius' Truppen im Norden haben verloren“, wiederholte er leise. „Wer von den Prätorianern nicht gefallen ist, wurde gefangen genommen.“ Zumindest so gut wie alle. Jedenfalls hatte er nichts davon in Erfahrung bringen können, dass ausgerechnet die Schwarzröcke geflohen wären, und es hätte ihn irgendwie dann doch auch ein bisschen gewundert. Schwarzröcke liefen über oder kollaborierten schon vorher mit dem Gegner, aber die Kerle hielten zu viel auf sich selbst und ihr Ansehen als Elite, als dass sonderlich viele von ihnen sich der Schmach ausgesetzt hätten, die eine Flucht bedeutete. Als Raghnall allerdings sah, wie bleich seine Herrin nun wurde, begann er doch sich zu fragen, ob es nicht besser gewesen wäre das nicht zu erwähnen... auch wenn er wusste, dass es müßig war. Die Decima hätte so oder so früher oder später erfahren, dass der Kampf im Norden verloren war – und es war nicht schwer zu schlussfolgern, was mit den unterlegenen Truppen wohl passiert sein mochte, selbst wenn er wenigstens das nicht ausgesprochen hätte. Und trotzdem...
„Was ist mit meinem Bruder? Was weißt du von ihm?“
Raghnall bemühte sich, den drängenden Unterton in der ansonsten immer noch so... so leblos wirkenden Stimme zu überhören. Er fühlte sich beinahe hilflos – was bei ihm eine Rarität war –, als er ein Achselzucken andeutete. „Ich weiß es nicht. Dazu konnte keiner was sagen.“
Für Momente herrschte Stille. Elende Stille, die sich in die Länge zog, weiter und immer weiter, bis der Gallier das Gefühl hatte, es nicht mehr auszuhalten zu können. Dann –
„DANN FINDET ES RAUS!“ brüllte Seiana ihn an. „Ist das so schwer, da von selbst drauf zu kommen? Bei allen GÖTTERN, mein Bruder ist der GARDEPRÄFEKT, da wird es doch wohl möglich sein in Erfahrung zu bringen, WAS UM ALLES IN DER WELT mit ihm passiert ist! Also FINDET ES VERDAMMT NOCH MAL HERAUS, und WEHE DIR du kommst ohne Nachricht darüber wieder, was mit den beiden los ist!“
Raghnall hatte unwillkürlich einen Schritt zurück gemacht, als die Decima angefangen hatte loszubrüllen. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann er sie das letzte Mal so erlebt hatte. Erinnerte ihn an früher, an sie als Jugendliche, in jenen Jahren, als sie und ihre Brüder noch alle in Hispania gelebt hatten, bei der Mutter, in deren Besitz er damals gekommen war. War selten... nein, eher nicht-existent geworden, dass sie ihrem Temperament dermaßen freien Lauf ließ. Und es war vermutlich keine gute Idee, sie jetzt danach zu fragen, was genau sie denn mit den beiden meinte... oder besser: wen noch. Er wusste zwar, worum es ging – er war nicht blöd, er hatte seine Augen und Ohren nahezu überall, und er war der Decima so nahe wie sonst keiner ihrer Sklaven. Spätestens seit ihrem Ausflug vor die Tore Roms, um angeblich ihre Güter im Umland und in Ostia zu besichtigen, wo sie laut Bran – dem holzkopfigen Leibwächter, der sich das in einer schönen Spielrunde mit viel Alkohol von ihm hatte entlocken lassen – einen nicht ganz so betriebsbezogenen Abstecher gemacht hatte, wusste Raghnall, was lief. Und er ahnte auch, um wen es sich handelte, weil es nicht viele Männer gab, die sich als Konstante durch das Leben der Decima zogen, und bis auf einen konnte er sonst alle einordnen, wie sie zu seiner Herrin standen. Aber vollkommen sicher war er sich nicht, denn obwohl er vermutete, dass sie sich schon dachte, dass er sich einiges zusammengereimt hatte, hatte sie ihn dennoch nie explizit ins Vertrauen gezogen. Aber wenn er jetzt nach so kleinlichen Details fragte, würde sie ihm den Kopf abreißen, so wie sie aussah.
Bevor er allerdings entscheiden konnte, was er tun sollte, bevor er überhaupt Gelegenheit hatte, großartig weiter zu grübeln, passierte etwas, womit er nun gar nicht gerechnet hätte. Die Decima machte Anstalten, weiter zu brüllen, als er nicht sofort reagierte – oder womöglich auf dem Absatz umdrehte, um sofort ihren Befehl in die Tat umzusetzen –, aber dazu kam es nicht. Stattdessen kam ein zunächst undefinierbares Geräusch von ihr, das er nur einen Moment später als Stöhnen identifizierte, und die Decima krümmte sich ein wenig, hielt sich mit einer Hand den Bauch, der – obwohl immer noch verhältnismäßig klein – mittlerweile doch sichtbar gewölbt war, und tastete mit der anderen Hand nach einer Stütze herum, bis Raghnall wieder einen Schritt nach vorne nahm und sie mit seiner ergriff. Erst dann bemerkte er, dass der Boden zu seinen Füßen plötzlich nass war.
Seiana hatte ihre Vorbereitungen getroffen, unabhängig von ihrer Familie. Sie konnte keinen Verwandten bei sich gebrauchen, wo sie gedachte das Kind auf die Welt zu bringen... und abgesehen davon war es vermutlich auch im Hinblick auf den Bürgerkrieg, wenn Palmas Truppen denn tatsächlich nach Rom kamen und die Stadt einnehmen sollten, besser, wenn sie sich ein wenig verteilten und nicht alle am gleichen Ort waren. Sie hatte sich eine der Insulae ausgesucht, die in Familienbesitz waren, eine in einer Gegend, die hoffentlich nicht allzu sehr von Plünderungen betroffen sein würde, weil hier nicht viel zu holen war... aber dennoch nicht allzu herunter gekommen. Sie hatte Sklaven angewiesen, alles vorzubereiten, sie hatte auch ihre Familie eingeweiht, und so war sie schließlich hierher gekommen. Von den Truppen im Norden, wohin ihr Bruder gezogen war, hatte es noch keine Nachricht gegeben, aber die Schwangerschaft schritt voran, und mittlerweile war ihr die Möglichkeit zu groß geworden, jemand in der Casa Decima könnte sie in zu dünner Kleidung sehen und die richtigen Schlüsse ziehen... oder zumindest Verdacht schöpfen. Sie war den Göttern dankbar darum, dass sie zu jenen Frauen gehörte, die nicht viel zunahmen und der man die Schwangerschaft bekleidet nach wie vor nicht wirklich ansah... aber dennoch wollte sie kein Risiko eingehen. Es musste schließlich nicht sein. Also war sie nun in die Insula gezogen, in der sie eine der größeren Wohnungen bezog – die immer noch klein war. Wirklich klein. Seiana, die Zeit ihres Lebens anderes gewöhnt gewesen war, sah man von ihrer Zeit in Ägypten ab – die nun auch schon länger zurücklag –, begann schon mit dem ersten Fuß, den sie in die Wohnung setzte, zu befürchten, dass sie hier nicht genug Luft bekommen würde... und irgendwann ausflippte, weil ihr die Wände viel zu dicht an ihr dran waren. Zu wenig Platz. Zu viel Gestank. Und keine Möglichkeit, dem zu entkommen. Allerdings hatte sie keine Wahl... also versuchte sie zähneknirschend, sich damit abzufinden. Eine weitere Wohnung war für einige Sklaven hergerichtet worden – eine Leibsklavin würde bei ihr wohnen, aber die andere Wohnung war für ihre Leibwächter, Raghnall, und auch die Sklavin gedacht, die als Amme fungieren würde, die Seiana lieber nicht in ihrer Nähe haben wollte, weil sie ihr Kind bereits geboren hatte und ihr das Geschrei nur auf die Nerven ging, und es war ohnehin schon laut genug hier. Die Amme selbst hingegen war stumm. Seiana hatte Raghnall lange suchen lassen, bis er eine Sklavin gefunden hatte, die ihren Ansprüchen entsprach – schwanger, mit glaubwürdigen Vorbesitzern, nach Versicherungen eben dieser Vorbesitzer loyal, und stumm. Sie wollte nicht, dass sie reden konnte darüber, unter welchen Umständen sie ihren Schützling erhalten hatte. Wenn die Geburt vorbei war und die Lage in Rom sich bis dahin beruhigt hatte, würde Seiana wieder zurückkehren in das Haus ihrer Familie. Die Amme hingegen hatte die Order, mit dem Kind fortzugehen, so bald es alt genug war um eine längere Reise anzutreten, auf irgendeines der decimischen Landgüter in Italia, vielleicht auch zu Großtante Drusilla, das hatte Seiana noch nicht entschieden. In jedem Fall aber würde sie dafür sorgen, dass das Kind dort als Kind irgendeines entfernten Verwandten aufgenommen werden würde... so dass es immerhin als Decimer aufwachsen würde. Was die Amme jedoch betraf: auch wenn Seiana alles versucht hatte, eine Sklavin zu finden, bei deren Vorgeschichte sie einigermaßen sicher sein konnte über ihre Loyalität, auch wenn sie sie nun bereits seit längerem in ihrer Gegenwart hatte, sie kannte, sich versichert hatte über ihr ruhiges, sanftmütiges, loyales Wesen... und deren Treue sie sich zudem mit dem Versprechen erkauft hatte, dass sowohl sie als auch ihr Kind freigelassen werden würden, so bald ihr Schützling alt genug war... hatte sie sich doch nicht darauf verlassen wollen, dass die Sklavin auch verschwiegen sein würde. Selbst aus Versehen konnte einem etwas heraus rutschen, wenn sie über ihren Schützling sprach... und das Risiko würde Seiana nicht eingehen, dass die Amme, und sei es nur versehentlich, irgendjemandem erzählte, wo und unter welchen Umständen das Kind die Welt war.
„Sehr gut.“ Auch auf Seianas Gesicht zeigte sich ein leichtes Lächeln. „Tut das. Falls ihr Hilfe braucht, könnt ihr euch jederzeit an mich wenden. Dexter, der Schneider befindet sich hier in Rom. Eine Wegbeschreibung findest du in den Unterlagen, falls du ihm persönlich einen Besuch abstatten möchtest“, fügte Seiana noch etwas hinzu. „Unterschreiben müsst ihr nichts... ich mache alles fertig, damit die Betriebe auf euch übertragen werden.“ Sie lehnte sich ein wenig zurück und musterte die beiden nur schweigend, bevor sie dann doch noch einmal ansetzte: „Eines noch. Es besteht die Möglichkeit, dass die Rebellen auf Rom marschieren werden... und es besteht die Möglichkeit, dass sie gewinnen.“ Für einen Augenblick verlor sich ihr Blick in der Ferne, als sie an Faustus denken musste und an das, was das für ihn wohl bedeuten würde. Dann riss sie sich zusammen und wandte ihren, nun deutlich ernsteren Blick erneut den beiden jungen Decimern zu. „Ich weiß nicht, welche Planungen euer Vater hat... aber ich werde das Ende dieses Bürgerkriegs nicht in diesem Haus abwarten. Die Götter mögen das verhindern, aber sollten die Rebellen tatsächlich gewinnen und hier in Rom einmarschieren, werden wir als Verwandte des Praefectus Praetorio in direkter Schusslinie stehen.“ Vor allem sie, als Schwester. Dass sie noch einen weiteren Grund hatte zu verschwinden, ging niemanden etwas an. „In diesem Haus sind wir wie auf einem Präsentierteller... ich habe bereits Sorge dafür tragen lassen, dass es geschützt werden wird, aber wenn die Legionen einmarschieren, mag dieser Schutz zunächst nicht ausreichen, bevor in Rom wieder Ruhe und Ordnung einkehrt. Faustus war ebenfalls der Meinung, dass es hier, in der Casa Decima, gefährlich werden kann, wenn die Rebellen siegen und einmarschieren. Ich bin der Meinung, dass auch ihr nicht hier bleiben solltest... daher mein Rat: beratet euch mit eurem Vater, was dieses Thema angeht.“
Seiana war ernsthaft versucht, ihren Kopf in eine Hand zu legen. Was sollte sie mit dem jungen Decimus nun machen, der da vor ihr saß? Ziemlich angeheitert – und ziemlich geknickt gleichermaßen. Sie ließ ihre Hände, wo sie waren... aber sie hörte mit gerunzelter Stirn zu, was Casca weiter ausführte. „Ja... das sollte es dir auch sein“, kommentierte sie zunächst mit scharfem Unterton. Und wie ihm das peinlich sein sollte... zugleich war das allerdings auch ein Hinweis darauf, dass da was zu machen war. Wenn ihm sein augenblicklicher Zustand peinlich war, bestand durchaus Hoffnung, dass er genug Eigenmotivation besaß daran etwas zu ändern – und nicht nur auf Prügel von außen wartete.
Für einen Augenblick schwieg sie danach, legte ihre Fingerspitzen aneinander, so dass sie ein Dreieck formten, und musterte ihr Gegenüber, überlegend, was wohl das beste Vorgehen war. Dann gab sie sich einen Ruck. „An deinem Gefühl, alle hätten etwas zu tun außer dir, können wir etwas ändern. Erstens: du wirst dich für den nächsten Cursus de rebus vulgaribus an der Schola einschreiben. Und ich erwarte von dir, dass du dich sehr gut darauf vorbereitest“, fing sie an. Casca sah so aus, als ob er jemanden gebrauchen könnte, der ihm ein wenig auf die Sprünge half... und ihm den nötigen Druck machte. Und das wiederum war etwas, wozu sie sich definitiv in der Lage sah. „Denk dabei daran, dass ich die Prüfungen einsehen kann...“ Sie musterte ihn weiterhin mit einer gewissen Schärfe im Blick. „Darüber hinaus wirst du die Verantwortung für zwei der Familienbetriebe übernehmen. Das...“, sie griff nach ein paar Unterlagen und schob sie ihm hinüber, „Sägewerk in Mantua und einen Barbier hier in Rom.“ Natürlich würde sie sich in der ersten Zeit berichten lassen darüber, was er so anstellte, nicht, dass er sie in Grund und Boden wirtschaftete... aber vielleicht erwies er sich ja als fähig. „Probeweise, zunächst. In, sagen wir, einem Monat möchte ich von dir einen ersten Bericht hören. Was gut läuft, was schlecht läuft, welche Schwierigkeiten du hattest, wie du sie überwunden hast.“
Nachdem Seiana sich mit dem drängendsten ihrer Probleme zumindest endlich beschäftigt hatte, gelang es ihr tatsächlich Stück für Stück, sich auch den anderen Dingen zu widmen, die anstanden. Sie hatte sich Gedanken gemacht, draußen in der Kälte, hatte eine Liste erstellt, und jetzt tigerte sie wieder in ihrem Cubiculum herum, das zugleich ihr Officium war – in dieser Hinsicht vermisste sie die Casa Terentia, oder besser den Platz in dem fast leer stehenden Haus; hier, wo doch recht viele Verwandte in Rom lebten, scheute sie davor zurück einen weiteren Raum zu beanspruchen. Eine Arm lag locker vor ihrer Brust, der andere stützte mit dem Ellbogen auf der Handfläche auf, während sie mit den Fingern über Kinn und Mund fuhr.
http://img261.imageshack.us/img261/6518/raghnall.png In einem der Korbsessel am Fenster fläzte Raghnall, nach wie vor derjenige unter ihren Sklaven, dem sie vorbehaltlos vertraute. Gerade hatte sie ihm Anordnungen verschiedenster Art gegeben, Anordnungen dazu, Vorkehrungen zu treffen... dafür, die Casa zu verlassen und irgendwo anders unterzukommen. Und dafür, über ihre Taberna medica eine Hebamme aufzutreiben. Was dazu geführt hatte, dass Raghnalls Augenbrauen nah an seinen Haaransatz rückten – was er aber sonst nicht weiter kommentiert hatte. Auch deswegen mochte sie ihn.
„Kümmer ich mich drum“, bestätigte der Gallier, was er gerade gehört hatte.
Seiana nickte, schwieg einen Moment und setzte dann erneut an. „Außerdem möchte ich, dass du dich umhörst. Ich möchte wissen, ob und was die Leute reden über die... meine Scheidung. Ich glaube nicht, dass es in der momentanen Lage ein großes Thema sein wird“, – zum Glück –, „aber ich möchte trotzdem, dass du das im Auge behältst, in der nächsten Zeit. Und ich möchte, dass du anfängst – wo es sich anbietet, nicht zu aufdringlich – das Gerücht zu verbreiten, Terentius hätte sich von mir getrennt, weil er denkt ich sei unfruchtbar.“ Raghnalls Brauen schnellten erneut nach oben, und das noch deutlich weiter. Natürlich war er verblüfft... aber abgesehen davon, dass sie nun schon vor ihrer Familie davon angefangen hatte, das zu erzählen, glaubte sie nichtsdestotrotz, dass das funktionieren konnte. Unbedingte Voraussetzung war freilich, dass es ihr gelang, ihre Schwangerschaft zu verbergen. Aber falls ihr das gelang... dann konnte es wirklich funktionieren. Sie war verhältnismäßig alt, vor allem wenn man bedachte, dass sie noch kein einziges Kind zur Welt gebracht hatte. Sie war eine ganze Zeit lang verheiratet gewesen, ohne dass es ein Kind gegeben hätte – dass ihr Mann selten mit ihr geschlafen hatte, wusste ja keiner. Und das wichtigste: Terentius hatte, zumindest so weit Raghnall ihr das hatte berichten können, nichts gesagt, warum sie sich getrennt hatten. Niemandem. Nicht einmal, dass die Scheidung von ihm ausgegangen war, hatte er in irgendeiner Form bekannt gegeben. Stattdessen hatte er die Stadt verlassen, mit unbekanntem Ziel – auch wenn Seiana vermutete, dass er sich wohl nach Misenum zurückgezogen hatte, bis wieder Ruhe eingekehrt war im Reich. Und das überließ die Interpretation der Dinge ihr... für den Moment jedenfalls. Es machte zwar wenig Sinn, Gerüchte zu verbreiten, die ihm die Schuld am Ende ihrer Ehe gaben, denn dann das würde nur heraufbeschwören, dass er, wenn er wiederkam, die Dinge gerade rücken würde... aber wenn sie dafür sorgte, dass klar war, dass die Schuld bei ihr lag, nur eben einen anderen, einen falschen Grund vorschob, der nicht ganz so schlimm war wie der wahre, der ihr Ansehen nicht ganz so sehr ramponieren würde... es war schlimm genug, wenn eine Frau keine Kinder empfangen konnte, aber es war ihr persönlich immer noch lieber, wenn die Leute das von ihr glaubten, als wenn die Runde machte, dass sie eine Ehebrecherin war. Und ihr Vorteil war: Sie mochte unnahbar wirken und kalt, und die Leute sagten in dieser Hinsicht wohl alles mögliche über sie... aber ihr Ruf war tadellos.
Blieb nur noch eines, was sie erledigen wollte, solange sie noch hier war: „Dann noch die Landgüter... Der Leibsklave meines Bruders ist betraut mit der Verwaltung. Lass dir von ihm alle wichtigen Unterlagen geben, ich möchte sie mir endlich ansehen.“ Das war etwas, was sie schon längst hätte tun sollen, fand sie, auch wenn Faustus selbst gesagt hatte, dass sein Sklave zuverlässig war und sich darum kümmerte. Aber bisher waren ihre Gedanken einfach... völlig woanders gewesen. Es wurde Zeit, dass sie wieder in die Realität fand, und Stück für Stück gelang ihr das auch.
Natürlich gab es keine Antwort auf ihre Frage, und Seiana hatte auch nicht wirklich eine erwartet. Stattdessen gab es aber das Gewünschte: Pompeius redete endlich Klartext. Aber mit jedem Wort, das er sagte, gefiel ihr weniger, was er zu sagen hatte. Sie wollten eingreifen. In die Acta. In ihre Arbeit.
Seianas Miene blieb unbewegt, während der Procurator sprach, aber innerlich brodelte es in ihr. Wenn sie ehrlich war, war das hier vermutlich schon lange überfällig... gerade wenn man bedachte, wie der Vescularius sich aufführte. Dennoch ärgerte es sie, und natürlich trug die Art des Pompeius, sein Anliegen vorzutragen, dazu noch bei. Er forderte nicht nur eine Berichterstattung, die die Kaisertreue zeigte, er forderte Enthusiasmus... Allerdings brachte sie das nicht weiter... es war besser, sich einfach damit abzufinden, denn so bitter es auch war: letztlich hatte sie keine Wahl. Der Kaiser hatte das Recht, der Acta vorzugeben was zu veröffentlichen war, und selbst wenn er es nicht hätte, könnte sie sich nicht dagegen wehren. Sie konnte höchstens versuchen, am Enthusiasmus zu deichseln... und selbst das war grenzwertig. Es konnte böse enden, wenn die Acta den Erwartungen des Vescularius nicht entsprach, das war ihr klar. „Der Cornelius ist die Bosheit in Person, ich verstehe. Ich werde veranlassen, dass die Acta etwas Entsprechendes veröffentlicht“, lächelte sie kühl zurück, als der Pompeius geendet hatte.
Scheinbar geduldig wartete Seiana darauf, dass Casca seine Sprache fand und antwortete... innerlich sah es allerdings anders aus in ihr. Ihr Geduldsfaden wurde mit jedem Hicks, das sie hörte, dünner. Dieses Geräusch knabberte an in ihren Nerven, schien sich regelrecht einfressen zu wollen. „Nur ein Schluck... genau.“ Ihrem Tonfall war anzuhören, was sie davon hielt, aber sie beschloss, das für den Moment nicht weiter auszuführen. Wie er in diesem Moment vor ihr aufgeschlagen war, war ja ohnehin nur ein Symptom dessen, was das eigentliche Problem war – in ihren Augen jedenfalls –, und es war effektiver, wenn sie gleich darauf zu sprechen kam, anstatt sich erst mühevoll mit Details zu beschäftigen. „Casca... es wird Zeit, dass du deine Lebensweise änderst. Du bist ein Decimus. Das bedeutet eine gewisse Verantwortung. Und du bist alt genug, um diese Verantwortung auch endlich zu übernehmen.“ Sie musterte ihn scharf. „Wochenlang deine Zeit mit Nichtstun zu verbringen, gehört da ganz sicher nicht dazu. Abgesehen davon, dass du deiner Familie auf der Tasche liegst, ohne bisher irgendwelche Anstalten gemacht zu haben etwas davon zurückzugeben in Form eines Engagements, das uns allen nützen kann – du vergeudest dein Potential.“
Der Pompeius schien ihre Geduld auf die Probe stellen zu wollen... in jedem Fall rückte er noch immer nicht damit heraus, was er denn nun eigentlich für sie hatte, sondern erging sich in weiteren Andeutungen. Die Seiana dann allerdings doch ein wenig verwunderlich fand... oder auch wieder nicht, jedenfalls nicht dann, wenn es dem Procurator nur darum ging, sie zappeln zu lassen. Entsprechend ließ sie ihre rechte Augenbraue ein kleines Stück nach oben wandern, um ihre Verwunderung auch für ihn kenntlich zu machen, während ihr Lächeln nun eine leicht sarkastische Note bekam. „Wenn es konkret um meine Person geht bei diesem Gespräch... Nun, dann wundere ich mich doch ein wenig darüber, dass nach deiner Einladung jeder Mitarbeiter der Acta für diesen Termin geeignet gewesen wäre... Seit wann ist es Usus in der Kaiserlichen Kanzlei, Dinge, die jemanden persönlich betreffen, stattdessen mit dessen Untergebenen zu besprechen? Noch dazu wo es um eine... außerordentlich wichtige Aufgabe geht, wie du sagst?“
Nein. Dass es darauf hinauslief, damit hatte sie gerechnet nach der Geschichte über Transtiberim... aber dass er das so schlicht und offenherzig zugab, überraschte sie. Genauso wie der Wandel, den seine Miene ein weiteres Mal vollzog, dieses Mal in die andere Richtung, zu Düsternis. Fast fröstelte sie es ein wenig bei dem Gedanken, was der Ausdruck auf seinem Gesicht nun zu erzählen schien, und für den Moment war sie selbst verlegen um Worte, hätte nicht gewusst, was sie hätte sagen sollen auf dieses simple Nein hin, was sie hätte tun sollen außer es ebenso einfach zu akzeptieren wie er es aussprach – da fügte er noch eine Begründung an, eine, die sie zunächst einfach nur verwirrte. Es war ihm nicht gestattet. Nicht gestattet. Nicht gestattet?
Es dauerte einen langen Moment – für jemanden wie sie, die sich doch durchaus einbildete einen scharfen Verstand zu besitzen, fast schon beschämend lang –, bis sie schließlich begriff. „Senator“, wisperte sie, so leise, dass es sogar für ihn fast schon zu leise sein mochte, während das Begreifen in ihr dämmerte. Der einzige Grund, warum es jemandem nicht gestattet sein könnte, je Aegyptus zu sehen. Sie sah ihn an, hielt seinem Blick stand, suchte ihn, jetzt wo er ihr nicht mehr auswich, und Stück für Stück setzte ihr Verstand die Teilchen zusammen, begann sie zu realisieren, was das zu bedeuten hatte. Ein Senator. Versteckt in diesem Haus. Von ihrem Bruder. Entsetzen mischte sich in die Erkenntnis. Was um alles in der Welt hatte er da getan? Einem Hochverräter Obdach geboten! Ausgerechnet er, der Prätorianerpräfekt, ausgerechnet er, der so überzeugt davon war, dass Salinator der wahre Kaiser war und deshalb trotz all seiner Fehler als solcher verteidigt werden müsse... und trotzdem hatte er hier einem der Verschwörer Schutz geboten – nichts anderes machte letztlich Sinn... kein Senator würde sich sonst als Biblithecarius im Haus des Prätorianerpräfekten verstecken. Faustus, was hast du getan... Für einen winzigen Moment schloss Seiana die Augen. Als ob sie nicht schon genug Probleme hätte. Wenn das herauskam...
Sie schob diesen Gedanken rigoros einen Riegel vor. Es würde nicht herauskommen. Schon allein, weil es nicht herauskommen durfte. Und wer würde schon ausgerechnet den Gardeanführer, der sich bei öffentlichen Auftritten stets schwungvoll als Befürworter des Vescularius präsentiert hatte, verdächtigen, einen seiner Gegner zu schützen.
Seiana öffnete die Augen wieder, sah ihn auf sich zukommen und machte unwillkürlich einen winzigen Schritt zurück, bevor sie sich wieder daran erinnerte wer sie war, wer er war, und dass das hier ihr Haus war – und stehen blieb. Und immer noch gab es Teilchen, die beständig an ihren Platz fielen. Sie musterte sein Antlitz, das nun so dicht vor ihr war, ging in Gedanken die Namen der Verschwörer durch, und jetzt reifte auch die Erkenntnis in ihr, wer von ihnen da vor ihr stand. Sie hatte ihn nicht oft genug gesehen, sei es nun bei offiziellen Anlässen oder eher privateren wie dem Hochzeitsempfang des Aurelius Ursus, als dass sie ihn gleich auf Anhieb erkannt hätte – aber dann doch oft genug, dass es ihr jetzt wie Schuppen von Augen fiel. Wie von selbst hob sich eine ihrer Hände, näherte sich seinem Gesicht, als sie die Züge zu erkennen begann, aber ihre Finger zögerten, bevor sie ihn tatsächlich berühren konnte, überwanden diese letzte Barriere dann doch nicht. Für einen Moment verharrten ihre Finger so, dann ließ Seiana ihre Hand wieder sinken. Was sie da gerade erfahren hatte, was sie sich selbst zusammengereimt hatte, war... viel. So unglaublich viel, dass es ihr nach wie vor die Sprache verschlagen hatte, scheinbar, was sie erst jetzt bemerkte, Momente später, wo sie endlich versuchte Worte zu finden, die sie ihm entgegnen konnte. Es dauerte noch eine kleine Weile weiter, in der sie einfach sprachlos vor ihm stand, aber als sie dann schließlich antwortete, war es die einzige Antwort, die für sie in Frage kam. „Ich stelle die Entscheidungen meines Bruders nicht in Frage.“ Nicht vor anderen jedenfalls. Wenn überhaupt, dann nur vor ihm direkt. In ihrer immer noch leisen Stimme war die unbedingte Loyalität zu hören, die sie gegenüber ihrem Bruder empfand. Sie würde Faustus nie verraten, ganz gleich, womit er sie auch konfrontierte, ganz gleich, was er auch von ihr verlangte. „Sein Wort gilt auch für mich. Wenn er beschlossen hat, dass dir dieses Haus offen steht, dann ist es so, egal aus welchen Gründen, und egal wo er sich befindet. Darauf kannst du dich verlassen.“
Regungslos lauschte Seiana dem Eröffnungsplädoyers des Anklägers. Sicher und solide vorgetragen, wie zu erwarten war, fasste die Rede zusammen, was dem Angeklagten zu Last gelegt wurde. Sie musterte die Beteiligten, den Octavius, den Kaiser, vor allem aber den Vinicius, der kaum wieder zu erkennen war... und schwieg, beinahe unerträglich lange schwieg, bis der Kaiser schon einfach weiter machen wollte – und der dann doch noch die Kraft fand zu sprechen. Und was dann aus seinem Mund kam, dröhnte in Seianas Ohren. Er gab es zu. Alles. Mehr noch, er nutzte diese Gelegenheit erneut für einen Auftritt gegen den Vescularius, für eine Rede gegen seine Herrschaft, als stünde er noch im Senat... Ein Geständnis unter Folter war eine Sache, aber das hier, vor Gericht, in diesen Worten, dieser Form zu wiederholen... das war kein erzwungenes Geständnis. Das hier war echt. Welche Zweifel Seiana auch noch gehabt haben mochte, wer hinter dem Kaisermord steckte, in diesem Moment waren sie ausgeräumt. Es steckten also tatsächlich Senatoren dahinter, und nicht etwa der Vescularier selbst. Schlechte Planung, unglücklicher Zufall, irgendetwas war schief gelaufen dabei, und nun... steuerten sie auf einen Bürgerkrieg zu, und was das Schlimmste war: egal welche Seite gewann – der Kraftakt danach, die gespaltene Gesellschaft wieder zu einen, würde vielleicht mehr kosten als sie ahnten. Und sie war sich nicht sicher, ob einer der beiden ausgerufenen Kaiser wirklich das Zeug dazu hatte. Vescularius würde so agieren wie bisher... jeden Widerspruch mit eiserner Faust unterdrücken – was die Gegner aber nicht für ihn einnehmen, nur mehr und mehr in den Untergrund treiben würde. Und was Cornelius anging, wusste sie es nicht. Wenn dieser gewann und ebenfalls darauf aus war, einfach alles auszurotten, was gegen ihn war, würde Rom noch auf Jahre hinaus bluten... vor allem seine politische Elite.
Mit erstarrter Miene saß sie da und lauschte den Worten... ein wenig fassungslos, nicht, weil sie davon wirklich sonderlich überrascht gewesen wäre – sie hatte durchaus beide Möglichkeiten für plausibel gehalten –, sondern weil sie trotz des Wissens, dass es schon ein Geständnis gegeben hatte, trotz des Wissens darum, was ihr Bruder ihr erzählt hatte, nicht erwartet hätte, dass Vinicius hier noch einmal so klare Worte finden würde. Sein Schicksal war beschlossene Sache, schon bevor dieser Prozess überhaupt begonnen hatte – das hier war eine Farce, da hatte er Recht. Vielleicht hatte er deswegen den Mut gefunden, noch einmal so aufzutreten, weil es ohnehin nichts brachte. Vielleicht war es auch etwas anderes, was ihn dazu trieb. Was auch immer es allerdings war – mit diesem Auftritt hätte sie einfach nicht gerechnet, und dass er so gar keine Reue, kein Bedauern darüber zeigte, dass es in seinen Augen nötig gewesen war, den Kaiser und seine Familie zu ermorden, machte es schwer verdaulich.
Der Procurator selbst war es, der öffnete... und schien überrascht, sie hier stehen zu sehen. Seiana bedeutete ihrem Sklaven mit einem Wink, draußen zu warten, während sie selbst eintrat und dem Pompeius ein kühles Lächeln schenkte. „Zu einer Besprechung mit dem Procurator a libellis? Selbstverständlich kümmere ich mich um solche Dinge selbst.“ Sie hatte noch überlegt, ob sie gehen sollte oder nicht, immerhin war die Einladung offen formuliert gewesen... oder besser gesagt: es war beinahe schon eine explizite Aufforderung gewesen, irgendjemanden zu schicken, nur nicht selbst zu kommen. Genau das allerdings hatte sie wieder stutzig werden lassen. Man hätte es ihr als Beleidigung des Procurators auslegen können, wenn sie sich darum nicht selbst gekümmert hätte. Oder man hätte es als Feigheit betrachten können, wenn sie nicht kam... vor allem nach ihrem letzten Aufeinandertreffen, und mehr noch dem, was zwischen ihr und seiner Frau gerade herrschte. Und beides war etwas, was Seiana nicht zulassen würde. Sie würde Pompeius weiterhin mit ausgesuchter Höflichkeit behandeln, wie auch schon zuvor – ganz im Gegensatz zu ihm wie sie fand, wenn sie daran zurückdachte, wie er sie zuerst eingeladen hatte, nur um sie dann wieder hinaus komplimentieren zu können. Und man konnte ihr vieles vorwerfen, aber Feigheit gehörte sicherlich nicht dazu. „Verzeih dass ich den ersten Termin nicht wahrnehmen konnte und um einen zweiten bitten musste. Die Einladung erfolgte leider zu kurzfristig.“ Noch so ein möglicher Hinweis darauf, dass es gewollt war, dass sie jemand anderen schickte.
Sie setzte sich auf den ihr angebotenen Sessel und musterte den Procurator. Sein Grinsen gefiel ihr nicht... erst recht nicht in Verbindung mit der Offenbarung, der Kaiser hätte sich mit ihm über sie unterhalten. Davon ließ sie sich allerdings nichts anmerken. Stattdessen lächelte sie nur erneut kühl und deutete ein leichtes Nicken an. „Nun, welche Botschaften sind es, die du für mich hast?“
Seiana lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust, während sie Casca dabei beobachtete, wie er die Tür etwas zu laut schloss, um dann näher zu kommen und sich zu setzen. Kaum war er da, löste sie ihre Haltung genug, um sich vorzubeugen – und er musste nur den Mund aufmachen, da war seine Weinfahne zu riechen. Ihre Augenbrauen wanderten ein gutes Stück weit nach oben, während sie sich langsam erneut zurücklehnte und ihn tadelnd musterte. „Du bist betrunken.“ Sie fragte noch nicht einmal, sie stellte es einfach fest. Wozu auch fragen? Wäre Casca ein Gleich- oder Höhergestellter gewesen, Seiana wäre entweder elegant darüber hinweg gegangen und hätte versucht, das Beste daraus zu machen, oder sie hätte einen Vorwand gefunden, das Gespräch zu beenden und ein andermal zu führen. Er war jedoch keines von beiden... und damit war es vielleicht goldrichtig so, dass er so zu ihr kam. Einer musste ihm ja mal den Kopf waschen. Umso besser, wenn sich dafür auch noch ein konkreter Anlass bot, zusätzlich dazu, dass er die Zeit seit seiner Ankunft hier damit zugebracht hatte, auf mehr oder weniger kreative Weise nichts zu tun.
HIERMIT ERNENNE ICH
Marcus Iulius Dives
ZUM PRAECEPTOR DER
SCHOLAE ATHENIENSIS
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ANTE DIEM V KAL FEB DCCCLXIII A.U.C. (28.1.2013/110 n.Chr.)
Aufmerksam hörte Seiana zu, wie der Helvetier ihr seinen bisherigen Werdegang beschrieb. Als er geendet hatte, nickte sie langsam. „Nun, deine Jugend wird dir nicht im Übermaß im Weg stehen, denke ich. Wir haben einige junge Lehrkräfte hier, gerade für die Allgemeinkurse. Und da sich die Entlohnung nach tatsächlich durchgeführten Kursen richtet, ist es weniger ein Problem, dass die Schola für dich eine Nebentätigkeit bedeutet – wir brauchen nur eine gewisse Planbarkeit, aber diese hängt nicht von deinem Zeitkontingent ab.“ Sie räusperte sich. „Was du von deinen bisherigen Erfahrungen erzählst, klingt durchaus gut. Mein Vorschlag wäre: du wirst auf Probe als Praeceptor eingestellt, zunächst für allgemeine Studien. Wenn du dich beweist, bleibst du Praeceptor und kannst deine Lehrtätigkeit auch auf Spezialgebiete erweitern. Was sagst du dazu?“
Seiana musterte den Iulius noch einen Moment eingehend – dann nickte sie, durchaus zufrieden. Selbst wenn ihm danach gewesen sein sollte ihr zu widersprechen, war er klug genug, das nicht zu tun, und das hieß doch etwas... nicht viele kamen damit klar, eine Frau als Vorgesetzte zu haben, was mit einer der Gründe war, warum Seiana sich angewöhnt hatte, zwar sehr viel auf kühle Höflichkeit, aber nicht mehr viel auf Harmonie zu geben, schon gar nicht in Gesprächen mit – potentiellen – Mitarbeitern. Je eher sie begriffen, dass sie am längeren Hebel saß und diesen auch einzusetzen gedachte, desto besser für alle Beteiligten. „Sehr gut.“ Jetzt hatte ihr Lächeln wieder ihre übliche, kühle Höflichkeit. „Dann, denke ich, spricht nichts gegen eine Einstellung auf Probe. Mein Scriba im Vorzimmer kann dir die wichtigsten Informationen geben, die du benötigst, wer die Stundenpläne anfertigt, wo du Unterlagen zu Kursen findest, wo die Officien der Lehrkräfte sich befinden, derartiges... Hast du an mich noch irgendwelche Fragen?“
Als Cascas Stimme plötzlich erklang, sah Seiana irritiert auf. Hatte er geklopft? Wenn ja, hatte sie nichts gehört, und so oder so hatte er nicht auf ein Herein gewartet... wenn er denn überhaupt geklopft hatte. Mit gerunzelter Stirn musterte sie ihn, seinen Aufzug, seine Frisur, seine seltsame Haltung mit der Hand vor der Brust... und ihr Stirnrunzeln wurde noch tiefer, als sie seinen Schluckauf hörte. „Ein Klopfen ist angebracht, bevor man einen geschlossenen Raum betritt, Casca“, war das erste, was sie mit leichtem Tadel in der Stimme sagte. Angesichts der Tatsache, dass sowohl sie als auch Faustus sich mit Massa überworfen hatten, sollte sie mit seinem jüngeren Bruder vielleicht etwas vorsichtiger umgehen... dennoch gab es gewisse Grenzen. Und Massa hatte sich ohnehin schon seine Meinung über sie gebildet. Darüber hinaus... nun ja. Er war nicht hier, um Casca Benehmen beizubringen, also musste das zwangsläufig jemand anderes übernehmen. „Komm herein, wo du nun schon da bist. Setz dich.“
Unwillkürlich zeigte sich auch auf ihrem Gesicht ein Lächeln, als sie das seine sah, das so ehrlich wirkte und ihn für einen Moment anders, beinahe glücklich wirken ließ.
Dann allerdings horchte sie auf. Transtiberim? Zuvor hatte er noch gesagt, sie hätten sich in Alexandria kennen gelernt, als Faustus dort sein Tribunat abgeleistet hatte... Ihre Brauen zogen sich leicht zusammen, während sie Atons Erzählung lauschte und ihn musterte. Er wirkte offener, jetzt, beinahe gelöst, ganz sicher nicht so, als ob er log, und nach dem, was er so von sich gab, konnte Seiana sich inzwischen vorstellen, welcher Art die Bekanntschaft zwischen ihm und ihrem Bruder sein mochte. Dass sie darüber niemandem etwas erzählten, wunderte sie weniger... und wie Aton zwischendrin stockte, zu überlegen schien, bevor er weitersprach, fand sie auf gewisse Art fast schon liebenswürdig. Was sie aber nicht begriff war: warum darüber lügen, wo sie sich kennen gelernt hatten? Warum allen erzählen, sie kannten sich aus Ägypten? Welchen Grund konnte es dafür geben? Sie musterte ihn weiterhin, eingehender, versuchte nun wieder festzustellen, was es war, dass sie zuvor schon hatte aufmerksam werden lassen... das Gefühl ihn zu kennen, und das Gefühl, dass sein Habitus nicht der eines Peregrinen zu sein schien. Sie hatte diese Gedanken beiseite geschoben, aber jetzt, wo Aton selbst mit einem Bruch aufwartete in seiner Geschichte, dachte sie wieder daran. „Und es lag nahe, dich in unsere Bibliothek zu holen, bei eurer gemeinsamen Leidenschaft“, erwiderte sie ruhig. Für Augenblicke überlegte sie, ob sie ihn darauf ansprechen sollte. Er selbst schien gar nicht gemerkt zu haben, dass er seiner eigenen Geschichte zuvor widersprochen hatte, und Seiana war sich nicht so sicher, ob sie es ansprechen sollte... Faustus hatte seine Gründe, wenn er log, und sie würde ihm nie in den Rücken fallen. Ihr Bruder allerdings war nicht hier... und wer wusste schon, wann er wieder kommen würde. Oder ob. Wenn irgendetwas passierte, was Faustus betraf, lag es an ihr, sich darum zu kümmern – und dafür musste sie Bescheid wissen. Dafür wollte sie Bescheid wissen. „Warst du jemals in Aegyptus, Aton?“ fragte sie also schließlich – rundheraus, weil sie glaubte, dass das der beste Weg war... und ihr auch kein anderer einfiel, wie sie sich dem Thema sonst hätte nähern können.
Seiana war ein wenig überrascht, als Dexter sich so schnell schon wieder verabschiedete... und sie kam nicht umhin sich zu fragen, ob das nicht nur eine Ausrede war, etwas, das er vorschob, um schnell verschwinden zu können – zumindest hatte er bis gerade eben noch nicht den Eindruck gemacht, als würde sein Vater bereits warten. Aber nun, andererseits war sie jetzt vermutlich noch weniger als sonst das, was man als angenehme Gesellschaft bezeichnen würde. Insofern war es wohl verständlich, dass Dexter fort wollte. Und so nickte Seiana nur leicht und setzte ein vages Lächeln auf. „Einen schönen Abend wünsche ich dir noch.“