Seiana hatte einen langen Tag hinter sich, als sie die Via Appia schließlich erreichte und auf das Grabmal der Iunier zuhielt. Es war früher Abend... der Mond war bereits zu sehen, schwach leuchtend stand er am immer noch hellen Abendhimmel. Erhalten hatte sie das Gedicht bereits am Morgen, und noch am Vormittag hatte sie die Acta verlassen. Wenn sie abends noch unterwegs war, brauchte sie eine gute Begründung... und sie hätte sich auch dann eine einfallen lassen, wenn ihr Mann ihr nicht von seinem Verdacht, seinem Misstrauen mitgeteilt hätte.
Entsprechend hatte sie heute sämtliche ihrer in Rom ansässigen Betriebe und Güter besichtigt, eine unangekündigte Überprüfung, ob auch alles seinen rechten Gang ging und die Bediensteten vernünftig arbeiteten. Das war etwas, was sie in den vergangenen Jahren bereits hin und wieder getan hatte. Es trieb die Untergebenen an, wenn sie damit rechnen mussten, dass sie jederzeit im Raum stehen könnte. Und gerade in dieser Zeit bot sich ein solcher Besuch noch viel mehr an, weil die Unruhe, der drohende Bürgerkrieg und die damit verbundenen Schwierigkeiten bei Lieferung und Geschäft manchen vielleicht dazu verleiten mochte, es nicht ganz so genau zu nehmen... mit der Arbeit, den Produkten, den Finanzen. Der Vorteil war: sie hatte solche Besuche selbst in ihrem Sklavenkreis nie groß angekündigt, nur unter ihren Vertrauten, um zu vermeiden, dass jene in den Geschäften gewarnt wurden – weil es Solidarität gab unter Sklaven, und in manchen Fällen Freundschaften. Insofern war es nicht verwunderlich, dass sie dafür von ihrem sonst in der Regel durchgeplanten Tagesablauf abwich, ohne das groß erzählt zu haben... und die Vertrauten unter ihren Sklaven würden genau das weiter geben: dass sie vorher davon gewusst hatten. Und weil sie dieses Vorhaben zwangsläufig bis nach Ostia führte, wo ihr Fernhandel seinen Hauptsitz hatte, war auch erklärt, falls sie über Nacht nicht zurückkam. Aber mit ein bisschen Glück fiel es ihr Mann überhaupt nicht auf, dass sie erst spät heimkommen würde, oder erst morgen... es kam nicht gerade selten vor, dass sie sich tagelang nicht sahen, weil zumindest ihr Alltag nach wie vor mit viel Arbeit angefüllt war.
Sie zögerte ein wenig, als sie das Familiengrab der Iunier schließlich erreicht hatte – entschied sich aber dann dagegen, gleich hineinzugehen. Es konnte immer noch sein, dass sie falsch gelegen hatte mit ihrer Interpretation. Falls niemand da war, war das kein Problem, aber sie würde in Erklärungsnöte kommen, wenn jemand anders gerade da war und sie sah. Sie winkte einen ihrer Leibwächter heran – Bran, der eine recht... eigene Art hatte, oder besser gesagt: reichlich unverschämt war, und damit ziemlich ungeeignet, irgendwelche Aufgaben zu übernehmen, die in irgendeiner Form höflichen Kontakt mit anderen Leuten erforderte. Was aber auch hieß, dass er in der Regel immer im Hintergrund blieb und sein Gesicht kaum direkt mit ihr in Verbindung zu bringen war, wenn er irgendwo allein gesehen wurde, anders als Álvaro. Bran war es also, der zuerst die Grabstätte der Iunier betrat und sich vorsichtig umzusehen begann.