Sie neigte sich nach vorn und schenkte ihm einen Wein an, und währenddessen noch runzelte sie flüchtig die Stirn, als sie hörte, was er sagte. Seiana reichte ihm den Wein und fragte sich, was er wohl wirklich wollte. All die Zeit in den vergangenen Wochen und Monaten, in denen sie sich kaum gesehen hatten – und jetzt kam er nur hierher, um über Belanglosigkeiten zu plaudern? Das hätte er einfacher haben können bei der Cena, dafür hätte er nicht extra kommen müssen.
Sie deutete ein Achselzucken an und versuchte sich an einem angedeuteten Lächeln. „Gut, so weit“, antwortete sie zunächst auf seine Fragen. „Die Acta... nun, im Moment ist die Berichterstattung etwas schwierig, wie du dir sicher vorstellen kannst. Die Themen, die die Menschen im Moment am meisten interessieren, sind... sensibel. Dazu kommt ein gewisser Personalmangel. Viele Mitarbeiter haben es vorgezogen, Rom zu verlassen.“ Sie nahm ihren Becher und nippte daran. „Wie sieht es bei dir aus?“
Beiträge von Decima Seiana
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Es war spät am Abend, und Seiana hatte sich bereits zurückgezogen von ihrem Officium in ihr Cubiculum. Mit einer Schriftrolle über das Vierkaiserjahr saß sie in einem bequemen Sessel und las, als es klopfte. Ein wenig überrascht sah sie hoch, weil sie normalerweise um die Uhrzeit nicht mehr gestört wurde, rief ein leises „Herein“, und war dann noch einmal überraschter, als ihr Mann eintrat. Sie hatten seit Beginn ihrer Ehe nicht allzu viel Kontakt zueinander gehabt, sah man einmal von den ersten Wochen ihrer Ehe ab, als sie gemeinsam in Mantua gewesen waren. Seit sie wieder in Rom waren, hatte sich das geändert, die Zeit, die sie seitdem miteinander verbrachten, war recht gering bemessen... und seit der Kaiser ermordet worden war, war sie noch einmal deutlich geschrumpft. Da waren die Wochen gewesen, die sie auf dem decimischen Landgut verbracht hatte während der Unruhen... und auch seit sie wieder hier war, vergingen manchmal Tage, bis sie sich sahen, weil sie sich beide in Arbeit vergruben. Oder zumindest vermutete sie, dass es auch bei ihm an der Arbeit lag. Und wenn sie sich sahen, dann tagsüber, oder einer Cena... aber nicht so, nicht hier.
Als sie realisierte, dass sie ihn nun schon einige Momente anstarrte, räusperte sie sich. „Sicher.“ Mit einer Hand wies sie auf den Sessel ihr gegenüber, und noch in derselben Bewegung auf das Tischchen, auf dem Getränke standen. „Setz dich doch. Möchtest du etwas?“
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Seiana folgte ihrem Bruder in den Garten hinaus, ihre Palla eng um sich geschlungen, weil es doch noch ziemlich frisch wurde um diese Uhrzeit. Sie musterte die Plätze, auf die Faustus wies, und deutete ein Nicken an bei letzterem. „Da wäre gut, denke ich. Der Busch kann wirklich weg...“ meinte sie, aber so ganz bei der Sache war sie nicht. Sie glaubte nicht so recht, dass Faustus wirklich ihren Rat dabei wollte, wo genau dieser neue Schrein hinkommen sollte. Das konnte er nun wirklich selbst entscheiden, zumal sie ja nicht mal mehr hier wohnte... der Verdacht lag also nahe, dass das hier nur ein Vorwand war. Und sie sehnte sich danach, mit ihm zu reden, ihn für sich allein zu haben, endlich, auch wenn da nach wie vor noch der Stachel saß, dass er erst jetzt, nach dem Essen, mit ihr reden wollte. Aber das war im Moment egal. Jetzt nahm er sich Zeit für sie, das zählte. Und tatsächlich schob er bald das Thema des Schreins fort und setzte sich an den Rand des Brunnens. Seiana ließ sich neben ihm nieder, schwieg Momente lang, schloss die Augen und lauschte einfach nur auf seinen Atem, seine Wärme, seine Nähe. Sie griff nach seiner Hand, die neben der ihren lag, und verschränkte ihre Finger mit seinen. „Du... hast mir gefehlt.“ Sie brachte es, jedenfalls in diesem Augenblick, nicht fertig laut auszusprechen wie sehr. Oder welche Sorgen sie sich um ihn gemacht hatte.
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Seiana zog eine Augenbraue hoch. „Ich weiß offen gestanden nicht, woher du deine Beobachtungen nimmst, Flavus. Zumal du jetzt lange Zeit nicht in Rom warst. Abgesehen von den Prätorianern, die sich in Misenum aufgehalten haben, um dort den verstorbenen Kaiser zu schützen, waren sie auch in den vergangenen Jahren nicht über das Reich verteilt, sondern hier, in Rom, wo ihr Platz ist. Sicher, die Einheiten in Misenum wurden nun abgezogen, aber das ist selbstverständlich, weil der neue Kaiser hier in Rom ist. Das Verhalten der Garde ist nun wirklich nicht sonderlich auffällig. Erhöhte Wachsamkeit, das ja, aber das ist normal in diesen Zeiten.“ Bei den folgenden Worten verzog sie ihre Lippen zu einem Lächeln... hätte sie allerdings geahnt, was Flavus dachte, hätte sie wohl eher ihre Brauen noch höher gezogen – denn woher Flavus nun das nahm, dass ihr Mann angeblich nicht mit ihr sprach, war ihr beim besten Willen schleierhaft.* „Wir“, erwiderte sie betont und trotz des Lächelns nun mit einer leichten Schärfe in ihrem Tonfall, „fragen ihn so oder so nichts. Du kannst dein Glück gerne versuchen. Was auch immer ich aber mit meinem Mann bespreche, geht nur ihn und mich etwas an.“ Es war eine Sache, die eigene Familie zu unterstützen – aber eine völlig andere, vorbehaltlos alles mit jedem Verwandten zu teilen. Und die Selbstverständlichkeit, mit der Flavus dieses wir aussprach, mit der er davon auszugehen schien, dass sie mit ihm über das reden würde, was ihr Mann ihr im Vertrauen erzählte, störte sie dann doch etwas.
„Nun, nicht nur der Ruf der Familie, auch dein eigenes Weiterkommen hängt daran. Wie gesagt: die Anstrengung wird sich sicher für dich auszahlen.“ Sie nickte leicht. „Finanziell auf eigenen Beinen zu stehen, ist sicher ebenfalls ein guter Ansatz. So weit ich weiß, hat Faustus von Onkel Magnus einige Betriebe geerbt... mehr, als er allein verwalten darf. Ich bin mir sicher, dass er dir ein oder zwei überlässt, wenn er wieder nach Hause kommt.“ Und wenn er nicht wieder nach Hause kam, wenn er irgendwann für tot erklärt werden würde... dann würde sie wohl den Großteil erben. Und ebenfalls verteilen können. Aber daran wollte sie nicht einmal denken, geschweige denn es laut aussprechen. „Und denk dir nichts, dass du unterstützt wirst. Das ist normal in einer Familie. Wenn du auf deinem Weg ein Stück voran gekommen bist, werden auch wieder Jüngere nachkommen... die du dann wieder unterstützen kannst.“
Sim-Off: *Zum letzten Mal die Bitte: lass deinen Charakter keine Dinge wissen, die er gar nicht wissen kann – und auch keine, die so nicht ausgespielt wurden. Danke.
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Seiana trank ebenfalls einen Schluck, dann rückte sie ein wenig zur Seite, als Faustus nun begann seine Rüstung abzulegen – und setzte sich schließlich auf den Korbstuhl, der direkt bei seiner Kline stand. Sie nahm sich etwas von dem Essen, hielt sich aber – wie im Grunde eigentlich immer – ziemlich zurück, und deutete dann ein Lächeln an. „Nicht so viel anders, um ehrlich zu sein. Weniger Ecken, in denen ich unerkannt bleibe. Mehr Schutz.“ Mittlerweile ging sie ohne Leibwächter im Grunde nicht mehr aus dem Haus, und sie vermutete mal, dass auch ihr Mann ein Auge auf sie haben ließ. Als Auctrix war das noch ein wenig anders gewesen... aber nicht allzu sehr. Sie aß einen weiteren Bissen und hielt dann kurz inne, um Faustus überlegend anzusehen. „Ein Schrein für Fortuna...“ meinte sie, nachdem sie geschluckt hatte. Ich schulde ihr wirklich was. Meinte er damit all das, was früher passiert war, bis hin zu der Sache auf dem letzten Feldzug? Oder hatte ihm seine neueste Mission etwa noch einen weiteren Grund geliefert, Fortuna dankbar zu sein? Seiana begann langsam zu befürchten, dass die Göttin es irgendwann leid sein könnte, ihm beizustehen. „Das ist eine gute Idee“, antwortete sie deshalb mit Nachdruck. „Ja, wir können das gerne mal ansehen... Platz ist da auf jeden Fall noch. Vielleicht auch weiter vorne, wo man ihn dann besser sehen kann? Wenn du ihr doch was schuldest.“ Sie lächelte leicht und wollte gerade noch etwas anfügen, als Catus plötzlich in der Tür stand. „Salve, Catus“, grüßte sie ihn und sah dann kurz zu Faustus, anschließend zu Varenus und seiner Familie. So weit sie wusste, kannten sie sich noch nicht, und zumindest Catus' etwas zögerliche Reaktion schien das zu bestätigen. „Wenn ich vorstellen darf: Marcus Catus. Er kurz nach Faustus' Abreise aus Griechenland zu uns gekommen und lebt seitdem hier.“ Sie verschwieg, dass sie misstrauisch gewesen war am Anfang, dass sie ihn in der ersten Zeit hatte beobachten lassen. Sie kannte nur wenige griechische Decimi wirklich, und bevor sie zu naiv war und einem Betrüger aufsaß, war sie lieber zu misstrauisch... und Catus hatte kaum etwas von seiner Familie hatte erzählen können, hatte selbst gesagt, dass er lange Jahre fort gewesen war von Griechenland. Spätestens als Massa dann allerdings irgendwann bestätigt hatte, dass Catus ein Verwandter von ihm war, war dieses Thema stillschweigend erledigt gewesen, also gab es keinen Grund – jedenfalls nicht jetzt, vor allen anderen – Faustus darüber zu informieren. „Catus, das hier ist mein Bruder Faustus Serapio. Dort sitzt Titus Varenus mit seiner Familie...“, sie stellte auch Frau und Kinder kurz vor, „und Flavus dürftest du ja bereits kennen gelernt haben.“
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Seiana spürte einen flüchtigen Hauch von... ja, was war es? Fast könnte sie meinen, es wäre etwas wie Freude... ein warmes Gefühl in ihrer Magengegend, als er sagte, dass er länger bleiben würde wenn er könnte. Was auch immer es war, es verflog allerdings recht schnell wieder, als der Iunius fortfuhr. Natürlich. Er würde gerne bleiben, weil auch für ihn die Zeiten in Rom nicht einfach waren, und nicht etwa, weil er tatsächlich gerne in ihrer Gesellschaft geblieben wäre. Und trotzdem spürte sie diesen leichten Hauch erneut – völlig irrsinnig und irrational –, als er sagte, dass er keine Frau hatte, auch nicht inoffiziell. „Warum nicht?“ fragte sie beiläufig nach. Und hörte dann wieder eine Weile stumm zu, als er erneut über sie sprach. Schwieg. Ließ die Worte sacken. Und überlegte, bevor sie schließlich antwortete. „In Rom ist es eindeutig besser. Dort gibt es genug zu tun, wie du schon gesagt hast. Aber es ist...“ Sie deutete ein leichtes Kopfschütteln an und lächelte erneut, vage, und wieder mit einem Hauch von Traurigkeit. „... nur bedingt besser, weil die Abende trotzdem nur allzu häufig ähnlich sind. Es kommt immer der Moment, in dem man fertig ist mit der Arbeit für den Tag... und dann...“ Sie ließ den Satz offen und musterte ihn eingehend und begann tatsächlich das Gefühl zu haben, dass er sie verstand, wenigstens was die Einsamkeit anging. „Wenn du es kennst, allein zu sein, dann weißt du, wovon ich rede. Es wird irgendwann zu viel. Dazu kommen Gedanken, von denen man sich manchmal zu viele macht.“ Konnte man daran wirklich wachsen? Sie dachte an den Sicinius. An Archias. An die Durchsuchungen der Prätorianer. An all die Verantwortung, die auf ihren Schultern gelegen hatte, all die Zeit allein in Rom, als einzige Decima hier. Bis zu einem gewissen Grad war sie daran vielleicht gewachsen, aber über diesen Punkt war sie wohl schon hinaus. Sie räusperte sich. „Wie hättest du mich denn eingeschätzt?“
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Seiana war sich nicht so sicher, ob er wirklich verstand – und seine nächsten Worte bewiesen, dass er es nicht tat. Lange musst du nicht mehr durchhalten. Sie schloss für einen kurzen Moment die Augen und fragte sich, wie es wohl wäre, wenn dieser Zwang nach Beschäftigung endlich weg wäre. Wenn sie es einmal würde genießen können, einfach nichts zu tun. Sie konnte es sich nicht einmal wirklich vorstellen. Nein, wenn sie tatsächlich zurück nach Rom konnte, würde es nicht aufhören. Es würde nur besser werden, und das auch nur, weil sie dort genug Ablenkung haben würde.
Allerdings zögerte sie, ihn zu korrigieren. Ihn darauf hinzuweisen, dass ihre Worte nicht so gemeint gewesen waren. Dass sich durch den Müßiggang des Landguts nur alles verstärkte, aber dass ihr Aufenthalt hier nicht die Ursache war. Vielleicht war es besser so, wenn er so dachte. Ganz sicher war es klüger, ihn in diesem Glauben zu lassen und das Gespräch zu beenden. Sich nicht noch weiter zu öffnen als ohnehin schon. Kein Risiko einzugehen.Sie war nahe dran, sich tatsächlich so zu verhalten – ihm Recht zu geben, mit einem Lächeln, sich dann noch ein wenig zu unterhalten, damit es nicht zu unhöflich wirkte, und ihn dann bitten ihr Zimmer zu verlassen. Sie war nahe dran, den sicheren Weg zu gehen. Aber dann, bevor sie etwas sagen konnte, hörte sie seiner Stimme erneut, und was er sagte, ließ sie für einen Moment die Lippen aufeinander pressen – und ihren gerade erst gefassten Beschluss vergessen. „Vielleicht. Aber ich glaube nicht.“ Sie kannte den Terentius nach wie vor nicht sonderlich gut, aber der Eindruck, den sie von ihm sowohl vor als auch nach der Hochzeit gewonnen hatte, war der eines langgedienten, hochrangigen Militärs – mit allen Vor- und Nachteilen, die das hatte. Und zu den Nachteilen gehörte eindeutig, dass er sich nicht viel von anderen sagen ließ. Oder dass er sie gerne mal wie einen seiner Soldaten behandelte, anstatt mit ihr zu reden. Und dazu gehörte auch, dass er sie vor vollendete Tatsachen stellte, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, und dass er erwartete, dass sie gehorchte, ohne Widerspruch. Was sie vermutlich zu häufig auch einfach tat, schon allein um Ärger zu vermeiden. „Er...“ Nein. Sie wollte jetzt nicht über ihren Mann reden. Schon gar nicht mit dem Iunius, der einer seiner Untergebenen war. „Und selbst wenn, würde es nur bedingt etwas ändern“, fügte sie also stattdessen an, und ohne es bewusst zu wollen, ja, ohne es selbst zu merken, verteidigte sie mit ihren Worten auch ein wenig ihren Mann. Er mochte nicht der beste aller Ehemänner sein, aber er war auch nicht der schlechteste. Und ihre Probleme lagen nicht an ihm. „Hier, in dieser Situation, unter diesen Umständen, ist es nur... stärker. Es ist... Es liegt an mir. Ich bin nicht gut im Alleinsein.“ Sie lächelte traurig. Für einen Moment hielt sie seinem Blick noch stand, dann wich sie aus und richtete ihre Augen irgendwo schräg hinter ihm auf die Wand, während ihr Blick ins Leere ging. „Ich bin unabhängig, ich sorge für mich selbst, und darin bin ich gut... aber nicht darin, allein zu sein. Nicht darin, mit mir selbst klar zu kommen, wenn nichts mehr da ist, was mich ablenkt.“
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Einen Moment herrschte Schweigen. Er hatte sich inzwischen hingesetzt, sie lehnte am Fenster, und es herrschte Schweigen... keines von der unangenehmen Sorte, jedenfalls hatte Seiana diesen Eindruck. Das allerdings mochte auch nur daran liegen, dass sie sich gerade wohl fühlte, dass sie seine Gesellschaft mochte und froh war, dass er zugestimmt hatte ein wenig zu bleiben.
Als der Iunius dann allerdings doch wieder sprach, verschlug das, was er sagte, Seiana für Augenblicke die Sprache. Warum war sie so leicht zu lesen, kaum dass sie sich etwas öffnete? Warum gab es keinen Mittelweg – warum hatte sie immer nur die Wahl zwischen einer kompletten Maske, die nichts durchließ, weder nach außen noch nach innen... oder jener Offenheit, bei der sie unbeabsichtigt viel zu viel über sich verriet?
Diesmal war sie es, die das Schweigen lang werden ließ, die nichts sagte. Sie starrte ihn an und suchte nach Worten. Nach solchen, die die seinen als lächerlich abtun würden. Nach solchen, die Empörung ausdrückten. Nach solchen, die einfach darüber hinweg gingen. Aber sie fand keine. Vielleicht lag es an der Atmosphäre dieser späten Stunde, zu der ihr Cubiculum nur von einigen Öllampen erhellt war, vielleicht an der Einsamkeit hier, die so verstärkt wurde durch den Mangel an Ablenkung, vielleicht daran, dass sie sich heute ja schon Stück für Stück geöffnet hatte... vielleicht lag es auch daran, dass sie sich nach ihrem Bruder sehnte. Nach der Vertrautheit und Geborgenheit, die Faustus bedeutete, und dass der Iunius mit seiner ruhigen und so sicheren Art sie ein wenig daran erinnerte, auch wenn er sonst mit Faustus nicht allzu viel gemein zu haben schien. So oder so fand sie keine Worte, um die seinen einfach abzutun.„Von Schönheitsschlaf kann kaum die Rede sein“, entgegnete sie schließlich zunächst, in einer seltsamen Mischung aus Spott und Bitterkeit. Sie sah nach unten, hob eine Hand auf Nabelhöhe und betrachtete sie, zuerst Innenfläche, die nach oben wies, dann drehte sie die Hand und spreizte die Finger. Sie wollte nicht allein sein. Und doch hatte sie das Gefühl, dass sie es schon seit Jahren war. Der einzige, der ihr bislang dieses Gefühl nehmen konnte, war Faustus, aber der war nicht da, wie so oft in den vergangenen Jahren, und wie so oft wusste sie noch nicht einmal, ob er überhaupt noch lebte.
Und dann war hier der Iunius, der ähnlich wie Faustus allein schon mit seiner Gegenwart dazu beitrug, dass sie sich nicht mehr so allein fühlte – und ihr jetzt auch noch mit simplen Worten mehr anbot. Mehr Gesellschaft. Mehr Vertrautheit. Freilich auch mehr Risiko, mehr Gefahr, enttäuscht, verletzt zu werden. Aber letzte Zeit hier, die Einsamkeit, ihre vorübergehende Flucht in den Alkohol, bis sie irgendwann zusammengebrochen war, und dieses Gefühl der eigenen Erbärmlichkeit in dieser Lage... ließ das Risiko plötzlich geringer erscheinen, geringer im Vergleich dazu, sich wenigstens für einen Abend nicht mehr allein zu fühlen.
Mit einem hilflosen Verziehen der Mundwinkel, das vielleicht so etwas wie ein Lächeln darstellen sollte, hob sie die Schultern. „Ich...“ begann sie und hörte wieder auf. Da war immer noch diese Sprachlosigkeit. Immer noch diese... dieses Unvermögen, mit dieser Situation angemessen umzugehen – generell Situationen wie dieser, wenn jemand es schaffte ihr zu nahe zu kommen. Und obwohl sie nicht wollte, dass er ihre Worte als Ablehnung auffasste und ging, fiel es ihr schwer, sich noch weiter zu öffnen, allein schon aus Gewohnheit. „Ich brauche Arbeit. Ich brauche... etwas zu tun, das mich ablenkt. Die Grübeleien nehmen sonst überhand. Und die Einsamkeit auch.“ Sie räusperte sich leise. „Hier verstärkt sich das, ist mehr als üblich. Mehr als ich gewohnt bin.“ -
Und ganz wie sie zuvor schon vermutet, ja, fast befürchtet hatte: als sie ihren Bruder erst mal ansah, berührte, seine Stimme hörte, hatte Seiana für Augenblicke keinerlei Aufmerksamkeit mehr übrig für irgendwas sonst. Sie bekam durchaus mit, dass die anderen sich hinsetzten, aber es war ihr egal, und obwohl ein Teil von ihr gegen die Umarmung widersprechen wollte, war einem weitaus größeren Teil auch das egal, dass andere zusahen. Sie schloss für einen Moment die Augen und genoss dieses völlig unvertraute Gefühl, sich geborgen zu fühlen, als Faustus' Arme sich um sie legten, und lächelte schließlich. „Darauf verlass ich mich“, antwortete sie, immer noch leise, bevor sie sich schließlich selbst daran erinnerte, dass sie nicht allein waren. Nicht allein. Genau. Es gäbe so viel zu besprechen... aber für fast nichts davon war das hier der richtige Platz, wo ihnen andere zuhören konnten. Und plötzlich war da wieder dieses Nagen... das Seiana diesmal allerdings rigoros unterdrückte. Auch dafür war hier nicht der richtige Ort.
„Gut. Mir geht es gut“, lächelte sie dann auf seine Frage hin und ließ sich von ihm mit ziehen. Dass er sich auf den Platz des Hausherrn setzte, bemerkte sie durchaus, und das wiederum war eine Tatsache, die sie freute... als er weggegangen war, hatte er noch nicht so gewirkt, als ob er sich wirklich als Hausherr sah, und die Selbstverständlichkeit, mit der er diese kleine Geste nun machte, hieß hoffentlich, dass sich das geändert hatte. Sie brauchten ein Familienoberhaupt, hier in Rom, und das nicht nur dem Namen nach, sondern ein wirkliches, eines, das die Zügel in der Hand hatte und die Familie zusammenhielt. Sklaven hatten ihr berichtet von dem ersten Zusammentreffen von Flavus und Varenus... und wäre Faustus nun nicht schon wieder hier, Seiana hätte ihnen den Kopf gewaschen, wenn das so weiter gegangen wäre mit diesen Kindereien. Nichts war schädlicher, als wenn die Familie im Zwist lag – vor allem dann, wenn man es nicht schaffte, diesen nach außen zu verbergen. Und mehr als ein Alphamännchen, das versuchte, hier als Hausherr aufzutreten, fiel zwangsläufig irgendwann auch anderen auf.
Sie setzte sich neben Faustus auf die Kline, nahm Teller und Becher entgegen und wiederholte: „Auf die Familie...“, bevor sie von dem Wein nippte und sich wieder ihrem Bruder zuwandte. „Wie geht es dir?“ -
Nachdem Seiana von Faustus' Rückkehr erfahren und geopfert hatte aus Dank, hatte sie mit ihrem üblichen Tagesplan weiter gemacht – der freilich ein wenig in Verzug geraten war durch das unvorhergesehen Ereignis. Und durch die Tatsache, dass sie sich etwas durch den Wind fühlte. Ihr Bruder war wieder da. Lebend. Gesund. Oder jedenfalls ging sie davon aus – die Nachricht hätte ganz sicher mehr beinhaltet, wenn es anders gewesen wäre. Nein, Faustus ging es gut, es musste ihm einfach gut gehen. Aber wenn es ihm gut ging, stellte sich ihr erst recht die Frage, warum er sie einfach nur zur Cena einlud. Er hätte ja nicht bei ihr vorbei kommen müssen, das nicht, obwohl sie das gefreut hätte, mehr als alles andere. Aber sie verstand nicht, warum er sie nicht wenigstens eingeladen hatte etwas früher zu kommen. Damit sie Gelegenheit hatten sich erst mal allein zu sehen. Auch darum hatten ihre Gedanken gekreist, und so hatte sie nicht wirklich eine Chance gehabt, die Arbeit aufzuholen, die sie durch die ursprüngliche Verzögerung durch das Opfer liegen gelassen hatte – im Gegenteil, sie war nur noch mehr in Verzug geraten, aber nun. Jetzt, am Abend, wo es Zeit war für die Cena, musste das ohnehin warten bis später irgendwann.
Als sie das Triclinium betrat, versetzte es ihr einen kleinen Stich zu sehen, dass im Grunde schon alle da waren, sah man mal von Catus und Venusia ab. Sicher, sie hätte auch von selbst früher kommen können, das war ihr klar... und dennoch manifestierte sich das Gefühl, dass irgendwie jeder ihren Bruder schon vor ihr gesehen hatte. Wenn sie bedachte, dass er Prätorianer war und vermutlich bereits in der Castra Bericht erstattet hatte, dann hatte sogar ihr Mann ihren Bruder vor ihr zu Gesicht bekommen.
Seiana schob die Gedanken weg und setzte ein Lächeln auf, als sie sich zu ihrer Familie gesellte. Und da war Faustus. Er stand da, lebendig, putzmunter, wie es schien, und tatsächlich da. Seiana unterdrückte erleichtertes Aufseufzen, und zumindest in diesem Moment waren die Gedanken daran verschwunden, dass sie ihn nicht schon hatte vorher sehen können.
Dennoch grüßte sie zuerst die anderen, einfach um das wegzuhaben, um nicht zu unhöflich zu erscheinen, weil sie sonst mit Sicherheit zu lange gebraucht hätte, bis sie sie überhaupt begrüßt hätte – und sie wollte es ohnehin vermeiden zu sehr zu zeigen, wie sie an ihrem Bruder hing. „Flavus“, grüßte sie also ihn zunächst mit einem leichten Nicken, aber nur einem flüchtigen Blick „Varenus, Helvetia... schön euch und eure Kinder zu sehen.“ Noch war sie ihnen zwar nicht begegnet, seit sie hier in Rom eingetroffen waren, aber natürlich hatte man sie informiert, dass sich auch Messalinas Vater nun nach Rom begeben hatte. Dennoch schenkte sie auch ihnen nur einen flüchtigen Blick, ein vages Lächeln und ein Nicken, bevor sie zu ihrem Bruder ging. Einen Augenblick stand sie einfach nur da und sah ihn an, hob dann wortlos die Hand und legte sie ihm auf die Wange. Sie sehnte sich danach, ihn zu umarmen, aber sie konnte nicht vergessen, dass hier Zeugen waren, Zuschauer, von denen sie nicht wollte, dass sie zu viel sahen, zu viel von ihrem Innenleben erahnten – auch wenn es Familie war. Trotzdem lag in dieser einen Berührung und in ihrem Blick so viel mehr, als sie sonst für gewöhnlich zuließ. „Du bist wieder da“, wisperte sie nur, so leise, dass nur er es hören konnte, und ein sachtes Lächeln begann ihre Mundwinkel zu umspielen. -
Seiana neigte zustimmend leicht den Kopf, als Flavus davon sprach, zu ignorieren wer Kaiser war – herausragende Männer ihrer Familie mochten sich zwar in der Vergangenheit eindeutig gegen den Vescularius positioniert haben, aber diese waren jetzt in Hispania, zurückgezogen aus der Politik und in relativer Sicherheit vor dem Zugriff des neuen Kaisers. Und sie selbst war der Ansicht, dass es sinnvoller war, sich zumindest im Augenblick opportun zu verhalten. Ehrbar war freilich etwas anderes, aber ehrbar hielt ihre Familie nicht einflussreich – ehrbar hielt sie nicht am Leben. Solange der Streit um Valerianus’ Nachfolge nicht endgültig entschieden war, sollten sie sich schlicht bedeckt halten.
„In dein Tirocinium solltest du dich wirklich hinein hängen. Zeig Interesse, zeig Engagement. Nicht nur Purgitius Macer, auch die Senatoren, mit denen er in dieser Zeit Kontakt hat, werden das mitbekommen und einen positiven Eindruck dann von dir behalten. Du musst etwas investieren, du musst dich anstrengen... aber ich bin überzeugt dass es sich für dich auszahlen wird.“ Und nicht zuletzt auch für die Familie. Junge Decimer, die in der Politik aufstrebten, das brauchten sie. Umso wichtiger war es, dass Flavus einen guten Eindruck machte.„Hört man das?“ lächelte sie vage zurück. Versuchte Flavus gerade, sie ein wenig auszuhorchen? Beinahe bekam Seiana den Eindruck, aber falls das der Fall sein sollte, blieb sie so unverbindlich wie zuvor. „Die Prätorianer haben ihren Standpunkt in Rom, Flavus. Ich glaube nicht, dass man von zusammenrufen reden kann, sie sind ohnehin hier konzentriert. Und was meinen Bruder angeht: ich glaube nicht, dass mein Mann ihn auf einen Auftrag geschickt hätte, der ihn so weit führt, nur um ihn dann bei nächstbester Gelegenheit zurückzurufen. Faustus wird zurückkommen, wenn sein Auftrag erfüllt ist, welche Befehle sonst derzeit an die Prätorianer gehen mögen, steht damit sicher in keinem Zusammenhang.“
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Seiana ließ sich nichts anmerken, aber diese wenigen Momente, die zwischen ihrer Frage und seiner Antwort vergingen, ließen sie mit einem merkwürdigen Gefühl der Anspannung zurück. Es wäre ja im Grunde kein Problem, wenn er nein sagte. Ganz im Gegenteil. Es wäre mehr als verständlich, und er sollte wohl auch nein sagen. Die Möglichkeit allerdings gefiel ihr nicht wirklich... allein der Gedanke daran fühlte sich an wie eine Zurückweisung.
Sie nippte nun doch an dem Becher, den er ihr gebracht hatte, musterte ihn, wie er zu überlegen schien – und erlaubte sich dann ein Lächeln, als er zustimmte. Ein Lächeln, das dann allerdings wieder ein wenig verblasste. Sie wich seinem Blick aus und sah erneut zum Fenster hinaus, bevor sie sich räusperte. „Aus denselben Gründen wie du, denke ich. Also, keine Nachtwachen. Wenn man mal von mehr oder weniger freiwillig durchgearbeiteten Nächten absieht, weil einfach viel zu tun ist.“ Sie schloss leise die Tür hinter ihm und ging dann wieder in Richtung des Fensters, wobei sie auf eine Sitzgruppe wies und ihm mit der Geste anbot, Platz zu nehmen. „Aber... man kommt zu sehr ins Grübeln, wenn man einfach nur so im Bett liegt. Und ich schlafe ohnehin nicht sonderlich... fest. Oder viel.“ Was eine freundliche Umschreibung dafür war, dass sie meistens ziemlich schlecht schlief. -
„Was?“ Das Wort war nicht mal mehr geflüstert, sondern nur noch gehaucht.
Trotzdem verstand der Sklave seine Herrin offenbar, oder vielleicht hatte er auch nur erraten, was die Mundbewegung bedeuten sollte – allzu schwer war das wohl nicht. „Dein Bruder, Herrin. Er hat eine Nachricht schicken lassen. Er lädt dich für heute Abend zu einer Cena mit der Familie ein.“
Seiana spürte, wie ihr schwindlig wurde, und mit einer beinahe unwilligen Handbewegung scheuchte sie den Sklaven fort. Erst als er weg war, als er die Tür hinter sich zugegzogen hatte, ließ sie sich zu Boden sinken, weil ihre Beine vorübergehend den Dienst quittiert zu haben schienen. Faustus. Faustus war wieder da. Momente lang hatte sie Mühe, klar zu denken vor lauter Erleichterung. Von Anfang an war klar gewesen, dass er nicht auf irgendeine simple Mission geschickt worden war, nicht als Gardetribun – aber je mehr sich die Gerüchte und Nachrichten von drohendem Bürgerkrieg gehäuft hatten in den vergangenen Wochen, desto größer war ihre Angst geworden, egal was sie getan hatte um sie zu unterdrücken. Und jetzt war er wieder da, einfach so. Lud sie ein. Sie veränderte ihre Position, unterschlug die Beine nun im Kreuz und stemmte ihre Ellbogen auf die Oberschenkel, um ihr Gesicht in den Händen zu vergraben. Er lebte noch. Er war nicht gestorben. Und es ging ihm gut, oder jedenfalls ging sie davon aus, den sonst wäre die Botschaft doch sicher nicht so simpel gewesen, hätte doch sicher nicht nur gelautet: Du bist zur Cena eingeladen. Am liebsten wäre sie sofort zur Casa Decima gelaufen... hätte ihn am liebsten sofort gesehen. Sofort berührt, um zu spüren, dass er auch wirklich da war. Aber das wäre unpassend gewesen. Sie war kein kleines Mädchen mehr, das sich für seinen kleinen Bruder verantwortlich fühlte, auch wenn sie sich in ihrer Erleichterung über seine Rückkehr wieder ein bisschen so fühlen mochte. Sie war Auctrix, und sie war die Frau des Praefectus Praetorio, und so sollte sie sich auch verhalten.
Und davon abgesehen: er war nicht selbst zu ihr gekommen. Er hatte einen Sklaven mit einer Einladung geschickt. Das hieß letztlich, dass er sie jetzt noch gar nicht sehen wollte... wie ihr plötzlich bewusst wurde. Weil er keine Zeit hatte, vermutete sie. Oder weil es ihm genügte, wenn sie sich erst heute Abend trafen? Noch dazu im Kreis der Familie, wo sie nicht allein sein würden, keine Gelegenheit haben würden, sich in Ruhe zu unterhalten, sich auszutauschen? Reichte ihm das, legte er keinen Wert darauf, Zeit mit ihr allein zu verbringen? Seiana presste die Lippen aufeinander, als ihre Gedanken plötzlich in diese Abwärtsspirale trudelten. Unsinn, hielt sie sich vor. Das war Unsinn. Faustus würde seine Gründe haben. Und sie hatte anderes zu tun jetzt, sie musste ein Dankopfer am Hausaltar bringen, dafür, dass die Götter ihn ein weiteres Mal lebend nach Hause hatten kommen lassen. Und genau das tat sie auch, sie stand auf, klopfte sich ein wenig die Kleidung ab und verließ ihre Gemächer, gab den Sklaven die Anweisungen, alles für ein üppiges Opfer zusammenzutragen, so üppig wie es am Hausaltar nur ausfallen konnte, ging dann zur Ara und dankte den Göttern dafür, dass ihre vorigen Gebete und Opfer nicht unerhört geblieben waren, die sie gebracht hatte, um sie Faustus gewogen zu halten, damit sie ihn heimbrachten. Do, ut des. Die Götter hatten reagiert, sie hatten zurückgegeben, und sie gab ihrerseits zurück
Und trotzdem... blieb ein Zweifel. Und er stach. -
Sim-Off: Beschreibung folgt
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Es kam keine Antwort, aber die Schritte entfernten sich wieder, und Seiana dachte gar nicht weiter darüber nach – sie ging davon aus, dass Álvaro tat, worum sie ihn gebeten hatte. Sie blieb also regungslos stehen, wo sie war, und starrte weiter in die Dunkelheit hinein, auch noch, als sie erneut Schritte hörte und gleich darauf ein leises Geräusch an der Tür, ein Klopfen vielleicht, gefolgt vom Öffnen. Álvaro würde ihre Nicht-Reaktion auf ihn schon richtig deuten, dass er den Becher einfach abstellen und wieder gehen sollte.
Dann allerdings fing Álvaro an zu sprechen – und Seiana zuckte zusammen und fuhr herum, als ihr klar wurde, dass das nicht Álvaro war. Fast schon erschrocken sah sie unerwarteten Eindringling an – und entspannte sich dann spürbar, als sie den Iunius erkannte. Sie verstand zwar nicht ganz den Sinn seiner Bemerkung, dass er ebenfalls in Hispania geboren war – dass sie eigentlich gemeint hatte Álvaro loszuschicken, damit brachte sie das gerade gar nicht in Verbindung –, aber sie lächelte trotzdem flüchtig. Bei seinen folgenden Worten verstärkte sich ihr Lächeln noch ein wenig, weniger wegen seinem Scherz, aber wegen der Geste, dass er ihr Wasser gebracht hatte, obwohl es weder seine Aufgabe gewesen wäre noch die Höflichkeit es erfordert hätte. Er hätte vorhin genauso gut darauf aufmerksam machen können, dass sie sich geirrt hatte. „Dankeschön.“ Sie kam zu ihm hinüber und nahm sich den Becher, trank aber nichts davon. „Das ware nicht nötig gewesen, dass du gehst. Ich hatte nicht daran gedacht, dass jemand anders um diese Uhrzeit noch unterwegs sein könnte.“ Nicht notwendigerweise jemand anders als Álvaro... aber jemand anders als ein Sklave. Wie auch? Seit sie hier angekommen war, war der Gardist der einzige Besucher, den sie gehabt hatte, der einzige, der nicht in irgendeiner Art ihr untergeben war, sei es nun als Sklave oder als Teil des angeheuerten Schutztrupps. „Du brauchst dich nicht zu bedanken. Höflichkeit ist eine Tugend, die man in der Regel jedem zuteil werden lassen sollte, finde ich.“ Höflichkeit konnte darüber hinaus auch Schutzschild oder Waffe sein – auch beides zugleich. Aber das war nun nichts, was in diesem Augenblick gepasst hätte auszusprechen. „Davon abgesehen habe ich den Abend ebenfalls sehr genossen. Ich habe selten so angenehme Unterhaltung.“ Sie zögerte einen Moment. Die Verlockung war groß, ihn aufzuhalten, sich noch ein wenig mehr zu unterhalten. Den Abend noch ein wenig zu verlängern, den Moment hinauszuzögern, in dem sie schlafen ging, und das ohne sich zu langweilen oder grübelnd aus dem Fenster zu starren. Und: sie genoss seine Gesellschaft tatsächlich. Nur schickte es sich kaum. Es war spät, sie war verheiratet, er war noch dazu der Untergebene ihres Mannes, das hier war ihr Cubiculum, und sie beide waren schon in bequemerer Kleidung als wohl angebracht wäre. Andererseits: wen interessierte, was schicklich war? Hier war noch nicht einmal jemand, dem das auffallen könnte. „Möchtest du mir noch einen Augenblick Gesellschaft leisten?“ -
Sie nickte leicht. „Er ist selten da. Aber in seiner Position ist das auch in ruhigen Zeit nichts allzu ungewöhnliches. Und“, als sie dies anmerkte, lächelte sie knapp, „ich selbst habe ebenfalls viel zu tun.“ Insofern war es deutlich angenehmer, einen Ehemann zu haben, den das gar nicht erst nicht stören konnte, weil es ihm nicht mal wirklich auffiel. Sie wartete auf seine nächsten Worte, die zuerst allerdings nicht kamen – gerade als sie jedoch die Pause unterbrechen wollte, ergriff Flavus doch wieder das Wort. Diesmal kam er auf das zu sprechen, was ihn eigentlich hierher gebracht hatte. Und nun war es an Seiana, zunächst zu schweigen und sich ihre weiteren Worte zu überlegen. „Nun.“ Sie lehnte sich ein wenig zurück in ihrem Korbsessel und räusperte sich. „Die Lage ist schwierig, das hast du selbst erkannt. Schwierig genug, dass man nicht genug Vorsicht walten lassen kann. Und du solltest nicht vergessen, in welchem Haus du dich hier befindest.“ Bei diesen Worten hatte sie die Stimme gesenkt, und sie hoffte, dass das Warnung genug für Flavus war. Sie waren im Haus des Praefectus Praetorio, der zumindest bislang keine Anstalten gemacht hatte, sich auch nur ansatzweise gegen den neuen Kaiser zu positionieren – auch wenn sie seine Frau war, war es besser vorsichtig zu sein, und die Sklaven hier waren zum größten Teil seine. „Gerüchte gibt es viele, Flavus. Leider gibt es nur wenig Hinweise darauf, welche wahr sind. Aber egal, was du von Vescularius halten magst: er ist unser Kaiser, daran solltest du dich halten, gerade wenn du in diesen Zeiten deine Karriere angehen möchtest.“ Sie schlug die Beine übereinander und musterte Flavus aufmerksam, während sie ihre Worte mit Bedacht wählte. „Consular Purgitius legt viel Wert auf Neutralität, das ist wahr. Wenn du dir jetzt einen Patron suchen möchtest, wäre einer wie er sicher geeignet. Allerdings würde ich dir im Moment noch eher raten zu warten... bis sich das ein oder andere geklärt hat. Gerade die ersten Wahlen kannst du sicher auch mit dem guten Namen unserer Familie bestreiten, ohne einen Patron zu haben – sofern du einen guten Wahlkampf machst.“ Der in erster Linie teuer war, aber das konnte sich die Familie leisten. „Wie lief dein Tirocinium beim Consular? Hattest du trotz deiner Krankheit Gelegenheit, Zeit mit ihm zu verbringen und von ihm zu lernen? Wenn nicht, würde ich vorschlagen dass du noch ein wenig länger bei ihm lernst. Wenn du einen guten Eindruck hinterlässt, wirst du in ihm sicher auch ohne Patronat einen Fürsprecher haben bei deinen ersten Schritten in der Politik.“
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Der Abend war angenehm gewesen, jedenfalls für Seiana – und das lag nicht nur daran, dass ihr hier auf diesem Landgut im übertragenen Sinn die Decke auf den Kopf fiel. Ihr war schon klar, dass die Unterhaltung mit dem Iunius sich nur aus den Umständen heraus ergeben hatte, dass sich sonst wohl kaum diese Gelegenheiten ergeben hätte, aber das änderte nichts daran, dass sie schon lange keinen solchen Abend mehr erlebt hatte, gefüllt mit mehr oder weniger lockerer Unterhaltung, ohne Hintergedanken, ohne Ziele, einfach nur so. Es fiel ihr auf Anhieb kein Tag in den vergangenen Monaten ein, an dem es ähnlich gewesen wäre. Das Verhältnis zu ihrem Mann war mit distanziert wohl noch freundlich umschrieben, und auch sonst... die meisten Gespräche die sie führte waren dienstlicher Natur. Für die Acta, für die Schola. Und sie ließ nur selten zu, dass diese Gespräche in privatere Gefilde abdrifteten. Und das traf mehr oder weniger auch auf ihre Verwandten zu, wenn sie sie denn traf – abgesehen von Faustus. Aber der war fort, und so blieb ihr im Grunde kein Vertrauter, niemand, mit dem sie sich wirklich hätte unterhalten können. Da gab es noch Rhagnall, dem sie vertraute. Und Álvaro war seit der Hochzeit, seit ihre Verwandten aus Tarraco ihn ihr geschickt hatten, ebenfalls zu einem Vertrauten geworden... Beide auf völlig unterschiedliche Art – aber beide eben auch nicht auf jene Art, dass sie sich mit ihnen wirklich unterhalten hätte. Allein schon die Tatsache, dass die beiden ihr gehörten, verhinderte dass Seiana jene unsichtbare Grenze überschritt, die zwischen Herrin und Sklave war – und zumindest in Álvaros Fall glaubte sie, dass es auf Gegenseitigkeit beruhte. Sie hatte nicht vergessen, wie er sich um sie gekümmert hatte vor kurzem. Aber er hatte sich dabei unwohl in seiner Haut gefühlt, das hatte sie ihm angemerkt – am nächsten Morgen, als sie wieder in der Lage gewesen war etwas zu merken.
Der Abend war also angenehm gewesen, so angenehm wie schon lange nicht mehr, und jetzt stand sie in ihrem nur von einigen Öllampen schwach erhellten Cubiculum und sah zum Fenster hinaus, das zum Garten führte. Faustus. Sie seufzte bei dem Gedanken an ihn. Faustus war fort. Wie so häufig in den letzten Jahren. Viel zu häufig. Er war nicht da... und dabei brauchte sie ihn so sehr. Sie ließ diesen Gedanken selten zu, machte sich selten bewusst, wie sehr sie ihn brauchte, wie sehr sie ihn vermisste, denn wenn sie es tat, wurde der vage Schmerz über seine fortdauernde Abwesenheit akut, wurde zu einem brennenden, wühlenden Sehnen, das ihren Brustkorb zu verengen schien. Deshalb kämpfte sie auch jetzt dagegen an. Es brachte ja nichts, er kam deswegen nicht schneller zurück. Und zurückkommen würde er. Davon war sie überzeugt. Er musste einfach zurückkommen, sie erlaubte sich nicht, etwas anderes zu denken. Die Götter konnten nicht so grausam sein, ihr auch noch ihren kleinen Bruder wegzunehmen. Sie atmete tief durch und versuchte, nicht mehr an Faustus zu denken. Es war noch Zeit, bis sie üblicherweise schlafen ging – sie zögerte diesen Moment stets hinaus, weil sie häufig schlecht schlief, und je früher sie ins Bett ging, desto mehr Zeit hatte sie nur in den frühen Morgenstunden, in denen sie wach lag und sich herum wälzte, bis sie schließlich aufstand. Davon abgesehen hatte sie die Erfahrung gemacht, dass sie wenigstens etwas besser schlief, wenn sie abends nur müde genug war. Aber Gedanken an Faustus halfen sicher nicht dabei, besser zu schlafen, also ließ sie es besser.
Als sie an diesem Punkt angekommen war, hörte sie auf einmal etwas – leise Schritte auf dem Gang, die durch die halb offen stehende Tür zu ihr herein drangen. Seiana wandte leicht den Kopf, als sie darauf aufmerksam wurde. „Álvaro?“ Der Leibwächter machte häufiger nachts noch eine Runde, das wusste sie. Bran, ihr anderer Leibwächter, tat das nicht – Seiana wusste nicht genau, wie die beiden sich die Aufgaben teilten, aber so lange es funktionierte, war es ihr recht. „Hol mir bitte noch etwas zu trinken.“ -
Tante. Das klang etwas seltsam aus Flavus' Mund, fand Seiana. So weit sie sich erinnern konnte, hatte er sie bislang noch nie so genannt – oder einen ihrer Brüder Onkel. Immerhin entstammten sie derselben Generation... und so alt war sie nun auch wieder nicht, dass der plötzliche Wechsel der Anrede darin begründet liegen könnte.
Sie schwieg allerdings dazu und nickte nur einem Sklaven zu, die Amphore in Empfang zu nehmen. Da Flavus bereits von terentischen Sklaven bedient worden war, brauchte sie auch nicht zu fragen, ob er noch etwas wollte, stattdessen lächelte sie nur. „Ich danke dir für das Mitbringsel. Und ich kann dich verstehen. Um eine Krankheit auszukurieren, ist ein Landgut sicherlich angebrachter als Rom, aber ein Leben dort wäre auch für mich nichts.“ Wie sie erst vor einiger Zeit selbst hatte feststellen müssen, als sie während der Unruhen direkt nach dem Tod des Kaisers die Stadt aus Sicherheitsgründen verlassen hatte – zum Glück allerdings nicht für lange.„Warum sollte es nicht angenehm sein?“ fragte sie dann mit einem unverbindlichen Lächeln zurück, ein wenig überrascht wegen seiner Frage, was sie allerdings gekonnt verbarg. Vor der Hochzeit hatte Flavus ihr in einem Gespräch noch gesagt, er sei überzeugt davon, dass die Ehe eine gute werden würde... wo sie ihm bereits deutlich gemacht hatte, dass es ihn nichts anging, was für eine Ehe sie führte, solange diese nur vorteilhaft für die Familie war. Warum er nun allerdings seine Meinung geändert hatte und plötzlich davon ausging, ihre Ehe könnte unangenehm sein, war ihr ein Rätsel. Zumal Seiana niemandem erzählte, wie ihr Verhältnis zu ihrem Mann war – und sich erst recht nicht über irgendetwas beklagte. „Ich bin zufrieden. Natürlich war es anfangs eine Umstellung... aber das ist normal. Und an gewisse Einschränkungen habe ich mich schon als Auctrix gewöhnt.“ Dass sie nicht mehr nur mit normalen Sklaven durch die Stadt ging, beispielsweise, sondern stets Leibwächter dabei hatte. Oder dass die Leute sie erkannten.
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Tatsächlich. Also keine Nachricht vorab geschickt. Rhea würde sich freuen über den Haufen Extraarbeit, der damit anstand, und der schnell erledigt werden musste – immerhin würden die Herrschaften kaum lange warten wollen, bis sie ihre Räume beziehen konnten. Manchmal konnte man sich als Sklave wirklich fragen, ob es denn so schwer war, wenigstens einen Tag im Voraus Bescheid zu geben... einen Reiter vorzuschicken oder so. War ja nur im Sinne der Herrschaften selbst, dass dann schon alles vorbereitet war, wenn sie ankamen. Aber: man war ja nur Sklave. Und man machte halt.
Ephialtes nickte also nur, lächelte auf die Kinder herab und wandte sich dann kurz ab, um einen Sklaven loszuschicken, der sich im Haus um alles kümmern würde. Rhea würde das Kind schon schaukeln, da war sich Ephialtes sicher, auch mit keiner Vorlaufzeit. Die Familie verschwand im Haus, und Ephialtes ging davon aus, dass auch der Decimus noch folgen würde – der allerdings machte noch keine Anstalten, sondern wandte sich stattdessen ihm zu. Ephialtes' Miene wurde von einem Moment zum anderen glatt und ausdruckslos, und mit gerader Haltung stand er da und starrte ins Leere. Die Decimi waren grundsätzlich eine Gens, die ihre Sklaven recht gut behandelten – aber auch unter ihnen gab es freilich solche, die streng waren, oder es werden konnten, wenn man ihren Ansprüchen nicht genügte. Er hatte allerdings bisher noch nie Schwierigkeiten gehabt mit einem von ihnen... und Respektlosigkeit warf man ihm auch zum ersten Mal vor. Trotzdem wusste er, wie er sich zu verhalten hatte, und das war ziemlich simpel: keinen Grund zu weiterer Beschwerde geben. „Selbstverständlich, Dominus.“
IANITOR - GENS DECIMA -
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Sie gingen also hinein in die Casa – und Álvaro war erleichtert, weil er nun erst mal seine Ruhe haben würde. Die helvetischen Sklaven würden sich um sämtliche Belange und Wünsche der jungen Decima kümmern, so lange sie hier waren, während er dafür Sorge trug, dass das Gepäck auch sicher geliefert wurde.
Am nächsten Tag stand er schon im Morgengrauen auf, um alles für die Reise vorzubereiten, das Gepäck auf Karren zu verstauen und die Sänfte für die Decima zu kontrollieren – und frühzeitig brachen sie dann auf, um rasch nach Rom zu gelangen.
CUSTOS CORPORIS - DECIMA SEIANA