Es dauerte eine kleine Weile, bis Seiana schließlich kam. Als sie das Atrium betrat, zog sie gerade die Palla von ihrem Körper und drückte sie dann einem Sklaven in die Hand, bevor sie auf Flavus zuging und ihm ihr typisches, vages Lächeln schenkte. Überrascht ihn zu sehen war sie nicht, immerhin hatte der Ianitor sie informiert, dass ihr Verwandter hier war. „Salve, Flavus. Schön zu sehen, dass du wieder wohlauf bist.“
Beiträge von Decima Seiana
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Ich lasse dich nie mehr los. Oh, Götter, bitte nicht... Seiana fühlte sich zunehmend hilfloser, wie sie mit diesem für sie ziemlich unerwarteten Gefühlsausbruch umgehen sollte. War das Mädchen immer so? Würde das nun so bleiben? Waren alle Kinder so? Himmel, sie musste irgendwie dafür sorgen dass ihre eigenen Kinder – wenn sie denn je schwanger wurde – früh Benehmen lernten. Oder zumindest lernten, dass sie zu ihr Abstand zu halten hatten.
Gerade als Seiana die Umarmung langsam lösen wollte, richtete Messalina sich auf – blieb allerdings auf ihrem Schoß sitzen, und das ging Seiana dann doch zu weit. Sie war kein Sessel, auf dem man nach Belieben Platz nehmen konnte. Entsprechend schob sie also das Mädchen vom ihrem Schoß – und erhob sich immerhin noch in der gleichen Bewegung, damit es nicht allzu unhöflich wirkte. „Dort drüben können wir uns hinsetzen“, meinte sie und wies auf eine Sitzgruppe beim Fenster – wo Messalina sich auf einen eigenen Korbsessel würde setzen können. Die allerdings blieb noch stehen und fing an, Papyri auf ihrem Tisch herumzuschieben – und entgegen dem, was sie wohl eigentlich vorhatte, Unordnung zu machen. Seiana zwang sich zu einem Lächeln, griff nach Messalinas Händen und zog sie von ihren Unterlagen weg. „Das ist nett von dir, aber das brauchst du nicht“, erwiderte sie und zog das Mädchen nun weg vom Schreibtisch und hinüber zu der Sitzgruppe. Sie konnte es absolut nicht gebrauchen, dass jemand in ihren Unterlagen herumfingerte – oder gar herumschnüffelte. Sie ließ noch nicht einmal Sklaven zum Aufräumen an die wichtigen Dinge, sondern erledigte das lieber selbst.„Etwas zu trinken?“ fragte sie, während sie sich selbst ein Glas Wasser einschenkte und sich hinsetzte auf einen der Korbstühle. „In der Casa Decima bist du am besten aufgehoben, Messalina. Das ist das Heim unserer Familie. Es wäre etwas, wenn sonst kein Decimus dort wohnen würde, aber Flavus und Catus sind ja ebenfalls da.“ Venusia erwähnte Seiana absichtlich nicht. Seit ihrem letzten Aufeinandertreffen zählte die Duccia für sie nicht mehr zu den Personen, denen sie tatsächlich irgendetwas von Wert anvertrauen würde – entsprechend hatte sie sie auch nicht gebeten, ein Auge auf Messalina zu haben. Was Magnus' Kinder betraf, hatte sie beschlossen sich herauszuhalten – dass allerdings auch nur aus dem Grund, weil sie sich sehr sicher war, dass Serapio die Sache anders sehen würde... „Davon abgesehen wirst du dort ohnehin nicht mehr lang wohnen. Es ist eine Nachricht gekommen vom Kaiser – du wirst Vestalin werden.“
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Ephialtes öffnete die Tür auf das Klopfen hin, und wollte schon dazu ansetzen, seine Standardbegrüßungsformel runter zu rattern, die jeder Ianitor sich irgendwie irgendwann zurecht legte – als er den Mann erkannte. War zwar schon einige Zeitlang her, dass der mal zu Besuch gewesen war, aber Ephialtes war in den Diensten der Gens Decima in Rom, seit er ein kleiner Junge gewesen war. Und von Anfang an war er dem Marcus, dem alten Ianitor, zur Hand gegangen an der Porta. Entsprechend setzte er nun das Lächeln auf, das für Familienmitglieder reserviert war. „Salve, Dominus! Ich wusste gar nicht, dass wir deinen Besuch erwarten dürfen.“ Oder hatte ihm einfach nur keiner Bescheid gegeben, obwohl der Besuch angekündigt worden war? Was allerdings eher ungewöhnlich war. In der Casa Decima funktionierten die Informationswege normalerweise sehr gut, Rhea, die Vilica, hatte den Laden ziemlich gut im Griff, und natürlich erwarteten die Herrschaften das auch. „Komm doch herein. Ich werde gleich jemanden schicken, der Cubiculae für dich und deine Familie vorbereiten wird und der Familie Bescheid gibt.“
IANITOR - GENS DECIMA -
Seiana deutete ein Nicken an auf die Worte des Imperators, aber bevor sie antworten konnte, ging es auch schon hinein ins Atrium Vestae. Sie hielt sich im Hintergrund – es war Messalinas Tag, nicht der ihre. Hinzu kam, dass man ungestörter beobachten konnte, wenn man sich nicht gerade in den Mittelpunkt drängte, und obwohl der Ablauf vorgegeben war, war sie doch gespannt darauf, was der neue Kaiser noch so von sich geben würde.
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Ja, ist abgesprochen. Kann reinkommen.
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Der Ianitor neigte leicht den Kopf. „Die Herrin ist im Augenblick nicht zu Hause, müsste allerdings bald wieder kommen. Wenn du so lange im Atrium warten möchtest?“ Sollte sich der Decimus hierzu entscheiden, würde ihn ein Sklave hinein führen und ihm etwas zu trinken anbieten.
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„Salve“, grüßte der Ianitor, nachdem er die Tür geöffnet hatte. „Wie kann ich dir helfen?“
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Seiana strich Messalina leicht über den Kopf und erwiderte das Lächeln. „Natürlich bin ich gekommen. Irgendjemand muss dich doch verabschieden.“ Viel mehr Zeit für eine Unterhaltung blieb ihnen nicht, denn anschließend trat bereits die Pomponia aus dem Atrium Vestae hinaus. Seiana neigte grüßend den Kopf und wollte sich schon von Messalina lösen, als die Vestalis Maxima anbot, dass sie mitkommen könnte. Sie tauschte einen kurzen Blick mit Messalina, war es doch sie, die angesprochen worden war, und deutete dann ein Nicken an. „Wenn du das möchtest – selbstverständlich. Ich danke dir für das Angebot“, wandte sie sich dann an Pomponia Pia, während sie spürte, wie sich eine kleinere Hand in ihre schob. Flüchtig drückten ihre Finger ein wenig zu, dann wollte sie eigentlich loslassen – besann sich aber noch rechtzeitig eines Besseren. Sie verzichtete für gewöhnlich auf Körperkontakt. Dass Messalina da etwas anders war, hatte sie mittlerweile schon bemerkt, und sie bemühte sich, ihr zuliebe ein bisschen mehr zuzulassen. Vor allem heute war das wohl angebracht.
Kurze Zeit später erschien auch der neue Kaiser, und Seiana neigte erneut den Kopf und erwiderte den Gruß. Und lächelte dann unverbindlich bei dem Kommentar in ihre Richtung. „Ich bin rein privat hier, Imperator. Messalina ist meine Nichte, und da ihr Vater heute nicht hier sein kann, um sie zu verabschieden, bin ich an seiner Stelle gekommen.“
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Seiana kam von der Casa Terentia zum Atrium Vestae. Den Sklaven in der Casa Decima hatte sie genaue Anweisungen zukommen lassen, dass diese dafür zu sorgen hatten, dass das Mädchen pünktlich hier erschien. Aber Messalina schien sich darauf zu freuen, bei den Vestalinnen aufgenommen zu werden, weswegen Seiana sich kaum Sorgen machte, dass es Probleme geben würde. Dennoch hatte sie im Vorfeld flüchtig überlegt, ob sie sie nicht abholen sollte... sich aber dagegen entschieden. Sie mochte noch jung sein, aber sie zählte als Erwachsene, und sie würde in den Dienst der Vesta treten heute. Es brachte niemandem etwas, wenn das Mädchen verhätschelt wurde – ganz im Gegenteil konnte es nur von Vorteil sein, wenn sie lernte eigenständig zu sein, je früher desto besser, fand Seiana.
Und tatsächlich fand Messalina sich in etwa zeitgleich mit Seiana ein, und diese ging mit einem angedeuteten Lächeln auf ihre Nichte zu. „Salve“, grüßte sie sie. „Du siehst hübsch aus, Messalina.“ -
Zu sagen, dass Seiana überrascht war als Messalina sich regelrecht auf sie stürzte, wäre wohl die Untertreibung des Jahres gewesen. Überrumpelt saß sie erst mal da, während das Mädchen halb auf ihren Schoß krabbelte und die Arme um sie schlang. Ihre eigenen Arme zog sie schnell aus dem Weg, und hielt sie danach erst mal unschlüssig in der Luft, weil sie so gar nicht wusste, wie sie mit diesem Gefühlsausbruch umgehen sollte. Sie war sich auch nicht so sicher, woher diese Anhänglichkeit kam – allzu oft hatte sie ihre junge Verwandte ja auch nicht gesehen. Sie vermisste wohl ihre Familie, vermutete Seiana. Das musste es sein. Und gerade Kinder projizierten doch viel auf einen anderen Menschen, wenn der oder das Gewünschte gerade nicht da war. Oder? Taten Kinder das? Junge Mädchen?
Seiana räusperte sich leicht und senkte ihre Hände schließlich, um sie auf Messalinas Schultern zu legen und die Umarmung leicht zu erwidern. „Ist alles in Ordnung?“ fragte sie nach, ein wenig vorsichtig – vielleicht war das ja doch nicht nur Wiedersehensfreude, ausgelöst durch Heimweh nach ihrer Mutter projiziert auf sie... oder so... sondern mehr. Die Frage konnte jedenfalls nicht schaden. Andererseits wollte Seiana damit nun nicht provozieren, dass sich Messalina ihres Heimwehs bewusst wurde – wenn sie denn welches hatte – und trübsinnig wurde – vorsichtig formuliert –, weswegen Seiana noch anfügte: „Konntest du dich schon einleben in der Casa Decima?“ -
Seiana wusste nicht so recht, was sie von dem Ganzen halten sollte. Die Gerüchte auf den Straßen sagten alles mögliche, von Verschwörung war die Rede, davon, dass tatsächlich Senatoren den Kaiser hatten umbringen lassen, wie es der neue Kaiser behauptete; davon, dass es eben jener neue Kaiser war, der eigentlich dahinter steckte, und der seinen politischen Feinden die Schuld zuschob, wenngleich das freilich nur sehr vorsichtig geäußert wurde; davon, dass es nur eine Lebensmittelvergiftung gewesen war, die der Vescularius für sich zu nutzen gewusst hatte – Ausschalten seiner politischen Feinde inbegriffen; bis dahin, dass es die Götter gewesen waren, die den alten Kaiser und seine Familie das Zeitliche hatten segnen lassen, auch wieder mit den unterschiedlichsten Begründungen – die beliebteste davon, dass sie die Gens Ulpia als unwürdig betrachtet hatten, weiterhin das Römische Reich zu regieren.
Varianten, was also hinter dem Tod des Kaisers steckte, hatte Seiana genug gehört. Mehr als genug. Und freilich gab es viele, welche man von vornherein ausschließen konnte. Aber die paar plausiblen, die übrig blieben, waren schwer zu gewichten...
Da waren die beschuldigten Senatoren. Diese profitierten aber im Grunde noch weniger vom Tod Valerianus'. Wenn überhaupt hätte deren Anschlag doch dem Vescularius gelten müssen, dem eigentlichen Problem, dass die Senatoren – insbesondere patrizische – hatten. Eine Überlegung war vielleicht, dass sie einen schwachen Kaiser hatten los werden wollen, um ihn gegen einen starken auszutauschen, oder gegen eine eigene Marionette – aber das machte auch nur dann Sinn, wenn parallel der Vescularius ausgeschaltet worden wäre, und es war zumindest nichts bekannt geworden davon, dass ein Anschlag auf sein Leben stattgefunden hätte – und Seiana war sich ziemlich sicher, dass der Mann damit doch wohl hausieren gegangen wäre.
Und dann war da der Vescularius selbst. So wenig sie – und erst recht ihre Familie – als diesem Mann wohlgesonnen bezeichnet werden konnte, hatte sie doch Zweifel, ob dieser für Valerianus' Tod verantwortlich sein könnte. Die paar Mal, bei denen Salinator der Acta Auskunft gegeben hatte, hatte er nicht einfach nur gesagt, dass er dem Kaiser tatsächlich in Freundschaft verbunden war – er hatte ehrlich dabei geklungen. Dass er ihn wirklich mochte, wenn schon sonst nichts. Und davon abgesehen: er war faktisch Herrscher gewesen in Rom. Warum hätte er diese bequeme Position aufgeben sollen? Er hatte damit rechnen müssen, dass es Widerstand geben würde gegen einen Kaiser Vescularius. Andererseits hatte er früher oder später mit dem Tod seines Freundes rechnen müssen, und wie lange Maioranus auf einen Ratgeber Salinator gehört hätte, war dahingestellt... Valerianus hatte die alten Weggefährten und Ratgeber seines Vaters ja auch nicht mehr in Anspruch genommen, und Salinator hatte durchaus damit rechnen müssen, dass ihm dasselbe Schicksal drohte, sobald Maioranus seine Nachfolge als Kaiser antrat.Seiana unterdrückte ein Seufzen. Die Grübeleien brachten sie kaum weiter... freilich hing sie trotzdem oft genug ihren Gedanken nach, aber für den Moment schob sie sie beiseite. Ihr Blick schweifte kurz durch die Menge, bevor sie ihn wieder auf den Vescularius heftete. Sie verfolgte die Rede, die nicht wirklich eine Trauerrede war, ohne die Miene zu verziehen. Da hatte seine Rede bei seiner Inthronisation mehr gehabt von einer Trauerrede auf Valerianus... und das, was er jetzt sagte, hätte besser zu seinem Antritt als Kaiser gepasst. Erst als er von dem Widerstand sprach, der ihm nun entgegen schlug, blitzten ihre Augen auf, und aufmerksam lehnte sie sich ein wenig vor. Dass der Cornelius sich ebenfalls zum Kaiser hatte ausrufen lassen, dass sich Legionen im Osten auf seine Seite gestellt hatten, hatte sie bereits gewusst. Dass Aegyptus ihm allerdings auch die Loyalität versagte, war ihr neu, und diese Nachricht enthielt Zündstoff – was sich durchaus in gesteigerter Unruhe in der Menge bemerkbar machte. Unwillkürlich hob sie eine Hand und strich sich mit den Fingern über ihr Kinn, bevor sie sich wieder auf dem Stuhl zurücklehnte, der für sie als Frau des Praefectus Praetorio auf der Tribüne reserviert worden war.
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Mit regungsloser Miene betrachtete Seiana das Spektakel, folgte dem Zug, der beinahe einem Triumphzug glich, und dann am Forum, als alles zum Stillstand kam, und der Vescularius seine Rede hielt. Die nicht wirklich etwas besonderes war, fand sie. Sie applaudierte brav an den Stellen, wo es offensichtlich erwünscht war, und begnügte sich im Übrigen lieber damit, unauffällig die Reaktionen anderer beobachten.
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„Ich kann verstehen, dass du nach Höherem strebst als dein Vater erreichen konnte in seinem Leben. Wenn du auf deinem Weg einmal Unterstützung brauchen solltest... Unterstützung der Art, die ich dir vielleicht geben kann“, ergänzte sie mit einem vagen Lächeln, „dann komm zu mir.“ Das Angebot kam völlig spontan über ihre Lippen, und es überraschte Seiana selbst – aber einmal ausgesprochen, nahm sie es nicht zurück. Im Gegenteil nickte sie nur bekräftigend.
Die Zustimmung was ihre Gemeinsamkeiten betraf und das charmante Lächeln, mit dem er sie aussprach, trieb ihr eine zarte Röte auf die Wangen, und sie war sich nicht so sicher, ob es gut war mit ihm etwas gemein zu haben. Oder eher, dass sie diese Gemeinsamkeiten entdeckten. Seiana trank einen Schluck Wasser und räusperte sich. Auch das nächste Thema war nicht unbedingt sicheres Terrain für sie. „Ehrbare Ziele für jede Gattin, gleich welchen Mann sie geheiratet hat“, lächelte sie dann unverbindlich. Oberste Pflicht einer Gattin. Kinder. Erben. Sie konnte genauso gut gleich die Scheidung einreichen, wenn sie sich als unfähig erwies Kinder zu bekommen. Und jede Hoffnung auf gesellschaftliches Ansehen als Frau endgültig begraben. Die einzigen Männer, die sie dann wohl noch heiraten würden, wären solche die schon genug Erben hatten, und nur ihren Namen und ihre Verbindungen wollten. Und selbst die würden sich wohl eher ein junges Ding aus einer ähnlich bekannte Familie aussuchen als eine Frau in ihrem Alter. Nein, es wurde Zeit für sie, Zeit dass sie endlich schwanger wurde und bewies, dass sie fruchtbar war. Und gerade deshalb formulierte sie ihre Worte allgemein, auf jede Frau bezogen... war es für sie doch weniger Ziel als vielmehr Pflicht. Und je älter sie wurde, desto größer wurde der Druck, den sie spürte.
„Hatten wir nicht ein Spiel geplant?“ versuchte sie dann abzulenken und zog ein Spielbrett heran. -
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„Da wären wir.“ Bei der Casa Helvetia angekommen, klopfte Álvaro an die Tür an und nickte dem Ianitor zu. Da er bereits seit gestern hier war und schon eine Nacht in der Casa geschlafen hatte, wusste der helvetische Sklave bestens Bescheid, weswegen er keine Fragen stellte, sondern sie nur begrüßte – Álvaro mit einem kurzen Nicken, die Decima ausführlicher: „Salve, Decima Messalina. Es ist uns eine Freude, dass die Tochter von Helvetia Esquilina hier übernachten wird. Es ist bereits alles vorbereitet für dich.“ Er lächelte ihr höflich zu und hielt ihnen die Tür auf.
CUSTOS CORPORIS - DECIMA SEIANA -
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Álvaro wusste nicht genau, ob das nun gut oder schlecht war, dass das Mädchen sich nun einsilbig und abweisend gab – aber er tendierte dazu, froh darüber zu sein. Einfach weil es hieß, dass er dann seine Ruhe hatte und sie nicht etwa auf die Idee kam, ihm etwas vorzuweinen. Nicht dass es ihm an Mitgefühl gemangelt hätte... aber in der Rolle des Trösters sah er sich dann auch wieder nicht. „Verzeih, wenn ich zu aufdringlich war“, antwortete er nur höflich, legte ihr eine Hand auf die Schulter und brachte sie zur Casa Helvetia.
CUSTOS CORPORIS - DECIMA SEIANA -
Ein knappes „Herein“ erklang, als es an der Tür zu ihrem Officium klopfte, und Seiana sah nicht einmal wirklich hoch – auch nicht, als die Tür sich öffnete. Erst, als die mittlerweile vertraute Stimme des Ianitors verkündete: „Herrin, deine Nichte ist hier, um dich zu besuchen.“
Eine Augenbraue wölbte sich in gelinder Überraschung nach oben, aber sie nickte nur. „Bring sie zu mir.“Es dauerte nicht lang, bis es erneut klopfte und der Ianitor die Tür abermals öffnete, diesmal um Messalina herein zu lassen. Seiana verzog ihre Lippen zu einem Lächeln und stand auf. „Messalina, es freut mich dich zu sehen. Was führt dich zu mir?“
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Wie so viele Ianitoren war auch der terentische geübt darin, sich stoisch zu geben, egal was für Mätzchen mancher Besucher machen mochte. „Sehr wohl, Herrin“, antwortete er nur. „Komm doch bitte herein und warte einen Moment. Ich gebe deiner Tante Bescheid.“ Kurze Zeit später tauchte der Mann wieder auf und bedeutete der Decima, ihm zu folgen. „Ich bringe dich zu ihr.“
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Der Ianitor öffnete die Tür und musterte das Mädchen vor ihm. Feine Kleidung und ein Sklave als Begleitung, das schloss schon mal aus, dass sie eine Bettlerin war. „Salve... Was möchtest du?“
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Und wieder runzelte Álvaro flüchtig die Stirn. Er hätte eher damit gerechnet, dass sie wieder irgendeine freche Antwort gab, oder vielleicht sogar versuchte sich aus seinem Griff zu winden – nicht damit, dass sie nachgab. „Gut...“ antwortete er und lockerte seinen Griff etwas, nahm sich allerdings vor wachsam zu bleiben. „Ich weiß“, erwiderte er auf ihre nächsten Worte ruhig. „Domina Seiana hat die Familie deiner Mutter darum gebeten, uns dort übernachten zu lassen, falls wir eine Unterkunft benötigen.“ Noch während er sprach, setzte Álvaro sich bereits in Bewegung, sah aber immer wieder mal zu der Decima hinunter – und stellte plötzlich fest, dass sie weinte. „Uh“, machte er, ein wenig hilflos und unschlüssig, was er tun sollte. Warum passierte ihm so was? Er hatte keine Ahnung, wie er mit Kindern umgehen sollte – vor allem mit Mädchen. Die große Frage war: warum hatte sie nun Tränen in den Augen? Sie hatte doch gesagt, dass sie ihren Großvater nur einmal gesehen hatte. Konnte sie ihn bei diesem einen Mal so sehr ins Herz geschlossen haben, dass sie jetzt um ihn weinte? Auf die Idee, dass sie vielleicht einfach nur Heimweh hatte, und Sehnsucht nach ihren Eltern, kam Álvaro nicht. „Du...“ Er räusperte sich und drückte ihre Hand, die er immer noch seiner hielt, ein wenig fester, um ihr so Halt zu geben. „Habt ihr euch nahe gestanden?“ Klar. Bei einem Besuch. Aber Álvaro wusste nicht, was er sonst hätte sagen sollen.
CUSTOS CORPORIS - DECIMA SEIANA -
Je länger Venusia sprach, desto weniger glaubte Seiana ihren Ohren zu trauen. Was bitte war das denn? Warum führte die Frau sich mehr auf wie eine pubertierende Jugendliche denn wie eine Erwachsene? Denn so kam es Seiana vor, je länger die Duccia sich in Rechtfertigungen für etwas erging, was Seiana ihr gar nicht hatte streitig machen wollen. Sie konnte ja noch ansatzweise nachvollziehen, dass Venusia als Mutter sich Sorgen machte, dass man ihr die Kinder nehmen könnte – aber da war die Sache doch herzlich einfach. Sie hielt sich an das, was die Familie der Kinder für diese wollte, und keiner würde es ihr verwehren, bei ihnen zu bleiben. Sie konnte ja sogar mit ihnen nach Germanien reisen, so lange sie sie nur wieder zurück brachte. Was wollte sie denn noch, dass sie so eingeschnappt schien? Und was um alles in der Welt hatte sie selbst so Bösartiges gesagt, dass die Duccia offenbar glaubte, sich in einem ellenlangen Monolog rechtfertigen zu müssen? Bis hin zur Aufzählung ihrer diversen Errungenschaften und ihrer tragischsten Erlebnisse. Seiana wusste nicht, warum Venusia ihr das erzählte, aber all diese Dinge sagten ihr nur eines: dass die Duccia ein Überbleibsel einer Zeit war, die heute keinen Bestand mehr hatte. Die Zeiten, in denen eine Frau Ritterin hatte werden können, waren lange vorbei, und bei all dem, was Venusia erreicht hatte in ihrem Leben, stellte sich Seiana eher die Frage, warum sie trotz ihrer recht beachtlichen politischen Karriere noch so jung war.
Nachdem Venusia geendet hatte, ließ Seiana ein paar Momente verstreichen, ohne etwas zu sagen. Sie musterte die andere Frau nur... und ließ das Schweigen gerade lange genug andauern, bis es unangenehm wurde. Erst dann ergriff sie wieder das Wort, und als sie sprach, war sie nicht laut – aber sowohl ihre Miene als auch ihre Stimme waren eisig. „Nein, Venusia, ich glaube nicht, dass Rom vom Bürgerkrieg betroffen sein wird. Die Legionen mögen italischen Boden erreichen und dort kämpfen, aber wenn sie Rom erreichen, werden sie bereits Sieger sein, und als solche mit einem Triumphzug einmarschieren. Wenn du allerdings jetzt mit Magnus' Kindern nach Germanien reist, stehen die Chancen sehr gut, dass ihr irgendeiner Legion auf Kriegszug in die Hände lauft. Der Prima, beispielsweise. Oder den Legionen jenseits der Alpen, falls diese beschließen, sich an diesem Bürgerkrieg auf der einen oder anderen Seite zu beteiligen – denn dann wird sie ihr Weg genau dort entlang führen, den du voraussichtlich nehmen wirst, um mit Magnus' Kindern nach Mogontiacum zu gelangen. Von den marodierenden Banden ganz zu schweigen, die es mit Sicherheit ausnutzen werden, dass die Aufmerksamkeit der Legionen während des Bürgerkriegs von ihnen abgelenkt ist.“ Mittlerweile war Seianas Ausstrahlung so eisig geworden, dass man die Luft hätte schneiden können. Das hier war eine einzige Farce. Und sie hatte weder Lust noch den Anlass dafür, damit ihre Zeit zu verschwenden. „Allerdings sehe ich, dass es im Moment keinen Sinn hat mit dir zu reden. Reise meinetwegen mit Magnus' Kindern nach Germanien – aber sollte ihnen etwas zustoßen, werde ich dich dafür zur Rechenschaft ziehen, verlass dich darauf. Und solltest du dich wieder in der Lage sehen, dich auf einem vernünftigen Niveau zu unterhalten, weißt du wo du mich finden kannst.“ Mit diesen Worten erhob Seiana sich und verließ Venusias Zimmer, und kurze Zeit später auch das Haus.