„Natürlich nicht“, begann Seiana, als Massa davon sprach, wie einfach das klang. Zwei, drei Artikel… natürlich war das nicht alles gewesen. Und sie lächelte immer noch, weil sie glaubte sich nun auf sicherem Terrain zu bewegen. Das war ihre Arbeit, hier kannte sie sich aus, hier konnte sich ein einfaches, folgenloses, unbeschwertes Gespräch entwickeln, glaubte sie…
Massa machte ihr da allerdings einen Strich durch die Rechnung. Und mit jedem weiteren Wort, das er aussprach, erstarb ihr Lächeln. Versteinerte ihre Miene. Erstarrte ihre Haltung. Seiana hatte das Gefühl, plötzlich in Eis gehüllt zu sein, so kalt wurde ihr von einem Moment auf den anderen, und ihr Oberkörper schien mit einem Mal viel enger zu sein... Für endlose Augenblicke lang hatte sie das Gefühl, gegen ihren eigenen Brustkorb ankämpfen zu müssen, um ihre Lungenflügel mit genug Luft füllen zu können, als sich Panik in ihr breitmachte. Wie kam Massa dazu, ihr solche Dinge zu sagen? Wie kam er dazu, sie so anzusehen, auf diese Art, die ihren Blick gefangen nahm, die es ihr unmöglich machte wegzusehen? Wie kam er dazu, sich so zu verhalten, als seien sie Vertraute? Und vor allem: wie um alles in der Welt konnte er das wissen?
Sie starrte ihn an, starrte zurück, während er sie ansah, unfähig, ihren Blick von seinen Augen abzuwenden, unfähig, ihn zu unterbrechen, ihn anzuschreien, obwohl sie das am liebsten getan hätte in diesem Moment. Die Panik riss und zerrte an ihr, schlug rücksichtslos ihre Zähne in sie, und für Augenblicke war es ein wildes Tosen in ihr, tobte ein Kampf, ein Krieg um die Oberhand, von dem sich allerdings nur die Ausläufer in ihren Augen widerspiegelten... und in dem beschleunigten Tempo, in dem sich ihre Brust hob und senkte. Davon abgesehen saß sie einfach nur da, ruhig, wie erstarrt, hörte regungslos zu, was er zu sagen hatte, ohne sich zu rühren oder tatsächlich sichtbar darauf einzugehen. Sie konnte es gar nicht in diesem Moment. Sie hatte Angst. Angst vor Kontrollverlust, da hatte Massa durchaus Recht. Aber es war kein Konzept, das sie hatte, es war eine schlichte Notwendigkeit. Sie konnte es sich nicht leisten die Kontrolle zu verlieren. Sie würde zerbrechen, das wusste sie, wenn sie ihr vertrautes Gerüst losließ. Es war leichter, unnahbar zu sein. Man wurde seltener verletzt... und wenn es doch geschah, wurde man leichter damit fertig.
Sie saß da, schweigend, auch nachdem er schon geendet hatte. Rührte sich nicht. Sagte nichts. Erst nach einer ganzen Weile sagte sie, rau, tonlos: „Das sollte ich.“ Ja, sie sollte ihn hinaus werfen, vielleicht nicht aus der Casa, aber doch aus ihren Räumlichkeiten, für die Dreistigkeit, die er an den Tag legte, dafür, dass er es gewagt hatte, so sehr in sie zu dringen, ihre Privatsphäre beiseite zu wischen und etwas an den Tag zu legen, was sie nicht ohne Grund mühsam zum Bodensatz ihrer Seele machte und dort vergrub. Sie bemühte sich verzweifelt um Fassung. Um Kontrolle. Setzte dazu an zu reden, wollte seine Worte mit einer leichten Bewegung wegwischen – es war so viel effektiver, wenn ihr das gelang, als ihn aus ihrem Zimmer zu werfen. Ein leichter Kommentar, und seine Vermutungen würden ihm selbst lächerlich vorkommen. Ein Rausschmiss, und er würde sich nur bestätigt sehen. „Wie... wie kommst du auf die Idee, dass ich... so...“ Sie konnte das nicht, stellte sie fest, brachte das nicht so über die Lippen, wie sie es haben wollte. Und ihre Stimme versagte, als sie drohte, den Kampf nun doch noch zu verlieren. Für Momente wurde die Panik wieder schlimmer, drohte überhand zu nehmen, die Kontrolle an sich zu reißen. Ihre Gedanken rasten, tobten, tollten in einem immer wilderen Reigen um all das, was in den vergangenen Jahren dazu geführt hatte, dass sie so geworden war wie sie nun war – ihre Mutter, Archias, der Tod ihrer Brüder, der Sicinius, wieder ihre Mutter, der verzweifelte Drang es ihr recht zu machen, die Hoffnung in Archias etwas gefunden zu haben, was ihr Halt gab, so groß war die Hoffnung gewesen, dass sie sich sogar mit Faustus entzweit hatte deswegen, und wieder ihre Mutter.
Seiana schloss die Augen, und ihre Hände ballten sich zu Fäusten, während ihr Atem sich erneut beschleunigte und sich die Bilder in ihren Gedanken plötzlich rot verfärbten, blutrot. Mit einem Ruck stand sie auf, so heftig, dass ihr Stuhl nach hinten kippte, und machte ein paar hastige Schritte weg, zum Fenster hin, wo sie mit um den Oberkörper verschlungenen Armen, seitlich zu Massa, stehen blieb. Sie sollte ihn doch hinaus werfen. Es war ohnehin zu spät, sie hatte schon zu deutlich gezeigt, dass es ihr im Augenblick schwer fiel die Fassung zu wahren. Aber er hatte Faustus gerettet. Faustus. Er hatte ihm das Leben gerettet. Er hatte ihn heim gebracht, zu ihr. „Ich kann nicht“, hörte sie sich sagen, ihre Stimme immer noch so rau, so unerträglich tonlos. „Ich... ich kann nicht.“