Stunden später waren ihre Räume wieder aufgeräumt, und zumindest äußerlich wies nichts mehr daraufhin, was hier vorgefallen war. Solange man nicht in so manche Truhe sah, die nun leer war. Und solange man nicht Seiana selbst ansah, die – recht atypisch für sie – nun schon seit einer geraumen Weile kaum für längere Zeit die Muße fand, sich hinzusetzen und einfach sitzen zu bleiben, sondern immer wieder aufsprang und umher lief, ständig die Position wechselte. Sie stand beim Fenster und sah hinaus. Sie saß auf dem Bett, den Kopf in die Hände gelegt. Sie lehnte an der Tür mit zurückgelegtem Kopf und geschlossenen Augen. Sie saß am Tisch, eine Hand an ihrem Kinn. Sie stand vor einer Wand und stützte sich mit den Händen daran ab. Sie stand einfach nur mitten im Raum und starrte ins Leere. Und recht bald hielt sie es in ihren Räumen überhaupt nicht mehr aus und dehnte ihre ruhelosen Wanderungen auf das Haus aus. Ihr Cubiculum fühlte sich so... so anders an. Obwohl alle Spuren des Chaos' verschwunden waren, meinte sie die Eindringlinge noch zu spüren, die dort gewesen waren, und das zehrte an ihren Nerven, machte sie nervöser als ohnehin schon. Sie hielt es nicht aus auf Dauer, und so lief sie durchs Haus, blieb mal hier stehen, mal dort sitzen, und verlagerte sich schließlich auf die Bibliothek, die nach dem Garten, in dem überhaupt kein Prätorianer gewesen war, noch am ehesten so etwas wie einen Rückzugsort darstellte.
So ging das die ganze Zeit, stundenlang. Irgendwann wurde es Nacht, aber obwohl sie müde wurde, wollte sich Schlaf nicht einstellen bei ihr. Zu drängend war die Frage, was sie dem Terentius bieten könnte, zu sehr kreisten ihre Gedanken nur um dieses Thema. Sie brauchte etwas. Irgendetwas. Ginge es nur um sie, sie allein… vielleicht hätte sie es dann sogar darauf ankommen lassen. Auf eine Verhandlung. Nach wie vor konnte sie einfach nicht so recht daran glauben, dass es wirklich zum Äußersten kommen würde. Selbst wenn es zur Anklage kam, Mattiacus konnte sie verteidigen, und wenn eines über die Decimi bekannt war, dann dass sie zwar dem Vescularius nicht freundlich gesonnen waren – aber dem Kaiser loyal. Und sie hatte nichts getan. Der Codex Iuridicialis sah die Todesstrafe aber nur für Fälle von tatsächlichem Hochverrat vor.
Aber es ging nicht nur um sie. Es ging auch um ihre Familie. Und vor allem: es ging auch um Faustus. Sie wollte, konnte und würde nicht riskieren, dass er da mit hinein gezogen wurde.
Und dann war da noch etwas, etwas, was sie kaum wagte sich einzugestehen. So sehr sie sich auch einreden mochte, dass es nicht zum Äußersten kommen würde… ein Rest Zweifel blieb. Sie konnte sich nicht sicher sein, ob es nicht doch dazu kommen würde. Wenn der Praefectus Praetorio tatsächlich an ihr ein Exempel statuieren wollte, und ihm egal war, wie schuldig oder unschuldig sie tatsächlich war… Dann würde es ein Leichtes für ihn sein, Beweise für einen Hochverrat zu fingieren, die eindeutig waren. Natürlich bestand selbst dann immer noch die Chance, dass die Iudices ihr glaubten. Nur… wie wahrscheinlich würde das sein?
Und so wanderte sie weiter durch die Casa, mit der Bibliothek als Zentrum, ruhelos – und ohne eine zündende Idee. Und je länger das so ging, desto drängender, bedrückender und zugleich blockierender wurde der Gedanke, dass ihr etwas einfallen musste, wenn schon nicht wegen ihr oder ihrer Familie, dann auf jeden Fall um Faustus‘ willen.
Faustus. Seiana, die gerade wieder an einem Schreibtisch in der Bibliothek saß, stützte die Ellbogen auf, legte ihr Gesicht in die Hände und atmete tief durch. Sie musste ihm schreiben, aber sie wusste nicht was. Komm heim. Hilf mir. Komm heim. Komm heim. Komm heim. Die Worte hämmerten in ihrem Kopf, aber es war sinnlos. Kein Brief der Welt konnte ihn rechtzeitig erreichen, und erst recht konnte ihn nichts rechtzeitig herbringen. Und davon abgesehen: das würde sie ihm wohl ohnehin niemals schreiben. Sie konnte ihn nicht mit ihren Problemen belasten, sie musste irgendwie allein damit fertig werden. Sie hatte nur keine Ahnung wie. Was konnte sie dem Terentius schon bieten? Geld war kaum eine Option, davon hatte er selbst genug. Sie war nicht arm, aber bei weitem nicht so unermesslich reich, dass sie ihm eine ausreichende Summe hätte anbieten können – wenn sie das Familienvermögen mit in Betracht zog, wäre es etwas anderes, aber dafür würde sie ihre Familie hineinziehen müssen, und genau das wollte sie vermeiden. Aber was blieb dann noch? Ihr war sogar flüchtig der Gedanke gekommen, dass sie… versuchen könnte… ihn zu verführen. Aber das hatte sie so schnell wieder beiseite gewischt, wie es ihr gekommen war. Zum einen würde der Terentius dieses Angebot kaum als ausreichend erachten für das, was sie im Gegenzug wollte. Immerhin gab es genug Lupae in Rom, und ein Mann wie er dürfte auch sonst kaum Schwierigkeiten haben, Frauen für sein Bett zu finden. Und zum anderen… war das nicht sie. Sie konnte nicht verführen. Sie hätte nicht einmal gewusst, wie sie das hätte anstellen sollen. Sie würde sich nur lächerlich machen, wenn sie es versuchte, und ihm simpel hinzuknallen, dass er sie im Bett haben konnte, wenn er wollte… nein. Nein. Das war keine Option. Sie würde es sich kaum leisten können abzulehnen, wenn er damit ankam… aber sie konnte das einfach nicht auf den Tisch bringen, so verzweifelt war sie nicht. Und sie hakte diesen speziellen Gedanken ab, bevor wieder jene Bilder über sie hereinbrechen würden, die sie so mühsam bekämpft hatte und die nach wie vor in ihr lauerten. Nein. Was sie wirklich zu bieten hatte, waren ihr Einfluss und ihre Verbindungen als Decima und als Auctrix.
Und genau das hatte ihm in ihrem Gespräch schon nicht gereicht.
So verging die Nacht, ohne dass sie ein Auge zutat, und als der Tag anbrach, war sie kein Stück weiter. Sie stand am Fenster und sah zu, wie der Morgen dämmerte… und sie hatte immer noch keine Idee, keine Lösung, nichts. Stattdessen hatte sie das Gefühl, dass ihr Kopf dröhnte, so sehr, dass es immer schwerer fiel klar zu denken. Und erst in diesem Moment, als ihr das bewusst wurde, traf sie die Entscheidung, um Hilfe zu bitten.