„Sag einfach Bescheid, falls du etwas möchtest“, lächelte Seiana. Sie musterte die Aurelia, während diese ihrer Sklavin die Erlaubnis gab, sich zurückzuziehen. Der decimische Sklave würde sie wohl in die Küche bringen, der übliche Aufenthaltsort für Sklaven von Besuchern, die länger hier verweilten. Zurück blieben die beiden Frauen, alleine nun, und setzten sich. Seiana wusste nicht, wie es ihrem Besuch ging, aber nachdem nun die erste Begrüßung vorbei war, fühlte sie sich fast ein wenig unbeholfen. Ihr letztes Gespräch war für sie nach wie vor präsent, und es hatte sich – durchaus angenehm – abgehoben von jenen, die man sonst so führte mit Fremden. Allerdings: eine Atmosphäre, wie sie beim letzten Mal entstanden war, ließ sich nicht mit einem Fingerschnipsen kreieren. Sie ließ sich im Grunde gar nicht wirklich kreieren, da sie einfach entstanden war, aus der Lektürewahl der Aurelia und ihrer beider Offenheit. Dass sich an jenem Tag letztlich zwei einander Fremde unterhalten hatten, die sich nicht wirklich kannten, hatte damals, zeitweise zumindest, keine Rolle gespielt. Aber jetzt war das spürbar, für Seiana in jedem Fall, und es machte sie ein wenig unschlüssig, wie sie mit der Situation nun umgehen sollte.
Die Frage der Aurelia löste dies allerdings für den Moment – und machte es zugleich paradoxerweise noch schwieriger. Unwillkürlich bekam die Decima das Gefühl, dass die Frage ernst gemeint war, dass es die andere tatsächlich interessierte… eines der Dinge jedoch, die sie am meisten beschäftigte, konnte sie ganz sicher nicht erwähnen. Sie schob jeglichen Gedanken an den Duccier, an das, was passiert war und daran, wie sie es einordnen, wie sie damit umgehen sollte, beiseite, oder versuchte es zumindest. Sie hatte in der Tat genug darüber gegrübelt, ohne auch nur ansatzweise zu einem Ergebnis gekommen zu sein – zu widerstreitend war das, was die Erinnerung an jene Nacht in ihr auslöste.
Da war der Teil, der darauf beharrte, dass sie sich dadurch weiter denn je vom Idealbild einer Römerin entfernt hatte.
Da war der Teil, der diesem Wissen mit einem Schulterzucken begegnete, denn: es war nun mal passiert, daran ließ sich nichts mehr ändern. Und kein Drama hatte daraus resultiert, nichts. Es hatte sich nicht einmal großartig etwas an ihrem Leben verändert. Natürlich nicht.
Und da war der Teil, der... berauscht war. Immer noch oder jedes Mal von neuem – so genau konnte sie das nicht unterscheiden –, wenn sie sich erlaubte wirklich daran zu denken. Dem es schlicht und ergreifend gefallen hatte. Und der noch dazu Schützenhilfe von der Tatsache bekam, dass der Duccier Recht gehabt hatte – dass er sie tatsächlich, für einen gewissen Zeitraum wenigstens, der Welt hatte entrücken können.
Seiana schenkte sich selbst ein wenig Wein ein und füllte den Rest des Glases mit Wasser. Es brachte nichts, darüber nachzudenken, weil sie doch zu keinem Schluss kam. Alles in allem war es also besser, einfach gar nicht mehr darüber nachzudenken und im Übrigen sich zu verhalten wie immer. Und es war ja nicht so, dass sonst nichts passiert wäre seit sie die Aurelia getroffen hatte. „Nun, dadurch dass ich vom Senat zur Auctrix ernannt wurde, hat sich mein Arbeitspensum deutlich erhöht. Aber die Einarbeitungszeit habe ich inzwischen hinter mir, denke ich, langsam spielt es sich ein.“ Seiana hielt für einen Moment inne, als ihr bewusst wurde, dass sie im Grunde nun noch ein Stückchen mehr das repräsentierte, was sie bei ihrem letzten Gespräch noch mehr oder weniger abgetan hatte – dass sie ihren Weg ging, außerhalb des Rahmens, den die Gesellschaft eigentlich vorgesehen hatte. Der Preis dafür war nur, dass sie immer noch nicht das erfüllte, was von einer Frau eigentlich erwartet wurde – und sie glaubte immer noch nicht so recht daran, dass sich dadurch irgendetwas ändern würde. „Mein Beileid übrigens zu den Verlusten, die deine Familie erlitten hat. Ich kann mir vorstellen, wie schwer diese Phase sein muss. Und gerade der Tod von Aurelius Corvinus bedeutet auch einen Verlust für die Acta und für mich.“ Erneut machte sie eine winzige Pause, bewusst diesmal, den Worten angemessen, bevor sie weitersprach. „Was ist mit dir?“