Beiträge von Decima Seiana

    Auch Seiana hatte erneut Platz genommen in dem Saal an den nachfolgenden Verhandlungstagen. Sie dachte an den Brief, den sie von Tante Lucilla erhalten hatte, und grübelte darüber nach, ob sie wohl auch schon wusste, dass Livianus verklagt worden war. Oder was sie wohl dazu sagen würde. Es war leichter, an Lucilla zu denken als an Faustus, für den hier mehr auf dem Spiel stand. Selbst wenn das Gericht entscheiden sollte, dass Livianus die Adoption nicht hätte durchführen können... konnte sie ja immer noch vor einem anderen Praetor nachgeholt werden. Dennoch war das eine Sache, die sie ihrem kleinen Bruder am liebsten ersparen würde. Überhaupt würde sie ihm diese ganze Sache am liebsten ersparen, das war einer Gründe, warum sie ihm bisher noch nicht von diesem Verfahren geschrieben hatte. Bis der Brief ihn erreichte, würde es ohnehin schon vorbei sein – dann konnte sie genauso gut das Ergebnis abwarten. Und obwohl sie durchaus versuchte, der Verhandlung objektiv zu folgen, kam sie nicht umhin zu hoffen, dass Livianus freigesprochen wurde.

    „Dreizehn Jahre“, murmelte sie. Der letzte größere Kampf, den sie gehabt hatte, wenn man das so sagen konnte. Danach war es stetig... bergab gegangen. Wenn man das so sagen konnte. Als er dann dazu ansetzte, auf ihre Frage zu antworten, musterte sie ihn, sein Profil, während er aus dem Fenster sah und sie an ihren Füßen eine sachte Berührung spürte. Sie starrte ihn also an, als hätte das nicht geschehen dürfen – Kunststück, es hätte auch nicht geschehen dürfen, rebellierte etwas in ihr, jedenfalls nach dem, was die Gesellschaft vorgab. Die römische. Sie wusste nicht, wie das bei den Germanen war. Darauf reagierte sie allerdings nicht – erst bei seinen nächsten Worten. Ihre linke Augenbraue rutschte ein Stück nach oben. „Sicher nicht“, kommentierte sie trocken, und in ihrer Stimme schwang sogar ein wenig Humor mit angesichts des Sarkasmus, den sie aus seinen Worten hörte. „Ich mag keine Erfahrung haben, aber ich bin nicht naiv.“ War sie vielleicht doch, in manchen Dingen, aber nicht in dieser Hinsicht. Ganz abgesehen davon, dass allein der Fakt wie manche Römer ihre Sklavinnen gebrauchten kein Geheimnis war, abgesehen davon, dass auch Caius keinen Hehl daraus gemacht hatte, wie er zu Sex stand, hatte ihr die vergangene Nacht – neben einigen anderen Dingen – auch gezeigt, dass er neben Charme vor allem eines besaß: Erfahrung. Und er hatte das hier gewollt. Sie wusste nicht, wann er auf die Idee gekommen war mit ihr im Bett zu landen – aber spätestens als er sie aufgefordert hatte die Augen zu schließen, musste es so weit gewesen sein.


    Seine darauffolgenden Worte ließen ihre Augenbraue noch ein wenig höher rutschen. Fischerjungs verprügeln, damit verglich er die Nacht? Sie wusste nicht, ob sie nun lachen sollte, aber sie entschied sich dafür, gar nicht zu reagieren. Dass sie Spaß gehabt hatte, damit hatte er Recht. Nur... der Rest. Alles, was damit zusammenhing. Sie dachte wieder an Faustus – der davon nie, nie, niemals erfahren durfte. Niemals! Genauso wenig wie irgendjemand sonst. Sie hörte ihm weiter zu, ließ die Worte in sich nachklingen... und sie fing nun an zu begreifen, was er ihr sagen wollte. Aber so recht entscheiden konnte sie sich nicht. Wenn das ein Fehler gewesen war, war es ein verdammt guter gewesen. Es musste aber ein Fehler gewesen sein, war sie nun doch weiter denn je von dem Idealbild einer römischen Frau entfernt. Und... ihre Gedanken begannen sich erneut zu kreisen, und sie wünschte sich, sie hätte seine pragmatische Herangehensweise. Wünschte sich, da wäre nicht so viel zu beachten. Schreiben. Sie könnte schreiben, ihre Gedanken aufschreiben, um irgendwie Ordnung hinein zu bekommen und eine Wertung, weil sie es irgendwie ordnen und werten musste, um entscheiden zu können, was sie nun damit anfing. Sie konnte nicht einfach ignorieren, was geschehen war. Aber sie konnte dieses Chaos in sich auch nicht weiter toben lassen, sie brauchte Struktur. Kontrolle. „Fehler oder nicht, es hat Spaß gemacht. Ja.“ Das immerhin konnte sie zugeben, ihm gegenüber wenigstens. Noch so ein Kunststück. Er war ja dabei gewesen, und sie, das wusste sie, mochte in der Nacht einiges gezeigt haben, aber ganz sicher nicht, dass es ihr nicht gefallen hatte. Genau das war es ja, was sie vor so ein Dilemma stellte. Hätte es ihr nicht gefallen, sie hätte sich anstandslos in das Loch fallen lassen können, von dem er sprach, von dem Gram und der Bitterkeit und der Schuld. Aber so... war das nicht so einfach. All ihrem Denken hatte in den letzten Jahren immer die Überzeugung zugrunde gelegen, dass es richtig war, was Ehre und Anstand und Tradition verlangten, dass es gut war, dass es einen Sinn hatte. So hatte sie es eingebläut bekommen, nachdem ihre Mutter ihren Kindheitseskapaden schließlich einen Riegel vorgeschoben hatte. Aber das hier... bei den Göttern, das mit dem Nachdenken war keine gute Idee, und doch kam sie nicht los davon.


    Sie beschloss, sich zu zwingen, und Aktivität erschien ihr als gutes Verdrängungsmittel. Seiana erhob sich, nackt wie sie war, ließ die Decke auf dem Bett und ging hinüber zu ihrem Kleid, das irgendjemand ordentlich aufgehängt hatte. „Ich sollte gehen. Du hast sicher zu tun.“ Und sie hatte Hunger, wie sie mit einem Mal feststellte, als ihr Magen sich mit einem Grummeln bemerkbar machte. Ein Bad würde ihr auch gut tun. Sie zog sich das Kleid über den Kopf, das dankenswerterweise nicht nur schlichte Eleganz ausstrahlte, sondern auch tatsächlich schlicht gehalten war, so dass es kein Problem darstellte, es alleine anzusehen – im Gegensatz zu manchen anderen Kleidern, die es so gab. Nur eine Fibel fehlte, bemerkte sie. Und ihre Haare konnte sie auch nicht so offen lassen. Das Leben war herrlich einfach, so lange man sich mit solchen Kleinigkeiten beschäftigen konnte. Seiana bewegte leicht die eine Stoffbahn, die herunterhing, nur gehalten von ihrer Hand. „Ich habe unten noch etwas... liegen gelassen, scheint es.“ Er, eigentlich. Sie konnte sich nicht erinnern, wie sie in der Nacht in sein Cubiculum gekommen war, und erst recht nicht, dass sie irgendetwas mitgenommen hatte, also musste er sie wohl gebracht haben. „Und könntest du meine Begleiter rufen lassen?“ Von denen sie immer noch nicht wusste, wo sie waren oder wie sie die Nacht verbracht hatten. Irgendwie begann gerade wieder die Fassungslosigkeit, ein fast schon ungläubiges Staunen über das Geschehene, in ihr zu überwiegen.

    Zu alldem, was ihr ohnehin schon durch den Kopf schwirrte, kam nun auch noch eine nicht zu unterschätzende Portion Überraschung hinzu, als Seiana die Reaktion des Ducciers wahrnahm. Er wirkte genervt – seine Worte klangen so, und seine Reaktion schien es ebenfalls zu sein. Es war nicht so, dass sie enttäuscht war, immerhin hatte sie etwas Distanz gewollt, gebraucht. Aber sie hatte nicht erwartet, dass er nun so reagieren würde. Und so starrte sie nur zurück, überrascht und verwirrt, als er nackt mitten im Raum stand und sie eine ganze Zeitlang musterte, ohne irgendetwas zu tun. Irgendwann gähnte er und streckte sich, nur um sie dann weiter anzusehen, und Seiana... lag auf seinem Bett, die Ellbogen hinter sich abgestützt, und wurde einfach nicht schlau aus ihm. Dieses Gefühl manifestierte sich noch, als er dann doch etwas tat, genauer: lächelte, dann den Mund aufmachte und etwas sagte. Und noch während Seiana versuchte zu begreifen, was er meinte, küsste er sie und verschwand. Immer noch mit diesem Lächeln. Und Seiana starrte ihm mit offenem Mund hinterher.


    Mehrere Augenblicke vergingen, in denen sie so da saß und die mittlerweile geschlossene Tür ansah. Dann streckte sie sich, angelte nach der Decke, zog sich ein Eck davon über den Kopf und ließ aufs Bett zurückfallen. Verstecken vor der Welt, das schien ein guter Einfall zu sein in diesem Moment. Sie wusste, dass sie das nicht ewig konnte, aber das ignorierte sie. Sie wusste, dass sie die Chance nutzen und gehen sollte, aber das ignorierte sie auch. Sie wusste nicht, was sie tun sollte, und das konnte sie nicht ignorieren. Sie hatte niemals jemanden so nahe an sich herangelassen, und das im wahrsten Sinne des Wortes. Sie hatte noch nie so etwas erlebt. Nach allem, was ihr eingebläut worden war, hätte sie es auch gar nicht erleben dürfen, nicht so. Und trotzdem war es passiert. Und, mehr noch: es hatte ihr gefallen. Sie müsste dreist lügen um zu behaupten, dass es ihr nicht gefallen hätte. Und trotzdem war es... falsch... gewesen, jedenfalls nach dem Maßstab, der ihr anerzogen worden war. Seiana verzog das Gesicht zu einer Grimasse und zog die Beine an, so dass ihre Knie nun nach oben ragten, während ihr Oberkörper immer noch gerade da lag, die Arme über dem Kopf verschränkt, dazwischen der Zipfel der Bettdecke, der ihr Gesicht vor der Welt abschirmte. Es tat ihr gut, für den Moment, dass sie allein war, dass sie ihre Ruhe hatte, und sie wollte das nicht aufgeben, nicht einmal für die Zeit, es benötigte, um nach Hause zu kommen. Himmel, sie wusste nicht einmal, wo die beiden Sklaven steckten. Und sie wusste auch nicht, was sie tun sollte, wenn sie erst mal zu Hause angekommen war. Wenn sie anderen Menschen begegnete. Sie fand es angenehmer, diesen Moment noch hinauszuzögern. Der einzige Mensch, dem sie hier begegnen konnte, war Vala, und der, nun ja, wusste Bescheid. Natürlich.


    Seiana lag noch so da, als sie die Tür wieder hörte, und ein kurzes Hervorlinsen unter der Decke überzeugte sie davon, dass es der Duccier war, und nicht etwa ein Sklave. Nachdenklich musterte sie ihn. er hatte gehalten, was er ihr versprochen hatte. Er hatte dafür gesorgt, dass sie die Welt um sich herum vergaß, dass sie all das hinter sich lassen konnte, was ihr auf den Schultern lastete, und es war sogar... einfach gewesen, nachdem sie einmal losgelassen hatte. Sie war nicht so naiv zu glauben, dass er das aus purer Nächstenliebe getan hatte, aber das änderte nichts daran, dass es so war. Und dann waren da noch seine Worte von gerade eben, die ihr mehr zu denken gaben als ihr lieb war – ebenso wie seine Reaktion von davor. Sie holte Luft. „In einem Vorort von Tarraco“, kam es halb unter der Decke hervor, bevor sie sie endgültig vom Gesicht zog. Ihre Finger zeichneten die Narbe nach, die zuvor noch von seinen berührt worden war. „Einer der Fischerjungs, die meinem jüngeren Bruder das Leben schwer gemacht haben. Ich hab mich mit ihm geprügelt.“ Seiana fuhr sich durch die Haare und sah ihn an, ohne sich aufzusetzen. „Was hast du vorhin gemeint?“

    Sie ließ sich wieder sinken, aber sie starrte weiter vor sich hin. Einmal begonnen, konnte sie den Gedankenfluss nicht mehr so einfach stoppen, obwohl es weniger einem Fluss glich, was durch ihren Kopf strömte, mehr einem Strudel, oder einem Gewitter – voll von Blitzlichtern, die das Dunkel zerrissen und fetzenartig Szenen und Gesichter beleuchteten. Faustus kam ihr in den Sinn. Ihre Familie. Die Arbeit. Faustus. Sie selbst, wie sie sich bemühte, so sehr, dem Bild zu entsprechen das gefordert war. Ihre Mutter. Ihre Mutter! Seiana hätte am liebsten aufgestöhnt in diesem Moment. Würde ihre Mutter sich nicht gerade im Grab umdrehen, wäre es wohl Seianas Hals, der dran glauben müsste. Und doch, immer wieder, sah sie auch Szenen der vergangenen Nacht vor ihrem inneren Auge, und in diesen Augenblicken war sie beinahe ebenso fassungslos wie in den anderen – nur aus völlig anderen Gründen. Das war sie gewesen. Sie. Völlig unverständlich. Seiana presste nun doch die Lider aufeinander, aber mit geschlossenen Augen wurden die Eindrücke noch mehr, heftiger, die durch ihren Geist schwirrten, und sie öffnete sie lieber wieder, sich nichtsdestotrotz unglaublich, fast schon unverschämt wohlig zufrieden zu fühlen, so sehr, dass sie sich am liebsten wie eine Katze geräkelt hätte. Aber das war nun etwas, was sie sich unter keinen Umständen erlauben konnte.


    Nein, Seiana rührte sich einfach gar nicht, abgesehen von dem Atem, der ihren Brustkorb hob und senkte. Sie kam nicht ganz klar mit der Unzahl an verschiedenen Eindrücken, die auf sie einstürmten. Wie unmöglich das gewesen war, was sie getan hatte. Wie unglaublich es gewesen war. Wie wohl sie sich fühlte, ein Teil von ihr wenigstens, ebenso wie ihr Körper, der zwar so gerädert war wie selten, aber zugleich auf eine Art entspannt, die sie nicht kannte. Und dann war da noch der Körper, auf dem sie schon wieder halb lag. Es mochte lächerlich sein angesichts der vergangenen Nacht – und des bisherigen Verlaufs des Morgens –, aber je wacher sie wurde, je mehr ihr Verstand wieder einsetzte, desto mehr begann Seiana, die Nähe zunehmend als unangenehm zu empfinden. Sie überlegte schon, wie sie am besten abrücken konnte von ihm, wie aufstehen, ohne dass es auffiel – und ja, sie war sich bewusst, dass sie nie schaffen würde zu gehen, ohne dass es ihm auffiel, aber trotzdem dachte sie genau darüber nach –, als seine Finger, die immer noch über sie strichen, plötzlich an einer ihr nur allzu vertrauten Stelle verharrten, und gleich darauf wieder seine Stimme erklang. Die Stelle, auf der die Narbe lag, zuckte leicht, dann nutzte sie die Gelegenheit, um ein wenig von ihm abzurücken, Distanz zwischen sich zu bringen, so er es zuließ. Ein fast schon sehnsüchtiger Blick traf die Decke, die im Eifer des Gefechts zuvor auf dem Boden gelandet war. „Als Kind“, meinte sie schließlich, als klar wurde, dass er auf eine Antwort wartete. Und unterhalten lenkte vom Nachdenken ab. „Ich war... nicht das, was man ein braves römisches Mädchen nennt.“

    Andeutungsweise wölbte sich auch eine ihrer Brauen nach oben, die linke, um genau zu sein, als Seiana die Antwort des Duumvirs hörte. Sie hatte sich im Grunde konkret auf das Gerede über ihre eigene Person bezogen gehabt, allerdings wohl nicht deutlich genug formuliert – und sie sah auch keinen Grund, das jetzt richtig zu stellen. „Und ebenso viele erweisen sich als falsch. Ich überlasse es meinen Mitarbeitern, die Spreu vom Weizen zu trennen, andernfalls hätte ich viel zu tun“, antwortete sie, nur um dann doch hinzuzufügen: „Dass ich nicht viel auf Gerede gebe, heißt nicht, dass ich die Nachrichten missachte, die für die Acta von Bedeutung sein könnten. Was über die Auctrix getratscht wird, ist aber kaum von Interesse für irgendjemanden.“ Jetzt lächelte sie wieder, und als der Quintilier dann anfing zu erzählen, machte sie sich in der Tat Notizen. Sonderlich ergiebig waren sie nicht, aber nun – sie war auf gut Glück hergekommen, sie hatte gewusst, dass sie nicht mit viel rechnen konnte. Hätte sie tatsächlich etwas Wichtiges gehabt, sie hätte vorab einen Termin vereinbart. „Sehr gerne, ja“, antwortete sie auf seine Frage, las ihre Notizen, fuhr sich nachdenklich mit Zeigefinger und Daumen über das Kinn, zog eine Linie bis hin zur Unterlippe, bevor sie aufsah und auch das Manuskript überflog, das er ihr reichte. „Du hast erwähnt, dass die Lex Municipalis eine Gesetzesgrundlage darstellt, unter anderem für die Entwicklung eines Lohnkatalogs. Was schwebt dir noch vor, was auf Grundlage dieser Lex erstellt werden könnte?“ Mit angemessenem Interesse sah sie ihn an.

    Seiana schlief weiter, als Vala sie hochhob. Sie schlief, als er sie in sein Cubiculum trug. Und sie schlief auch noch, als er sie in sein Bett legte. Erst, als seine Hände wieder auf Wanderschaft gingen, wachte sie auf, und noch bevor ihr Verstand wirklich wach wurde, hatte die Lust schon wieder Besitz von ihr ergriffen – und als Vala sich erneut ihres Körpers bemächtigte, gab es nichts, was sie dagegen gehabt hätte. Erst später, als sie wieder beieinander lagen, konnte ihr Kopf sich zum ersten Mal wenigstens ansatzweise Gehör verschaffen. Nicht wirklich viel, aber genug, um ihr klar werden zu lassen, dass sie besser gehen sollte, und zwar bevor sie erneut einschlief. Sie spürte bereits die Erschöpfung in ihren Gliedern, und sie machte Anstalten sich zu erheben, um zu verhindern, dass sie wieder Überhand nahm – als Vala eingriff und ihr Vorhaben sehr effektiv zu verhindern wusste, und das im Grunde mit nur wenigen Worten. Allerdings war es weniger das, was er sagte, sondern vielmehr wie er es sagte. Der Duccier sprach im Brustton der Überzeugung, und Seiana glaubte ihm aufs Wort, dass er nicht vorhatte sie gehen zu lassen.


    Und so blieb sie. In nahezu jedem anderen Moment hätte sie wenigstens versucht, ihren Willen durchzusetzen, oder das, was sie dafür hielt, aber in diesem fehlte ihr schlicht die Energie, und obwohl ein Teil von ihr glaubte, es sei besser zu gehen, wollte ein anderer Teil genau das nicht, und dieser Teil hatte tatkräftige Unterstützung, sowohl von Vala als auch von ihrer eigenen Erschöpfung. Es dauerte nicht lang, bis sie ein weiteres Mal einschlief... und ein weiteres Mal geweckt wurde wie bereits in der Nacht. Wieder kam sie nicht zum Denken, dafür aber umso mehr zum Genießen, und wieder endete es damit, dass sie schwer atmend neben ihm zum Liegen kam, seine Hand in ihrem Haar. Diesmal, nach einer Nacht mit doch durchaus ausreichendem Schlaf, ergriff die Erschöpfung nicht so überwältigend von ihr Besitz. Was nichts anderes hieß als: ihr Kopf startete einen weiteren Versuch, auf sich aufmerksam zu machen, langsam, zögerlich und noch ohne allzu großen Rückhalt in ihr, aber nichtsdestotrotz spürbar für sie. Was Seiana selbst nicht wirklich gefiel. Sie war... sie wusste nicht, was sie war. Sie wusste es nicht. Sie wollte gar nicht darüber nachdenken, was sie getan oder warum sie das zugelassen hatte. Sie wollte nicht. Nicht jetzt, nicht so, überhaupt nie, weil es einfach zu viel war, was dann auf sie einstürmen würde, und weil sie nicht zugeben wollte, nicht einmal sich selbst gegenüber, was für eine unglaubliche, riesengroße Dummheit sie begangen hatte, eine Dummheit, mit der sie ihre Ehre verschleudert hatte, mit der sie den Ruf ihrer Familie in Gefahr brachte, mit der sie im Grunde doch alles mit Füßen getreten hatte, was ihr wichtig war. Und die so gut gewesen war. Die sie der Welt entrückt hatte, wie der Duccier es versprochen hatte, und genau daran wollte Seiana sich noch ein wenig länger festklammern, wenn es irgendwie ging.


    Sie starrte vor sich, starrte auf die Brust, auf der ihr Kopf ruhte, bemerkte zum ersten Mal tatsächlich die Narben, die sie im Lauf der Nacht schon erfühlt, aber nicht so wirklich bewusst wahrgenommen hatte, und fragte sich – schon allein aus ablenkungstaktischen Gründen –, wie er diese wohl bekommen hatte. Was er erlebt haben musste, um sie zu bekommen. Was sie dann auf den Gedanken brachte, dass sie diesen Mann kaum kannte. Im Grunde gar nicht. Völlig außerhalb ihrer üblichen Rolle achtete Seiana noch nicht darauf, ihre Gesichtszüge zu kontrollieren, und so verzog sich ihre Miene sichtbar zu einer kurzen Grimasse, als sie Lider und Lippen zusammenpresste. Dummheit, wisperte es in ihren Gedanken, bevor sie eben diese erneut wegschob. Im nächsten Moment erklang seine Stimme, und Seiana erstarrte kurz. Ihr wurde bewusst, dass sie – und irgendwie verschaffte ihr das ein Déjà-vu – keine Ahnung hatte, wie das üblicherweise nun weiterging. Oder was sie tun sollte. Sie entschloss sich für den Moment für die einfachste Variante, die da schlicht lautete: antworten. „Guten Morgen“, kam also schließlich leise über ihre Lippen, während sie es nicht über sich brachte, ihn anzusehen. Sie war versucht, nach der Seiana in sich zu suchen, die sie selbst in der vergangenen Nacht so schmählich ins Abseits gestellt hatte, weil es diese Seiana war, die ihr zu Kühle und Distanz verhalf, wo sie sonst nicht weiter wusste. Das Problem war nur, dass diese einherging mit eben jenen Selbstvorwürfen, die sie sich nicht machen wollte. Sie richtete sich ein wenig auf und sah ihn nun doch an, versuchte einen Mittelweg zu finden, der sie diesen Moment einigermaßen akzeptabel hinter sich bringen ließ. Sie sah ihn an, öffnete sogar leicht die Lippen – nur um festzustellen, dass ihr die Worte fehlten, und mit einem angedeuteten Kopfschütteln ließ sie sich wieder sinken.

    Welches Glück sie ihm bescherte durch den simplen Fakt, dass sie ihm die Gunst geschenkt hatte Erster zu sein, bemerkte Seiana nicht einmal. Zu beschäftigt war sie in diesem Augenblick mit sich, ihrem eigenen Körper und dessen Reaktion auf das, was geschah. Schmerz und Lust rangen in ihr miteinander, während ihr Körper sich wand unter dem Duccier, für Momente schwankend zwischen Offensive und Rückzug. Nicht dass ein tatsächlicher Rückzug zur Debatte stand, bei weitem nicht – schon allein deshalb nicht, weil sie physisch gar nicht die Möglichkeit dazu hatte. Aber wenn es zu viel zu werden schien, zuckte ihr Körper zurück, suchte nach etwas anderem, anderer Bewegung, anderem Rhythmus. Herzschläge vergingen, Seiana wusste nicht wie viele, weil sie nicht dachte, sondern nur empfand und ihren Körper reagieren ließ, wie er es für richtig hielt – Herzschläge vergingen, innerhalb derer Vala die Kontrolle vollständig wieder zurückeroberte. Nach und nach folgte ihr Körper dem Druck, den er ausübte, folgte dem Rhythmus, den er so zwingend vorgab, und nach und nach wurde der Schmerz, das Unangenehme schwächer, verschwand nicht ganz, aber wurde schwach genug, dass die Lust wieder vollständig von ihr Besitz ergriff. Und je mehr dies geschah, desto mehr konnte sie sich Valas Bewegungen wieder in freiem Maß anpassen, konnte die Vereinigung ihrer Körper genießen, bis zu dem Finale, auf das er sie beide geschickt zusteuerte.


    Als die Spannung sich aus ihrer beider Körper verflüchtigt hatte, lag sie einfach nur da, mit geschlossenen Augen. Sie dachte nichts. Sie war zu erschöpft, zu überwältigt, um irgendetwas zu denken. Sie war fix und fertig, um genau zu sein, und so lag sie da, lauschte in ihren Körper hinein, spürte den Nachhall des soeben Erlebten, spürte zugleich seine Finger in ihren Haaren und wie sich der Körper, an und teils auf dem der ihre lag, sacht hob und senkte unter stetigen, ruhiger werdenden Atemzügen. Die sich wiederholende Bewegung und das passende, sachte Geräusch dazu hatte beinahe etwas Hypnotisches, und gemeinsam mit der Erschöpfung, die sie erfasst hatte, ließ sie das schließlich einschlafen.

    Seiana lächelte leicht, oberflächlich, auch wenn die Bemerkung des Quintiliers eine eher unangenehme Erinnerung in ihr wachrief. Caius und seine unsägliche Aktion, als sie darauf bestanden hatte, ihn für die Taberna medica doch noch zu bezahlen... Sie war nach wie vor davon überzeugt, dass es keine positiven Auswirkungen gehabt hatte, dass es vielleicht sogar diese Aktion gewesen war, die ihrem Onkel den Wahlsieg gekostet hatte – auch wenn sie sich bemühte sich einzureden, dass dies nicht das Ausschlaggebende gewesen sein konnte, lag der Schluss für Seiana doch zu nahe, um ihn ignorieren zu können. „Ich gebe nicht allzu viel auf Gerede, Quintilius. Mag sein, dass ich deshalb nicht weiß, was auf den Straßen gesprochen wird über mich.“ Zumindest was Positives anging. Das Negative hörte sie durchaus, war ihre Wahrnehmung doch über Jahre hinweg genau darauf geschult worden.


    Auf ihre Frage hin reagierte der Duumvir mit einer recht simplen Antwort. Seiana konnte ihm das nicht einmal verübeln, auch wenn es nun an ihr war, das Gespräch weiterhin am Laufen zu halten – aber nun, das war etwas, was selbst ein freier Mitarbeiter der Acta zu können hatte. „Verzeih mir“, lächelte sie, „ich möchte dich nicht auf die Folter spannen, und dir auch nicht allzu viel deiner Zeit rauben. Ich bin derzeit noch dabei, mich in meinen Posten einzuarbeiten – dazu gehört für mich auch, manchen Personen einen Besuch abzustatten. Über Ostia ist schon lange nicht mehr berichtet worden, dafür, dass es Roms Tor zur Welt ist... und ich bin mir sicher, es gibt verschiedenes, was interessant wäre für die Leser der Acta.“ Seiana machte eine kurze Pause. „Die Lex Municipalis könnte eines davon sein. Wie ist es dazu gekommen? Warum hat es keiner deiner Vorgänger für nötig erachtet?“ Im Grunde bot sie ihm damit die Chance, sich zu profilieren. Was später in einem möglichen Artikel stehen würde, stand auf einem anderen Blatt, aber hier und jetzt war das eine Möglichkeit für den Quintilier, sich ins rechte Licht zu rücken. Was wiederum, sofern er das begriff und nutzte, für Seiana bedeutete, dass er aufgeschlossener wurde – und ihr mehr erzählte, auch von anderen Dingen, sofern es etwas Interessantes gab, das er wusste. Das wiederum grenzte an Glücksspiel, denn Seiana hatte keine Ahnung, ob der Mann vor ihr überhaupt etwas wusste, was sich wirklich lohnen würde, außer für einen allgemeinen Artikel über Ostia. Aber nur so kam man an Geschichten – und dort wo es keine gab, was nur allzu häufig vorkam, hatte sie immerhin Kontakte geknüpft. Und das war von unschätzbarem Wert.

    Etwas geschah. Gerade eben noch hatte Seiana geglaubt, in seinen Augen ungezügeltes Verlangen zu sehen, als er nach ihrem ja verlangt hatte – aber als sie das Wort dann ausgesprochen hatte, steigerte es sich um einen Grad, den sie nicht für möglich gehalten hätte. Genauso wenig für möglich gehalten hätte sie die Wildheit, mit der der Duccier sich ihrer nun annahm. Sie hatte ihm nichts – nichts – entgegenzusetzen. Sie wollte es gar nicht, aber selbst wenn sie es gewollt hätte: sie kam überhaupt nicht mehr dazu, über das nachzudenken, was passierte. Vala eroberte ihren Körper rasant, schonungslos, ließ ihr kein Geheimnis. Ließ ihr auch keinen weiteren Augenblick mehr, zu zögern – oder gar so etwas wie Scham zu empfinden. Und ließ ihr ebenso wenig die Gelegenheit, das Tempo zu verlangsamen. Sie fühlte sich seltsam wehrlos unter seinen Händen, seinen Berührungen ausgeliefert, die ihren Körper ein ums andere Mal erschauern ließen, aber es fühlte sich gut an, es fühlte sich richtig an.


    Sie selbst blieb dabei durchaus nicht untätig – ihre Hände tasteten auch über seinen Körper, fingerten an seiner Kleidung, suchten einen Weg darunter, und strichen später, als sie auf dem Boden waren und die Bekleidung irgendwo neben ihnen, über nackte Haut. Dennoch standen ihre Berührungen den seinen bei weitem nach, sowohl was Heftigkeit anging als auch Erfahrung, Sicherheit, Wissen. Sie entdeckte seinen Körper nicht einmal ansatzweise so eingehend wie er den ihren, und immer wieder klammerte sie sich mehr an ihn als ihn aus eigenem Antrieb zu berühren, weil sie das Gefühl hatte Halt zu brauchen, Halt, um nicht zu zerfließen, zergehen bei dem, was er mit ihr anstellte. Und sie genoss es. Später würde ihr durch den Kopf gehen, dass er Recht gehabt hatte, dass dies hier tatsächlich schaffte, sie – wie hatte er es genannt? – den Dingen der Welt zu entrücken. Für den Moment war sie entrückt, so sehr, dass kaum ein klarer Gedanke sich in ihrem Kopf formulieren konnte, keiner außer denen, die artikulierten dass sie mehr wollte. Und eben das war es, was ihr Körper zeigte: er bebte unter Valas Händen, beschleunigte Atmung und Herzschlag in rasantem Rhythmus, bog sich ihm entgegen und ließ sich in diesem Tanz führen, dirigieren, stetig dorthin, wo er sie haben wollte. So sehr Seiana Kontrolle auch liebte und für sich beanspruchte, in diesen Momenten bemerkte sie nicht einmal wirklich, dass sie sie völlig abgegeben hatte, so... mitgerissen war sie von dem, was geschah. Sie hätte aber ohnehin nicht gewusst, wie sie daran etwas hätte ändern können, wie sie die Kontrolle hätte zurückerobern können. Sie hätte es nicht gewusst, und selbst wenn, jeglicher Versuch wäre wohl ohnehin erfolglos geblieben.


    Und dann änderte sich wieder etwas. Seiana spürte, wie Vala sie auf den Boden drückte, spürte, wie er ihre Beine öffnete, sich dazwischen drängte. Ihre Gedanken waren umnebelt von Lust, dennoch war ihr bewusst, was er wollte. Allein sein Blick machte es deutlich, und der Ausdruck darin war genug, um sie ein weiteres Mal erzittern zu lassen, vor Lust, aber dieses Mal auch ein wenig vor Ungewissheit. Dennoch bog sich ihm ihr Körper ein weiteres Mal entgegen, wollte auch das, hielt es nach allem, was bisher geschehen war, für das Natürlichste der Welt, für unabdingbar und unaufhaltbar in diesem Augenblick. Als er sie dann aber nahm, bekam das Beben ihres Körpers eine andere Note. Schmerz mischte sich in die Lust, die sie empfand, und sie keuchte auf, suchte nach Halt mit ihren Händen und krallte sich irgendwo fest. Ungeachtet dessen jedoch bewegte sich ihr Körper weiter, unbeholfen, fast schon hilflos in seiner Unerfahrenheit, suchte einen Rhythmus, der ihr half, der ihr mehr Lust verschaffte als Schmerz – und war doch zu unbeholfen dabei, um ohne seine Hilfe erfolgreich zu sein.

    Sie war sein. Es hatte mehrere Momente gegeben, in denen Seianas Kopf die Kontrolle noch einmal hätte an sich reißen können – sie waren verstrichen, ohne dass etwas geschehen war, aber es hatte sie gegeben. Und der letzte von ihnen war in dem Augenblick gekommen und wieder gegangen, als der Duccier – Vala – begonnen hatte sie zu küssen. Ein Protestschrei hatte sich geformt in ihr, aber er war weitestgehend ungehört verhallt. Und in dem Moment, in dem Seiana aktiv anfing, seinen Kuss zu erwidern, war sie sein. Mochte der pflichtbewusste, kontrollsüchtige Teil in ihr auch noch hin und wieder auf sich aufmerksam machen, eine wirkliche Chance, Seiana dem Duccier nun noch zu entziehen, hatte er nicht mehr.


    Und sie genoss den Kuss. Sie genoss es, von ihm gehalten zu werden, und sie genoss es ebenfalls, als er wieder begann, sie zu berühren, fester diesmal. Sie fühlte sich... gewollt, begehrt, und das tat gut. Wie gut dieses Gefühl tun konnte, begriff sie in diesem Augenblick vielleicht zum ersten Mal – ließ sie es in diesem Augenblick doch zum ersten Mal wirklich zu. Sie seufzte an seinen Lippen, die Augen schon lang wieder geschlossen, erschauerte unter seinen Händen, während das Verlangen in ihr mit jeder seiner Berührungen stärker wurde – und langsam, schrittweise, begann sie sich danach zu sehnen, dass er weiter ging. Er berührte sie, streichelte, drückte, griff und rieb, aber gewisse Bereiche ihres Körpers mied er, mied sie so konsequent, dass ihr klar wurde, dass es Absicht war. Und obwohl sie sich – noch – auf den Kuss konzentrierte und mit dem zufrieden war, was sie bekam, war ihr zugleich auch bewusst, dass sie das vor ein Dilemma stellte. Sie hatte keine Ahnung, wie sie ihn dazu bringen sollte, weiter zu machen. Sie hatte keine Erfahrung. Und sie konnte, wollte, durfte sich nicht einmal allzu viele bewusste Gedanken darüber machen, denn sonst hätte womöglich doch noch ihr Kopf die Zügel wieder an sich gerissen. Seiana war auf Vala angewiesen – in mehr als nur einer Hinsicht. Sie war auf ihn angewiesen, seit sie sich ihm freiwillig ausgeliefert hatte, als sie seiner Aufforderung gefolgt war, sie war es aber auch, weil sie selbst keine Erfahrung hatte, wie es von diesem Punkt an weiterging.


    Was allerdings dann kam, hätte sie nicht erwartet. Sie hatte gewisse Vorstellungen, das sicher, auch wenn sie nur vage waren, weil sie sich häufig nicht einmal das erlaubt hatte, aber diese hatten sicher nicht beinhaltet, dass er plötzlich innehielt, mit allem, mit den Berührungen genauso wie mit dem Spiel ihrer Münder. Für einen Moment verwirrt, fast verunsichert, sah sie ihn an, bemerkte dann, dass er nur innegehalten – aber sich nicht zurückgezogen hatte, was sie fast noch mehr verwirrte. So dicht wie er bei ihr war, konnte sie seinem Blick nicht ausweichen, selbst wenn sie gewollt hätte, und so blieb ihr nichts übrig, als ihn anzusehen. Das Verlangen wahrzunehmen, das sich darin zeigte, so wild und ungezügelt, wie sie es noch nie gesehen hatte. Sie spürte das Echo darauf in sich, das sich auch im Ausdruck ihrer Augen spiegelte. Dennoch... zögerte sie, zu antworten auf seine Aufforderung. Das hier war kein Moment für einen Rückzug, es war kein Moment, in dem der strikte Teil in ihr noch eine Chance gehabt hätte, denn sie war sein – aber ihr selbst war das nicht klar. Für sie, ihr bewusstes Denken, war dies hier, seine Aufforderung, der Moment. Und deswegen zögerte sie, brauchte sie Zeit – nur um zu merken, dass sie gar keine Wahl hatte, weil sie das hier wollte. Und um zu begreifen, dass er ihr nun die Möglichkeit bot, dem zuvor erwähnten Dilemma zu entgehen. Es spielte keine Rolle, wie viel Erfahrung sie hatte, wenn sie einfach nur ja sagen musste. Wieder änderte sich in ihren Augen etwas, schwand die Verwirrung, die Unsicherheit und machte purem Verlangen Platz.


    „Ja.“

    Dunkelheit senkte sich über sie, selbst gewählt, und des Sehsinns nun beraubt, konzentrierte Seiana sich vermehrt auf ihre übrigen Sinne. Sie hörte, wie der Duccius aufstand, wie er sich bewegte, aber obwohl das Geräusch und das Wissen darum, was es hieß, das Kribbeln in ihr für einen Moment in die unangenehme Richtung verstärkten, widerstand sie der Versuchung, die Augen sofort wieder zu öffnen. Denn auch das hatte seinen Reiz – die Unsicherheit, die sie nun spürte, das Gefühl des Ausgeliefertseins, auch wenn es nur andeutungsweise war, und auch wenn sie das hier jederzeit beenden konnte. Mehr noch, gerade weil es so war, gerade weil sie jederzeit die Augen hätte öffnen können, konnte sie den Reiz, den dieser Moment ausmachte, tatsächlich wahrnehmen – und beginnen ihn zu genießen. Blind wie sie nun war, zugleich aber für den Moment erlöst aus dem Bann, in dem er sie gerade eben noch gehabt hatte durch seinen Blick, ließ sie ihre Hand langsam, vorsichtig, sinken, tastete nach dem Tisch, um den Becher abzustellen, und lauschte gleichzeitig auf ihn, lauschte auf leichte Schritte, die sich ihren Weg suchten auf dem Boden, lauschte auf das Rauschen von Kleidung, wenn Stoff in Bewegung geriet, im Lufthauch wehte, aneinander rieb – lauschte auf jedes Geräusch, das ihr hätte verraten können, wo er war, was er vorhatte.


    Dass er sich ihr genähert hatte, war weder schwer festzustellen noch kam es überraschend. Dennoch konnte Seiana ein leichtes Zucken nicht unterdrücken, als plötzlich seine Stimme neben ihr erklang. Erneut sog sie die Luft ein, mit leicht geöffnetem Mund, und für einen Moment schienen ihre Lider zu flattern, ohne sich jedoch tatsächlich zu öffnen. Erneut schwebte ihr Name durch den Raum, und die Anspannung, die Seiana im Griff hatte, nahm wieder zu, machte sie glauben ihr ganzer Körper vibriere, und sie konnte dem nicht entfliehen. Etwas in ihr weigerte sich, einen Rückzieher zu machen, obwohl es genau das war, was ein anderer Teil von ihr nun vehement forderte. Das hier ging nicht. Es schickte sich nicht. Es gehörte sich nicht. Ganz gleich, was der Duccier vorhatte – Seiana schaffte es immer noch, schlicht zu verdrängen, worauf das hier hinauslief, schaffte es, einfach nicht daran zu denken, was wohl in dem Moment kommen würde, der sich an diesen anschloss, in dem sie sich gerade befand –, das hier ging einen Schritt zu weit. Sie entsprach nicht dem Idealbild einer Römerin, keine wusste das besser als sie, aber sie bemühte sich wenigstens, und das hier... die Augen geschlossen, auf einer Kline liegend, ein Mann bei ihr, den sie kaum kannte, und nicht nur einfach bei ihr, nein, er kam ihr immer näher und näher, sie spürte seinen Atem auf ihrer Haut, spürte die Gänsehaut, die der Hauch auslöste, die sich von ihrem Hals aus über Schultern und Arme zog... Und der Teil, der befand dass sie dem Einhalt gebieten müsse, wurde... nun, nicht leiser, aber... schien an Einfluss zu verlieren, an Gewicht. An Macht. Seianas Augen blieben geschlossen, ihr Körper rührte sich nicht, obwohl er inzwischen angespannt war wie selten. Weitere Worte erreichten ihr Ohr, leiser nun, und selbst wenn da nicht sein Atem gewesen wäre, der sacht über ihre Haut strich, merkte sie allein an der Tatsache, dass sie ihn dennoch so gut verstehen konnte, wie nah er ihr nun sein musste. Und er beharrte weiter auf dem, was er zuvor bereits verlangt hatte, darauf, wovon er gesprochen hatte: dass sie den Druck hinter sich lassen sollte. Sie erzitterte, als sie seine Berührung auf ihrer Stirn spürte, und wieder echote irgendwo in ihr Protest, gegen ihn, aber vor allem gegen sie selbst, weil sie es nach wie vor zuließ. Aber sie wollte gar nicht darauf hören. Gefangen – von seiner Stimme und seiner Berührung ebenso wie von ihren eigenen Bedürfnissen, die sie sonst verdrängte – verharrte sie schweigend, und was er sagte, lieferte ihr die perfekte Argumentation, um diesen einen Teil immer weiter ins Abseits zu drängen, so wie üblicherweise dieser andere Part verdrängt wurde von ihr, der nun, mit der Unterstützung des Ducciers, die Kontrolle zu übernehmen begann.


    Sacht wie eine Feder strichen Finger über ihre Haut, tanzten Berührungen über ihren Körper, von ihrem Gesicht über ihren Hals, ihre Brust, bis zu ihrem Bauch – immer so zart, dass sie es mehr ahnte als tatsächlich spürte, und dennoch breiteten sich Schauer auf ihrer Haut aus, wo sich die Spur seiner Finger entlangzog. Sei anders. Sie wollte anders sein. Einfach nur anders. Sie konnte nicht dem Ideal einer Römerin entsprechen, aber sie konnte ihm auch nicht entfliehen – eines von beiden wollte sie jedoch, irgendeines, solange es ihr nur Zufriedenheit verschaffte, solange es nur bewirkte, dass sie sich nicht mehr das Gefühl hatte, nicht genug zu sein, nie genug sein zu können. Der Duccier traf mit seinen Worten und seinen gezielten Berührungen einen Nerv. Ihr Verstand, der eine solche Kontrolle über sie ausübte, ihr Bauch, der ein Symbol für die erste und wichtigste Pflicht war, die eine Römerin hatte – und der sie nicht nachkam. Löse dich. Sie erschauerte, deutlicher diesmal, als sie einen kräftigeren Luftzug an ihrem Hals spürte, erschauerte ein weiteres Mal, als seine Hand nun wieder hinauf wanderte und über ihre Brüste strich – erneut so sacht, dass sie es mehr erahnte, und tat es seine Wirkung. Und ein drittes Mal erschauerte sie, als seine Finger wieder die entgegengesetzte Richtung einschlugen, diesmal nicht bei ihrem Bauch verharrten, sondern weiter strichen, so sacht wie stets, wenn überhaupt noch sachter – und dennoch genug. Genug, um ihren Atem auf einen Schlag zu beschleunigen, genug, um ihren Herzschlag für eine Winzigkeit aussetzen zu lassen, nur um ihn dann heftig weiter klopfen zu lassen. Genug, um ihr zum ersten Mal seit seiner Aufforderung, die Augen zu schließen, einen Laut zu entlocken, ein schwaches Seufzen, das leise, aber hörbar über ihre Lippen kam. Sie hörte erneut seine Stimme, hörte wieder ihren Namen, hörte... geliebt... etwas in ihr wehrte sich gegen dieses Wort, diesen Begriff, glaubte sie doch nicht daran, glaubte auch nicht daran, dass es hier irgendetwas zu bedeuten, etwas zu suchen hatte, aber noch bevor dieses Etwas auch nur hätte versuchen können sich in ihr Gehör genug zu verschaffen, um zu reagieren, wurde sie von ihm zu sich gezogen. Und nur den Bruchteil eines Moments später verschmolzen seine Lippen mit den ihren. Auf einen Schlag öffneten sich ihre Augen nun, weiteten sich überrascht, und ihre Hände hoben sich, legten sich auf seine Oberarme, knapp unterhalb der Schultern – schoben ihn aber nicht weg. Die Geste blieb schwach, symbolisch, und noch während ihre Hände dort lagen, begannen ihr Mund schon, den Kuss zu erwidern. Der Intensität, die er hinein legte, hatte sie nichts entgegenzusetzen, mehr noch, sie wollte es gar nicht. Sie spürte immer noch den Nachhall seiner Finger auf ihrem Körper, spürte noch die Schauer, die er ausgelöst hatte, und obwohl dies ein weiterer dieser Momente war, in denen ihr Kopf versuchte, einzugreifen und zu verhindern, was er noch verhindern konnte, war ihr Körper nun, für diesen Moment, endgültig stärker, und forderte von ihr nun vehementer, als der Duccier es gekonnt hätte, endlich loszulassen.

    Seiana neigte leicht den Kopf, und für einen Augenblick wurde ihr Lächeln ein wenig breiter, als die erwartete Antwort kam. Dass er sie nun, wo sie schon in seinem Officium stand, hinauskomplimentieren würde, damit hätte sie ebenso wenig gerechnet wie damit, dass ihr Kommen überhaupt größere Unannehmlichkeiten hätte bereiten können. „Gerne, ja“, antwortete sie auf seine Frage nach einer Erfrischung und setzte sich auf den angebotenen Platz, während sie dabei zusah, wie er nach zwei Bechern griff. Die Karaffe, die bereits auf dem Tisch stand, verschmähte der Duumvir jedoch aus irgendeinem Grund, stattdessen nahm er die Karaffen entgegen, die der Sklave einen Augenblick später hereinbrachte. Seiana begnügte sich mit einem stark verdünnten Wein, an dem sie kurz nippte, bevor sie sich zurücklehnte. Gerade wollte sie beginnen zu erklären, warum sie hier war, als der Quintilius ihr mit einer Frage zuvor kam – auf eine Art formuliert jedoch, auf die hin sie zunächst ein wenig die Augenbrauen hochzog. „Gerüchte? Tatsächlich?“ Ihre Stimme klang freundlich, aber nichtsdestotrotz... nichtssagend. Weder ihrem Tonfall noch ihrer Miene war zu entnehmen, ob sie sich geschmeichelt fühlte von seinen Worten. In der Tat ordnete sie den Kommentar in die Kategorie Begrüßungskompliment ein – und das, immerhin hatte sie begonnen zu merken. Seit sie Auctrix war, gab es Leute, die höflicher, zuvorkommender waren. Das war etwas, bei dem sie nicht umhin kam, es zu merken. Und sie tat sich etwas schwer damit, sich daran zu gewöhnen, weil das... einfach nicht sie war. Und dennoch bekam sie zunehmend, mit jedem weiteren Kompliment, jedem weiteren Kommentar, der nur dazu gedacht schien ihr zu schmeicheln, das Gefühl, als... wäre das durchaus nutzbar. Als ließe sich daraus etwas machen, dass manche Menschen sie so behandelten. Dieser Gedanke war bei weitem noch nicht gediehen, aber er war da. Sie nippte an ihrem Becher und lächelte erneut. „Nun, ich habe gehört, dass du Ostia zu einer Lex Municipalis verholfen hast.“

    Für gewöhnlich hatte Seiana es sich zur Regel gemacht, Termine zu vereinbaren. Andererseits war nicht unbedingt eine große Sache, weswegen sie den Duumvir von Ostia besuchen wollte, und sie hatte sich den ganzen Tag Zeit genommen, um die Gelegenheit zu nutzen, aus Rom herauszukommen. Dass sie etwas ungünstig kam, dass der Duumvir gar in Hektik ausgebrochen sein mochte, um sie zu empfangen, davon ahnte sie nichts, als sie sein Büro nun schließlich betrat, und das hätte sie auch nicht gedacht. Welche Position sie als Auctrix nun im Grunde inne hatte, oder besser: welche Auswirkungen das haben konnte, war ihr immer noch nicht ganz klar.


    Entsprechend fiel ihr auch nicht auf, was kurz zuvor in dem Büro noch geschehen war. Sie sah lediglich den Duumvir, wie er sich erhob, während der Sklave sie ankündigte, und ihr mit einem knappen Lächeln entgegen kam, um sie zu begrüßen. „Salve, Quintilius.“ Sie erwiderte sein Lächeln, mit der Vagheit, die so typisch für das ihre war. „Verzeih mir, dass ich ohne große Anmeldung komme. Ich hoffe du kannst ein wenig Zeit für mich erübrigen.“

    Ostia war nicht allzu nah an Rom, aber auch nicht wirklich weit weg. Die Reise ließ sich durchaus halbwegs bequem in ein, zwei Stunden hinter sich bringen. Dennoch war Seiana froh, als sie endlich angekommen war. Ein wenig wehmütig dachte sie an früher, als sie noch jünger gewesen war, dachte an Ägypten, wo die Gesellschaft anders gewesen war. Sie hatte sich freier gefühlt, in dem wie sie sich gab. Hier, in Rom, in Italia, gab es Regeln. Es gab gewisse Anstandsgrenzen, die sie wahren musste. Es ging nicht an, dass sie völlig zerfleddert irgendwo ankam, sie legte Wert auf ihr äußeres Erscheinungsbild, musste Wert darauf legen, wie sie glaubte. Und das wiederum war etwas, was eine Reise irgendwie deutlich anstrengender werden ließ. Aber immerhin: dafür dauerte es nach ihrer Ankunft in Ostia nicht allzu lange, bis sie zufrieden war mit ihrem Äußeren. Einige Falten hier glattgestrichen, einige Strähnen dort zurechtgelegt von einer Sklavin, insgesamt noch einmal begutachtet, und sie konnte eintauchen in die Stadt.


    Mit einer Sänfte ließ sie sich durch die Straßen tragen, bis sie schließlich bei der Curia Ostiae angelangt war, wo sie einem Angestellten von Demetrios mitteilen ließ, dass sie zum Duumvir wollte. Wenige Momente später tauchte jemand bei ihr auf, der sie zum Büro desselben brachte, wo geklopft wurde, um – nach der Aufforderung – anzukündigen, dass Besuch da war.

    Seiana zog angedeutet eine Augenbraue hoch, als sie die poetische Antwort von Xanthias hörte. Sie war sich nicht ganz sicher, ob er das nun tatsächlich ernst meinte – und nur etwas übertrieben formulierte – oder ob er sich nicht doch lustig machte, weil er Sklave war. Sie musterte ihn einen Augenblick schweigend, dafür aber umso intensiver, während ihr Gesicht unbewegt blieb. So oder so lieferte er damit den nächsten Beweis dafür, wie gebildet er war. Den Auftrag, den sie hatte, würde ihn ganz sicher unterfordern. Aber es ging auch nicht darum, ihn zu fordern, es ging darum, ihn und Aristea zu testen. Herauszufinden, wie sehr sie ihnen vertrauen konnte. Es wäre eine Verschwendung, könnte sie Xanthias nicht seinen Fähigkeiten gemäß einsetzen, weil sie ihm nicht vertraute, aber weit schlimmer wäre es, wenn sie ihm zu schnell traute – und er es dann ausnutzte.


    „Das freut mich“, antwortete sie dann nur knapp, ohne ihre Gedanken zu formulieren, als gleich darauf Aristea eintrat. Seiana begann also zu erklären, welchen Auftrag sie hatte, und nachdem Xanthias keine Fragen hatte und Aristea sich recht schweigsam gab, auch nicht den Anschein machte, als hätte sie irgendeine Frage, nickte Seiana. „In Ordnung. Dann erledigt das jetzt, und danach möchte ich, dass ihr zu mir kommt und mir Bericht erstattet.“

    Zitat

    Original von Octavia Varena und Decimus Verus


    Seiana setzte sich ebenfalls, nachdem sie die beiden zu den Sitzgelegenheiten begleitet hatte. „In Rom sind wir Decimer derzeit recht spärlich vertreten“, ergänzte sie noch in Richtung von Verus. „Die Pflicht hat unsere Verwandten in alle Himmelsrichtungen verstreut, wie es scheint…“ Mit einem so höflichen Lächeln wie die ganze Zeit schon wandte sie sich erneut der Octavia zu, als Verus auf sie verwies für die Geschichte des Kennenlernens. „Dann ist es wohl der Wille der Götter selbst, dass ihr euch gefunden habt.“ Sie verkniff sich die Frage, ob Varenas Familie bereits Bescheid wusste, ob es männliche Verwandte gab, die womöglich Ärger machen könnten, so wie bei ihr… Aber das ging sie nichts an. Sie war sich sicher, dass wenigstens Verus wusste, was zu tun war und vor allem wie, damit diese Verlobung auch auf Wohlwollen stieß bei der Familie seiner Zukünftigen. Was sie allerdings ein wenig zynisch werden ließ in ihren Gedanken, war das Lächeln, mit dem die Octavia Verus ansah. Seiana tat sich schon seit langer Zeit, seit der Krankheit und dem Tod ihrer Mutter, schwer damit getan, irgendjemanden nahe an sich heranzulassen. Dass sie fähig war, so zu empfinden wie Varena es scheinbar tat, hielt sie kaum für möglich. Seit dieser unseligen Sache mit Caius jedoch hatte sie mehr und mehr den Glauben an so etwas wie Liebe verloren. Sie leugnete nicht einmal, dass es das gab, obwohl es in den meisten Fällen wohl nur Verliebtheit oder Schwärmerei war. Aber sie glaubte nicht mehr daran, dass es wirklich Bestand hatte. Dass Liebe ein Konzept war, auf dem eine dauerhafte Ehe gründen konnte.


    Aber auch von diesen Gedanken ließ sie sich nichts anmerken, sondern spielte weiterhin perfekt die höfliche Verwandte, Gastgeberin gar, da Verus derzeit nicht hier wohnte, die die zukünftige Ehefrau eines Verwandten kennen lernte. Ein Sklave betrat den Raum und brachte auf einem Tablett Becher und Krüge, mit Wasser, Wein und Fruchtsaft, und bot ihnen Getränke an und mischte, was sie wünschten – in Seianas Fall war es ein verdünnter Fruchtsaft. Mit dem Becher in der Hand, ohne noch an ihm genippt zu haben, sprach sie wieder, hauptsächlich an die Octavia gewandt. „Plant ihr eine Verlobungsfeier? Oder habt ihr schon einen Termin für die Hochzeit ins Auge gefasst?“

    Wollte sie noch etwas sagen? Seiana konnte sich nicht mehr erinnern, als der Duccier sie nun ansah, auf eine Art bei der sie das Gefühl hatte, er hielte ihren Blick mit dem seinen fest. Für Momente war sie wie gebannt, konnte ihre Augen nicht von seinen lösen, meinte sich nicht einmal rühren zu können. Die Hand mit dem Becher war irgendwo auf halbem Weg zwischen ihrem Mund und dem Tisch, wo sie ihn hatte abstellen wollen, erstarrt, und sie erwiderte seinen Blick, schon, weil ihr keine Wahl blieb, zugleich aber auch, weil der Ausdruck in seinen Augen sie faszinierte. Sie hörte, wie seine Worte an ihr vorbei perlten, hörte den Klang, den Inhalt – und fühlte sich immer noch gebannt. Bis er ihr sagte, sie solle die Augen schließen. Zögern mischte sich in die Gebanntheit. Ihre Lippen öffneten sich leicht, als wollte sie etwas sagen, aber kein Wort kam darüber. Sie hätte ihn fragen können, was er meinte, was er zeigen wollte, aber sogar ihr war klar, dass es so nicht funktionieren würde – dass der Moment dann wohl verpuffen würde. So oder so hätte sie aber wohl gerade kein Wort hervorgebracht. Und so sah sie ihn nur an, immer noch, und fragte sich nur im Stillen, was er damit nun bezweckte. Was er vorhatte. Und sie zögerte, zögerte zu tun, was er sagte. Wieder war da die Verwirrung, zugleich aber auch Unschlüssigkeit. Seine Aufforderung, kombiniert mit seinem Blick, übte einen Reiz auf sie aus, dem sie sich nur schwer entziehen konnte – sie wusste nicht einmal, ob sie sich dem entziehen wollte.


    Und dann nickte der Duccier – und nannte sie bei ihrem Namen. Nicht bei ihrem Gensnamen, sondern ihrem Cognomen. Sie sog Luft ein, und irgendwo in ihr begann es zu kribbeln. Seiana wusste nicht, warum er das plötzlich tat, aber es tat seine Wirkung, ihren Namen aus seinem Mund zu hören, wo er doch bisher ebenso strikt wie sie gemieden hatte, ihr in dieser Form näher zu kommen. Und dazu, wieder, diese Aufforderung. Schließ die Augen. Hätte Seiana darüber nachgedacht, sie hätte nicht sagen können, was letztlich den Ausschlag dafür gab, dass sie ihm Folge leistete – sein Blick, mit dem er sie zu halten schien, die Worte, die er aussprach, ihr Name, den er nannte... die ganze Atmosphäre, die er kreiert hatte. Die Tatsache, dass er sie verwirren konnte wie kein zweiter. Vermutlich war es alles zusammen, was den Reiz ausmachte, was dazu führte, dass sie tat was er wollte – gemeinsam mit der Neugier, angefacht von dem Teil in ihr, der wissen wollte, wovon er sprach. Was er meinte. Und ob er Recht hatte... Der Teil von ihr, der sich danach sehnte, endlich, endlich einmal wieder loslassen zu können. Seiana musterte den Duccier noch einmal, und etwas in ihrem Blick änderte sich, eine Winzigkeit, verlor an Zögern und gewann stattdessen an Spannung, bevor sich ihre Lider langsam senkten.

    Passt hier vielleicht am besten hin: mir ist aufgefallen, dass in der Provincia Alexandria et Aegyptus im Beschreibungstext ("Die Provinz Alexandria et Aegyptus teilt sich in die zwei großen Regionen...") die Links zum Wiki nicht (mehr) funktionieren :)


    Edit: in den Unterforen auch nicht - zum Serapis-Kult beispielsweise, oder der Link zum Wiki rechts.

    „Da magst du recht haben“, stimmte sie ihm leichthin zu, bewusst offen lassend, ob sie ihm tatsächlich zustimmte. Sie beschäftigte sich ein wenig mit dem Essen, während sie dem Duccier zuhörte, trank einen Schluck von dem verdünnten Wein im Anschluss. „Ja, ich habe seine Artikel auch gelesen“, meinte sie. „Sicher kann man manche seiner Beiträge als kontrovers bezeichnen. Aber genau das ist eine der wichtigsten Aufgaben des Auctors: seine Schreiber zu schützen. Wenn es Beschwerden gibt, wenn Konsequenzen drohen, ist es für meine Begriffe der Auctor, der zur Rechenschaft gezogen wird – und der dafür auch einzustehen hat. Ich werde mich nicht hinter meinen Mitarbeitern verstecken.“ Ihre Stimme war ruhig, dabei aber so bestimmt, dass klar wurde, dass es ihr ernst war mit dem was sie sagte. „Sollte so ein Fall in meiner Amtszeit eintreten, werden wir sehen, ob tatsächlich die Acta so viel Macht besitzt, oder ob es nicht eher die Position meines Vorgängers als Senator und Pontifex war, die ihn geschützt hat.“ Es würde wesentlich leichter sein, im Fall des Falles gegen sie vorzugehen als gegen ihren Patron, das war Seiana wohl bewusst. Wie viel Macht und Einfluss die Acta hatte, lag in nicht geringem Maße an dem jeweiligen Auctor, fand sie – und obwohl sie aus einer zumindest bislang einflussreichen Familie stammte, sie hatte keine andere öffentliche Position inne, und sie war eine Frau.


    Beim darauf folgenden Thema gelang es Seiana durchaus, ihre Kontrolle wieder zu erlangen – nicht zuletzt durch des Ducciers Hilfe, ritt er doch nicht darauf herum, was in ihrem Leben so offensichtlich schief lief, sondern ging tatsächlich auf ihre Frage ein. Was hatte er zuvor noch gesagt? Ich will, dass du diesen Druck hinter dir lässt. Seiana hatte nicht einmal eine Ahnung, ob sie das überhaupt konnte, aber sie begann festzustellen – und die Atmosphäre, die der Duccier kreiert hatte an diesem Abend, trug dazu einen wesentlichen Teil bei, auch wenn sie sich selbst darüber nicht wirklich bewusst war –, dass sie durchaus gewillt war, es wenigstens zu versuchen. Dass er ehrlich schien, dass er zugab, sein Weg sei kein leichter gewesen war, trug ebenso dazu bei. Sie war weit davon entfernt, so etwas wie... Vertrauen zu fassen. Sie kannte ihn kaum. Aber: sie fühlte sich wohl, in seiner Gegenwart, in dieser Atmosphäre, an diesem Abend. Selbst nachdem er ausgesprochen hatte, was ihr manchmal so schwer auf dem Gemüt lastete, fühlte sie sich dennoch wohl, weil er nicht weiter gesprochen hatte, weil er nicht sie als Schuldige sah, so wie sie selbst, weil er ihr eine Form von Aufmerksamkeit schenkte, die sie selten erfuhr... Und das alles war etwas, was sie selten erlebte. Sicher lag es zu einem Großteil daran, dass sie selten mit jemanden in einer Form Zeit verbrachte, dass ihr diese Art von Aufmerksamkeit überhaupt hätte zuteil werden können. Und ein Teil von ihr wusste das auch. Aber das änderte nichts an der Situation, in der sie sich jetzt befand, und nichts daran, dass es ihr gut tat, so behandelt zu werden – dass es ihr schmeichelte, dass sie es genoss, dass es ihr Ego und ihren Stolz streichelte. „Weichheit bringt einen um. Damit hast du sicher recht.“ Seiana dachte an die Krankheit ihrer Mutter, wie für sie gesorgt hatte über so lange Zeit, ohne Verwandte als Unterstützung an ihrer Seite zu haben, bis sie schließlich gestorben war. An die Nachrichten vom Tod ihrer Brüder. An Caius und die Abwärtsspirale, in die sie getrieben worden war, bereits lange vor der Entlobung. Ja, sie konnte dem Duccier nur zustimmen. Weichheit war mehr als nur schädlich in solchen Situationen. Vielleicht sollte sie dankbar sein für das, was die Götter ihr in den Weg geworfen hatten.


    „Das gewisse Risiko...“ wiederholte sie. „Ja, ich erinnere mich.“ Genauso wie sie sich an ihre Verwirrung erinnerte und daran, wie sie – vergeblich – versucht hatte herauszufinden, ob seine Worte nun rein theoretischer Natur waren oder nicht. Sie nippte an ihrem Becher, diesmal jedoch nur, um ihre Antwort hinauszögern zu können. Trotz der Verwirrung hatte ihr das Gespräch im Park gefallen – deswegen war sie ja letztlich hier. Weil es eine Herausforderung gewesen war, weil sie es irgendwo genossen hatte, sich... nun ja... in gewisser Hinsicht verbal mit ihm zu messen. Trotz oder gerade weil sie das Gefühl gehabt hatte, sich auf unsicherem Terrain zu bewegen – und genau dieses Gefühl stellte sich nun wieder ein. Sie sah ihn an, sah sein Lächeln, und fragte sich für einen Moment, ob sie wissen wollte, was er unter einem Sprung ab der Norm verstand. Unter einem Griff nach den Sternen. Und entschied sich für den Moment dagegen, diese Frage zu stellen. „Der Gedanke ein Risiko einzugehen, um dem Druck zu entfliehen, ist mir bisher... selten...“ Seiana stockte, was bei ihr nicht oft vorkam. Selten vielleicht, aber wenn, dann hatte es bei ihr Ausmaße angenommen, von denen andere wohl nur träumten – bei allen Göttern, sie war nach Ägypten gereist, einfach so, zu einem Mann, den sie damals kaum kannte, um etwas herauszufinden! „...wirklich schlüssig erschienen.“ Sie überlegte einen Moment, nippte erneut an dem Becher, während ihr auffiel, dass sie das hier beim besten Willen nicht mehr als theoretisches Geplänkel abtun konnte. Und dennoch verhinderte etwas in ihr für den Moment noch sehr effektiv sich einzugestehen, um was es hier wohl gehen mochte. Immerhin: sie war doch keine Frau, die sich verführen ließ. Und mehr noch: sie war keine Frau, die verführt wurde. Sie bezweifelte nicht einmal, dass Männer Interesse dieser Art an ihr entwickeln mochten – immerhin war Caius der beste Beweis dafür gewesen –, aber es passte einfach nicht in ihr Selbstbild, dass ein Mann sich die Mühe machen sollte, sie zu verführen – und wieder war Caius ein Beweis dafür, denn er hatte es nie ernsthaft versucht. Er hatte immer nur gefragt, mehr oder weniger direkt, aber nie versucht, sie auf eine Art zu verführen, bei der es ihr tatsächlich schwer gefallen wäre nein zu sagen, sobald sie begriffen hätte, worauf er hinaus wollte. „Aber so wie du es darstellst, klingt es verlockend, muss ich gestehen. Als ob es einen Versuch wert wäre.“