Beiträge von Decima Seiana

    Seiana bemerkte ihr Zögern selbst, und sie ärgerte sich darüber. Sie wollte keine Schwäche zeigen, nicht gegenüber der Iunia, nicht einmal ansatzweise. Schon dass sie gezögert hatte, verriet zu viel, fand sie, verriet, dass sie noch Wert darauf legen mochte zu erfahren, was nun genau mit Caius passiert war, verriet, dass es da etwas gab, worüber sie sich Gedanken machte. Und mitten in diesen Ärger hinein über ihr eigenes Zögern, sprach Axilla von der Beerdigung. Für einen winzigen Moment knisterte es gefährlich in ihr, Risse taten sich auf in der eisigen Oberfläche, mit der sie die zerklüftete Landschaft darunter bedeckte, all das, was unzulänglich schien in ihren Augen, was nicht passte, nicht in der Welt, in der sie lebte. Und darunter war dieser lodernde Kern, der durch eben solche Risse an die Oberfläche zu gelangen drohte. Sie wollte nichts von der Beerdigung wissen. Sie interessierte sich durchaus dafür, was nun die Umstände von Caius' Tod – von seinem Selbstmord! – gewesen waren, aber sie wollte nichts von einer Beerdigung wissen. Sie wollte sich nicht Gedanken darüber machen müssen, ob sie dort auftauchen sollte, ob es sich schickte, ob es nicht angemessen wäre, täte sie dies. Sie wollte nicht. Aber natürlich tat sie es doch. Sie konnte nicht verhindern, dass das Pflichtbewusstsein in ihr sie dazu drängte, sich wenigstens Gedanken darüber zu machen, damit sie sich sicher sein konnte, dass es nicht negativ auf sie zurückfiel, wenn sie nicht ging. Und allein die Erwähnung der Beerdigung aus Axillas Mund bewirkte, dass Seiana ein schlechtes Gewissen bekam, was ihr ganz und gar nicht gefiel.


    Aber diesmal beherrschte sie sich mustergültig. Nur ihre Kiefermuskeln spannten sich ein wenig an, doch sie nickte nur und erhob sich dann. Nun, da sie ihr Anliegen vorgebracht hatte, gab es für sie keinen Grund noch länger zu bleiben. „Das werden wir“, antwortete sie. „Danke für deine Zeit, Iunia. Ich wünsche dir noch einen schönen Tag.“

    Es war spätabends, als Seiana das Domus der Acta erreichte. Ein Sklave war in ihre Räume gestürzt, hatte ihr atemlos berichtet, was auf den Straßen los war, und gemeinsam mit Diomedes und einem weiteren, der als Custos Corporis fungierte, hatte sie sich auf den Weg gemacht. Es hatte etwas gedauert, bis sie angekommen waren, weil sie dem wütenden Mob so weit wie möglich aus dem Weg gegangen waren, aber schließlich waren sie angekommen, und seitdem war Seiana am Organisieren, schickte ihre Leute aus, versuchte an Informationen zu kommen, bemühte sich die Gerüchte zu erfahren und zu sortieren. In ihrem Büro hatte sie an einer Wand große Wachstafeln anbringen lassen, die bereits größtenteils voll waren mit ihren Notizen, manche ordentlich, manche schnell hingekritzelt, viele wieder ausgebessert. Mehr als nur einer der freien Mitarbeiter und Subauctoren schneite zwischendurch herein, um das neueste Gerücht abzuliefern, das vom Mob auf den Straßen verbreitet wurde. Die beste Information allerdings kam irgendwann mitten in der Nacht, als Seiana das Gefühl hatte, es ging schon wieder auf den Morgen zu. Völlig aufgelöst, erschöpft und ausgezehrt stolperte Curiatius Tertullinus in ihr Büro und berichtete ihr abgehetzt von dem, was er, der eigentlich über die Nemoralia hatte berichten wollen, erlebt hatte. Blass ließ sie sich auf ihren Stuhl sinken, bevor sie den Mann, der eigentlich noch ein halber Junge war, zwang, wieder und wieder zu berichten, in kleinsten Details, um nichts zu übersehen, nichts zu verpassen. Aber wie sie es auch drehte und wendete, wie sehr sie ihn auch unter Druck setzte, die Geschichte, die er zu erzählen hatte, blieb gleich. Er wusste nicht genau, was passiert war, nur dass es einen Toten gegeben hatte, noch bevor die Rinderherde durch den Hain gerast war, und dass die Frau halb nackt gewesen war – das jedenfalls war das, was er bestätigen konnte, alles andere wusste er auch nur vom Hörensagen. Was er allerdings wusste war, wer die Frau war. Seiana presste die Lippen aufeinander und verfluchte zum ersten Mal, dass sie diesen Posten angenommen hatte. Sie konnte dieses Ereignis nicht ignorieren, das wusste sie. Sie konnte nicht. Sie war Auctrix, und die Acta war dazu da, zu veröffentlichen. Informationen weiter zu geben. Gerade bei so einem Ereignis. Aber sie konnte auch nicht alles veröffentlichen. Sie war Auctrix, aber sie war auch Klientin. Obwohl sie die Artikel über ihre eigene Familie niemals zurückgehalten hätte, nicht einmal die Nennung der Namen verhindert hätte, konnte sie das hier nicht.


    Es war schon früher Morgen, als sie endlich, gemeinsam mit den Mitarbeitern, die die Nacht über ebenfalls geblieben waren, fertig war. Und kurze Zeit später, als die Acta schon verteilt wurde, hatte sie ihren Kopf auf den Schreibtisch gelegt und war eingeschlafen.

    Vermutlich war es Axillas Glück, dass ihr das mündliche Abkommen genügte. Hätte sie nun auf etwas Schriftlichem bestanden, wäre das zwar ihr gutes Recht gewesen, hätte Seiana aber durch dieses offen gezeigte Misstrauen endgültig und ein für allemal gekränkt. So aber nickte die Decima nur erneut, halbwegs zufrieden diesmal, und brachte sogar ein Verziehen ihrer Mundwinkel zustande, das mit viel gutem Willen als schmales, wenn auch nicht echtes Lächeln durchgehen mochte. Sie ignorierte die Verwunderung, die der Iunia nun wieder anzumerken war, was ihr diesmal leichter fiel, war die Sache doch nun erledigt. Ihre Frage allerdings rührte etwas an in ihr. Einen Moment zögerte Seiana. Nun, wo das mit der Acta geklärt war, konnte sie nicht mehr verhindern, dass ihr die Frage nach Caius auf den Lippen lag. Warum er sich umgebracht hatte. Was geschehen war. Sie... wollte es wissen. Sie hatte Caius lange genug gekannt, um sich trotz des Bruches zwischen ihnen dafür zu interessieren. Sie wollte wissen, ob etwas schief gelaufen war zwischen den beiden, ob es eben doch nicht das gewesen war, für Caius, für Axilla. Sie wollte nicht zurück, das ganz sicher nicht. Caius hatte sie betrogen, und er hatte sie belogen, und das war für Seiana unverzeihlich – hätte er das Bett mit einer Sklavin oder Lupa geteilt, oder wäre er wenigstens ehrlich gewesen, dass er eine Affäre hatte, weil sie sich ihm vor der Hochzeit verweigert hatte, wäre es vermutlich anders gekommen. In jedem Fall hätte Seiana damit leben können. Aber das hatte er nicht. Es war keine Sklavin oder Lupa gewesen, die nur der Lustbefriedigung diente, und er hatte es ihr nicht gesagt. Er hatte es verschwiegen. Er hatte ihr sogar verschwiegen, dass er sich mit der Iunia überhaupt so gut angefreundet hatte. Hierin lag der eigentliche Betrug, hierin lag das, was Seiana nicht verzeihen konnte, ihm nicht, ihr nicht. Und ja, sie wollte wissen, ob Caius' Freitod letztlich das Resultat dieses Betrugs, dieses Fehlers war, den er begangen hatte. Es hätte ihr Genugtuung verschafft, wäre es so. Und obwohl sein Abschiedsbrief an sie bereits darauf hindeutete, hätte sie es gern auch aus dem Mund der Iunia gehört.


    Aber sie sagte nichts, sprach nichts davon aus. Stattdessen schüttelte sie nur leicht den Kopf, so wie die Iunia zuvor. „Nein, das wäre alles von meiner Seite. Komm in den nächsten Tagen bitte zum Domus der Acta, damit du dort vorgestellt und eingewiesen werden kannst. Auch wenn du nicht häufig dort sein solltest, möchte ich dass du die Abläufe dort kennen lernst.“

    Endlich schien Axilla sich gefasst zu haben, genug, um das Gespräch vernünftig weiter zu führen. Seianas Befürchtung, sie könnte noch einmal darauf zu sprechen kommen, ob sie sich auch sicher war, ob das gut wäre oder was auch immer wurde geringer. Wahrscheinlich, so vermutete sie, hatte die Iunia einfach gemerkt, dass sie damit nicht weit kam, nicht bei ihr. In jedem Fall brachte sie Seiana dadurch nicht dazu, zu versuchen sie zu überreden oder gar tatsächlich zu bitten. Hätte sie weiter gebohrt, hätte sie sie eher dazu gebracht zu verschwinden. Mochte sie bei anderen damit Erfolg haben, bei Seiana hatte sie keinen, und das musste sie wohl gemerkt haben. „In der Regel genügt das mündliche Abkommen. Wenn du es wünschst, können wir jedoch gern eine schriftliche Vereinbarung aufsetzen.“

    Seiana zwang sich zur Geduld, auch wenn es ihr schwer fiel in diesen Augenblicken. Sie hatte das Gefühl, die Iunia machte das mit Absicht, um sie zu reizen. Aber genau deshalb durfte sie noch weniger als ohnehin schon sich von Ungeduld leiten lassen. Sie wartete einfach, scheinbar ungerührt, nur ihre Miene versteinerte doch ein wenig, und antwortete Axilla, als diese endlich ihre Fragen stellte. Was die Iunia wiederum von dem hielt, was Seiana ihr sagte, vermochte sie nicht so recht zu sagen. Sie wirkte nur weiter unsicher. Sie biss auf ihrer Unterlippe, bemerkte die Decima, und sie fragte sich, warum um alles in der Welt sie das tat. Fast erwartete sie, dass Axilla im nächsten Augenblick ihre Beine unter sich zog und sich darauf setzte, so wie es damals getan hatte, als sie aus Ägypten gekommen war und ihren Onkel Livianus hatte sehen wollen. Es gab hier aber nichts, weswegen sie so unsicher sein könnte. Das Angebot hatte keine Haken und keine Hintergedanken. Und sie, Seiana, war mit Sicherheit nicht so furchteinflößend. Zumindest war sie selbst davon überzeugt – aber sie hatte sich auch selbst noch nie erlebt. Wie sie sein konnte, wie sie wirkte, wenn sie ihr kühles Gebahren derart nach außen trug.


    Seiana nickte nur, als Axilla davon sprach zu kündigen, falls ihre Zeit nicht ausreichte, überlegte aber insgeheim, ob das ein Zeichen dafür war, dass sie einer anderen Arbeit den Vorzug geben würde, so sie eine bekam. Sie fragte allerdings nicht nach. Es reichte ihr, dass die Iunia versicherte, Konsequenzen zu ziehen, sollte ihre Zeit nicht reichen. „Die Vergütung bleibt gleich“, bestätigte sie. „Hast du noch weitere Fragen?“

    Seiana, die sonst die Geduld in Person sein konnte, wenn sie wollte, spürte, wie sie ungeduldig wurde. Und das war eine nicht sonderlich angenehme Erfahrung für sie, ebenso wenig wie die, dass die Iunia es ein ums andere Mal zu schaffen schien, ihr wenigstens einen minimalen Teil ihrer Fassung zu rauben. Aber nicht mit ihr. Sie würde sich nicht gehen lassen, das hatte sie sich fest vorgenommen, gleich was geschehen war, gleich wie die Iunia sich verhielt. Diese Unsicherheit, die ihr ins Gesicht geschrieben stand, würde auch nicht dazu beitragen, dass Seiana sie nun erst recht anfauchte, obwohl es genau das war, was sie eigentlich wollte. Es war doch im Grunde so einfach – sie sollte das Angebot annehmen oder ablehnen. Sie konnte sich auch Bedenkzeit ausbitten, wenn sie das wollte. Aber sie sollte nicht hier sitzen und sie ansehen mit diesem unschuldigen, unsicheren Blick, der zu implizieren schien, dass sie irgendetwas von Seiana erwartete. Aber sie konnte nichts erwarten von ihr. Es wäre dreist von ihr, täte sie es, nach allem was passiert war. Es war doch genug, dass Seiana überhaupt hier war und ihr dieses Angebot machte, das war keineswegs selbstverständlich, fand sie, und da erneut brüllte der Teil in ihr auf, der Iunia tatsächlich am liebsten zerfetzen wollte. Nicht weil sie Caius etwa vermisste, das hatte sie hinter sich gelassen, und es war nicht einmal allzu schwer gewesen, weil es schon länger nicht mehr gestimmt hatte zwischen ihnen. Schon vor ihrer Abreise aus Ägypten nicht mehr, wenn sie genau darüber nachdachte. Nein, das war es nicht. Aber die Iunia hatte ihr dennoch etwas weggenommen, was rechtmäßig ihr zugestanden hätte. Sie hatte sich dazwischen gedrängt. Sie hatte sich einen Aelier geschnappt, und sie war noch dazu jünger als sie und anders, wie Caius so schön betont hatte. Ja, es gab einen Teil in ihr, der der Iunia das nach wie vor übel nahm, mehr als übel, und der sie dafür zerfetzen wollte. Aber sie war stärker als dieser Teil, und sie beherrschte sich. Sie. würde. nicht. die. Fassung. verlieren.


    Wieder nippte sie an ihrem Becher und wartete darauf, dass Axilla erneut das Wort ergriff, dass sie antwortete, und die Zeit, die sich die Iunia nahm zu überlegen, half auch ihr, sich wieder völlig unter Kontrolle zu bekommen. Und auch die nächste Frage trug dazu bei, dass Seiana wieder ruhiger wurde, beherrschter. Es war eine Frage zu den Konditionen, eine Frage, die mehr als gerechtfertigt war und die sie erwartet hatte. Nicht das unsichere Bist du dir sicher von zuvor. „Ja, sie wird auch dann möglich sein. Es gibt einige Subauctoren, die noch anderer Arbeit nachgehen. Ich möchte nur darüber informiert werden, damit ich weiß, mit wem ich wie planen kann. Und du solltest dir dennoch deine Zeit gut einteilen und dir überlegen, ob du – so du eine andere Stelle annimmst – genug für beide investieren kannst. Aber darüber können wir reden, wenn es so weit ist.“ Wieder eine Pause, die sie nutzte, um die Iunia zu mustern, bevor sie fortfuhr: „Du kannst im Domus der Acta arbeiten, musst aber nicht. Wenn du Subauctrix wirst, wird in jedem Fall ein Schreibtisch dort für dich bereit gestellt. Manchmal hilft die Atmosphäre dort, aber wo du schreibst, bleibt letztlich dir überlassen, solange von dir einigermaßen regelmäßig Artikel eingereicht werden. Und solltest du feststellen, dass du es vorziehst Zuhause zu schreiben, dann solltest du in regelmäßigen Abständen im Domus der Acta vorbei sehen. Es kann von Nutzen sein, sich mit den anderen Schreibern auszutauschen, und es werden dort auch interessante Themen zusammen getragen, bei denen du vielleicht fündig wirst.“

    „Octavia“, grüßte Seiana die Frau, mit höflicher Freundlichkeit, die wie das Lächeln zuvor mehr echt wirkte. Sie war inzwischen so geübt in ihrer Maske, dass sie nicht einmal mehr darüber nachdenken musste, bevor sie sie aufsetzte – wenn sie nicht gerade aus der Fassung gebracht von irgendwem oder irgendetwas. „Es freut mich, deine Bekanntschaft zu machen.“ Dann wandte sie sich wieder Verus zu, wollte schon dazu ansetzen zu fragen, was ihn hierher geführt hatte – denn der Sklave hatte nur gemeint, dass er die Familienmitglieder sehen wolle, wusste aber nicht zu sagen warum. Verus allerdings kam ihr zuvor, und bei seiner Ankündigung zog Seiana ganz leicht die Augenbrauen hoch, ein Zeichen der Überraschung, bevor ihr Lächeln breiter wurde. „Dann nehmt meine herzlichen Glückwünsche an. Darf ich dich unter diesen Umständen Varena nennen?“ fragte sie die Octavia, bevor sie ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange hauchte. Es schien ihr angebracht zu sein, gerade weil die Octavia recht unsicher wirkte. Verus hingegen umarmte sie leicht, oberflächlich – bevor sie wieder eine gewisse Distanz zwischen sich und die beiden brachte. Sie bedeutete einem Sklaven, etwas zu trinken zu holen. „Setzt euch doch. Verus, ich freue mich für dich – umso bedauernswerter finde ich, dass im Augenblick nicht allzu viele Mitglieder unserer Familie hier sind. Mattiacus ist der einzige außer mir und dir derzeit, und ich weiß nicht, ob er im Moment in der Casa ist.“ Sie lächelte entschuldigend und fragte sich zugleich, wo Verus derzeit eigentlich lebte. Ihres Wissens nach war er schon seit längerem nicht mehr hier gewesen, nicht in der Casa. Aber sie fragte nicht danach. „Wie habt ihr euch kennen gelernt?“

    Seiana nahm die Gratulation mit einem schlichten Nicken entgegen, bevor sie schon weitersprach. Und was sie zu sagen hatte, schien die Iunia vollkommen zu überraschen, wenn Seiana die Zeichen richtig deutete. Nun, in diesem Fall gehörte wohl nicht viel dazu, die Zeichen richtig zu deuten. Die Verwunderung stand Axilla ins Gesicht geschrieben, und auch, als sie dann endlich verbal reagierte, merkte man ihr an, dass sie sich noch nicht gefasst hatte – nicht genug jedenfalls, um etwas Adäquates zu entgegnen. Für einen winzigen Moment schürzte Seiana missbilligend die Lippen, bevor sie sich wieder im Griff hatte. Ein Teil von ihr fühlte sich fast gekränkt, weil die Iunia ihr anscheinend nicht zuzutrauen schien, professionell zu sein. Weil sie ihr nicht zuzutrauen schien, dass sie ihre Arbeit, ihre Aufgabe, ihre Verantwortung als Auctrix über ihre persönlichen Interessen stellte. Glaubte sie denn, es machte ihr Spaß, hier zu sein und Axilla dieses Angebot zu machen? Oder war sie etwa auf noch mehr Lob aus, noch mehr Komplimente über ihre Schreibkunst? Erwartete sie gar, dass Seiana anfing zu bitten? Aber das konnte sie vergessen. „Ich bin mir sicher“, erwiderte sie, und ihr Tonfall wurde um einige Nuancen kühler, wegen ihrer Vermutungen über Axillas Motive und weil sie sich nun gezwungen sah, diese leidige Sache wenigstens andeutungsweise zu erwähnen, was sie lieber vermieden hätte. „Ich weiß, dass wir bei weitem nicht das haben, was man eine ideale Arbeitsbasis nennen könnte. Aber die Acta braucht Schreiber wie dich.“ Und das war mit Sicherheit das letzte Kompliment, dass die Iunia für heute aus ihrem Mund hören würde. Seiana sah überhaupt nicht ein, ihr Honig ums Maul zu schmieren, so weit würde sie dann doch nicht gehen, um eine gute Schreiberin für die Acta zu halten oder gar als Subauctrix zu gewinnen. Nimm an oder lass es bleiben, lag Seiana eigentlich auf der Zunge, und der Tonfall bei diesen Worten wäre deutlich anders aufgefallen als der zwar kühle, aber immer noch zurückhaltende, höfliche, der ihre Stimme färbte in diesem Gespräch. Er wäre pampig gewesen, fauchend. Sie war immerhin hier, das allein bedeutete doch schon, dass sie über ihren Schatten gesprungen war. Die Iunia musste darauf nicht auch noch herumreiten. Aber wie so häufig beherrschte Seiana sich nahezu mustergültig. „Das Angebot ist ernst gemeint. Es liegt an dir, es anzunehmen.“

    Seiana nickte langsam, sagte aber nichts weiter, während sie ihre Miene wieder völlig unter Kontrolle hatte. Der Praefectus Urbi selbst also, und er hatte nicht nur den Besitz beschlagnahmt, er hatte Haftbefehl erlassen. Gegen ein Mitglied der kaiserlichen Familie. Sie fragte sich, warum er das getan hatte – nicht dass es eine Rolle gespielt hätte was die Sache mit Katander betraf, aber in ihrer Funktion als Auctrix war diese Neuigkeit mehr als nur interessant. Vom Praefectus Urbi war so einiges zu hören an Gerüchten in der Stadt, und ihr lag sogar ein Artikel vor, der sich zu einem Gutteil mit dem Vescularier befasste – so sehr befasste, dass sie ihn in der Tat überarbeiten musste. Aber sie wollte ohnehin einen Termin mit ihm, dann konnte sie ihn gleich fragen, was es mit dieser Sache auf sich hatte. Und nebenbei auch, ob es die Möglichkeit gab, den Sklaven aus Caius' Besitz zu erwerben, der ohnehin an sie hatte gehen sollen. Es hatte nichts mit Caius zu tun, dass sie das tun würde. Es ging ihr allein um Elena. Sie hatte es verdient, so einfach war das, und auch wenn Seiana nicht vorhatte, jemals wieder einen Menschen so nah an sich heran zu lassen wie Elena – oder Faustus, der einzige andere, der ihr so viel bedeutete –, für diese beiden würde sie alles tun. Selbst wenn sie sich auch von diesen beiden entfernen mochte.


    Sie nickte erneut leicht, als Axilla ihr dann bestätigte, dass die Artikel von ihr waren. „Nun, ich weiß nicht, ob es an deine Ohren gedrungen ist, aber der Senat hat mich vor kurzem zur Auctrix gewählt.“ Sie machte eine kleine Pause und trank wieder einen Schluck, musterte die Iunia nebenbei, um festzustellen, wie sie diese Neuigkeit nun aufnahm. „Die Artikel sind gut. Das ist mir schon als Lectrix aufgefallen.“ Es widerstrebte ihr, das einzugestehen – nicht dass sie allgemein ein Problem damit hätte, sie hatte nur ganz konkret ein Problem damit, es der Iunia zu sagen. Der Frau, die ihr ihren Verlobten weggenommen hatte. Aber sie hatte sich Professionalität vorgenommen, und die Artikel waren gut. Die Acta konnte es sich nicht leisten, eine solche Schreiberin zu verlieren, nur weil Animositäten zwischen ihr und der Auctrix herrschen mochten. Und sie musste mit der Iunia ja nicht privat verkehren. Es reichte völlig, ein absolut neutrales, beherrschtes Arbeitsverhältnis aufzubauen, und Seiana war zuversichtlich, dass zumindest ihr das gelingen würde – auch wenn sie vorhatte ihr Misstrauen zu pflegen was diese Frau betraf. „Ich bin hier um mich zu versichern, dass du auch weiterhin für die Acta schreiben wirst. Mehr noch“, sie nickte zu den Papyri hin, die Axilla immer noch in den Händen hielt, und ignorierte diesen Teil in ihr, der nun aufbrüllte und sich dagegen wehrte, der Iunia dieses Zugeständnis zu machen – weil sie wusste, dass es das Richtige war. Objektiv gesehen. „Ich wollte dich fragen, ob du es in Erwägung ziehen würdest, als Subauctrix tätig zu werden.“

    Ein wenig herrichten also. Seiana nickte nur, kommentierte diese Antwort aber nicht weiter, und schon bald war ohnehin der Sklave mit dem Getränk da, so dass es auch nicht großartig weiter auffiel. Sie setzte sich, ohne dabei Axilla aus den Augen zu lassen. Wieder war eine kurze, scheinbar nervöse Geste mit den Händen, aber ansonsten hatte sich auch die Iunia gut im Griff. Seiana beobachtete sie dennoch weiterhin. Sie wollte ihre Reaktion sehen, und sie wollte sie einschätzen können. Sie wollte wissen, woran sie mit der Iunia war.


    Und dann sah sie, zum ersten Mal, ein wenig überrascht drein. „Seine Sachen wurden beschlagnahmt?“ Sie hatte eigentlich nicht über Caius reden wollen, ganz sicher nicht, aber das war eine neue Information für sie, hatte sie doch bisher noch keine Gelegenheit gehabt, sich um die Sache mit Katander zu kümmern, die Caius in seinem Abschiedsbrief an sie hatte verlauten lassen. „Davon wusste ich nichts. Aber selbst wenn, wäre das kein Grund für mich hier aufzutauchen.“ Dann musste sie erneut an Katander denken. Sie hatte ihm die Freiheit schenken wollen, aber er gehörte auch zu Caius' Besitz, und wenn der beschlagnahmt war... So sehr sie sich dagegen sträubte, sie war es Elena schuldig, sich für Katander einzusetzen. „Weißt du wer das veranlasst hat und warum?“ Sie würde Katander wohl kaufen müssen, davon ging sie zumindest aus, aber es konnte nicht schaden zu wissen, wie es überhaupt dazu gekommen war. „Aber wie ich bereits sagte: deswegen bin ich nicht hier.“ Nun reichte sie Axilla die Papyri. Gefunden hatte sie sie in ihrem Büro im Domus der Acta, während sie all die Akten und Unterlagen durchgegangen war, die ihr Patron ihr hinterlassen hatte. Und dort war ihr auch wieder bewusst bemerkt, aus wessen Feder diese Artikel stammten. Ihr war es als Lectrix aufgefallen, aber da hatte sie dem nicht allzu viel Beachtung geschenkt – weil es leichter war, es einfach zu ignorieren. Aber jetzt ging das nicht mehr. „Sind diese von dir?“ Seiana wusste es, aber sie wollte es aus dem Mund der Iunia hören, bevor sie weiter sprach.

    „Du dekorierst um?“ Seiana nickte zu dem einen Sklaven, der noch bei den Blumen herum stand. Die Frage kam nicht aus wirklichem Interesse, sondern diente der Überbrückung, bis der andere Sklave wieder hier war und ihr Getränk gebracht hatte. Seiana hatte nicht vor, mit ihrem Anliegen einfach so herauszurücken, während sie hier herumstand. Lange warten musste sie allerdings nicht, denn der Sklave kam schon bald wieder und reichte ihr einen Becher mit Wasser. Sie nippte bedächtig daran und musterte dann wieder die Iunia. „Ich bin nicht nur wegen der Kondolenz hier“, stellte sie dann klar. Eigentlich war sie überhaupt nicht hier, um zu kondolieren – wäre das der einzige Anlass, sie wäre ganz sicher nicht gekommen. Sie wusste nicht, ob der Iunia das klar war, aber sie ging stark davon aus, dass diese das wusste. Dennoch spielte sie nach außen eine Rolle, folgte den Regeln ihrer Maske. Wie üblich. „Ich habe etwas mit dir zu besprechen.“ Seiana holte aus einem ledernen Umschlag einige Papyri hervor, die sie Axilla aber noch nicht reichte. „Könnten wir uns setzen?“

    Seiana bemerkte, wie Axilla ihre Hände knetete, wie sie sie dann hinunter nahm, sah, wie sich auf ihrem Gesicht kurz Unsicherheit breit machte. Ihre Erwiderung dann... Seiana wusste nicht so recht, was sie davon halten sollte. Wollte die Iunia damit Salz in die Wunde reiben? Ihr, Seiana, in Erinnerung rufen, dass sie gewonnen hatte, dass sie es geschafft hatte, ihr Caius auszuspannen? Seiana musste wieder daran denken, dass die Iunia schon immer so gewesen war, seit sie kennen gelernt hatte – sie war süß, sie war lieblich. Sie war freundlich. Sie wirkte naiv. Und nach allem, was passiert war, konnte Seiana ihr das nicht abnehmen. Wenn sie sie so musterte, nun, nachdem einige Zeit vergangen und sie selbst nicht mehr so aufgewühlt war, fiel es ihr zwar doch etwas schwer, der Iunia zuzutrauen, dass sie so dermaßen durchtrieben war und sie ihre Naivität so perfekt spielte, weil sie damit unglaublich viel erreichen konnte. Aber sie konnte eben auch nicht glauben, dass die Iunia völlig ehrlich war in dieser unschuldigen Aufrichtigkeit, die sie zu zeigen schien. „Ich danke dir, aber das ist nicht nötig. Ich hatte mit Archias keinen Kontakt mehr.“ Seit der Entlobung, oder besser diesem einen Besuch kurz danach, den Caius ihr noch einmal abgestattet hatte. „Wasser, bitte“, antwortete sie dann, während sie kurz das Atrium musterte. „Und, falls es keine Umstände macht, ich wäre dir verbunden wenn meine Sklaven nicht auf der Straße warten müssten, während wir miteinander sprechen.“

    Seiana war immer noch etwas unschlüssig, ob es nicht besser wäre, wieder zu gehen. Erst recht, als klar wurde, dass ihre Sklaven draußen zu warten hatten, entgegen dem, was üblich war. Nicht dass sie vorhatte, diesen Besuch allzu lange andauern zu lassen... aber dennoch. Es rückte Seiana in die Nähe von irgendwelchen dubiosen Aktivitäten, und obwohl sie mehr als einmal darüber nachgedacht hatte – in diesen empfindsamen Momenten, in denen sie allein war und ihre übliche Maske, die sie sogar sich selbst gegenüber inzwischen häufig trug, fallen lassen konnte –, empörte es sie doch, rein aus Prinzip, dass so etwas von ihr angenommen wurde. Als ob sie sich rächen würde. Als ob sie – nur gesetzt den Fall sie wollte sich rächen – so plump vorgehen würde einfach hierher zu kommen!


    Sie folgte dem Ianitor dennoch, ohne die Tatsache zu kommentieren, dass ihre Sklaven draußen zu bleiben hatten, und ließ sich ins Atrium bringen, wo die Iunia gerade dabei war, Blumen zu arrangieren. Im Verlauf ihres kurzen Weges von der Porta ins Atrium hatte Seiana dafür gesorgt, dass ihre Maske noch besser an ihrem Platz saß als für gewöhnlich. Ihr Gesichtsausdruck war nicht starr, aber völlig ruhig und scheinbar gelassen. Sie wollte sich keinen Ausrutscher leisten, keinen Faux-Pas. Sie wollte hier beherrscht, professionell und kühl auftreten, nicht so wie beim letzten Mal, als sie sich getroffen hatten. Und vor allem anderen wollte sie die Iunia nicht merken lassen, was sie dachte oder von ihr hielt. Und deshalb, weil sie so bedacht darauf war, blieb ihre Miene völlig ruhig, als sie, noch bevor der Ianitor sie vorstellte, ihren Cognomen hörte. Erst als sie den letzten Satz hörte, zuckte eine Augenbraue kurz nach oben – und das war von ihr gewollt. „Salve, Iunia. Um offen zu sein, hätte ich das auch nicht gedacht“, grüßte sie sie, während sich ihre Lippen zu einem schmalen, höflichen Lächeln verzogen, das aber sofort wieder verklang, um einer für die nächsten Worte angemessenen Miene Platz zu machen. „Mein Beileid zu deinem Verlust.“

    Seiana stand da und zögerte. Nein, es war kein Zögern im eigentlichen Sinn – aber sie überlegte. Sie wusste immer noch nicht ganz, ob sie hierfür die richtige Entscheidung getroffen hatte. Oh, es war richtig, hierher zu kommen, das schon, jedenfalls objektiv betrachtet. Und deswegen war sie ja auch hier, weil sie versuchte, objektiv zu sein, weil sie der Überzeugung war, dass sie es sein musste. Dennoch war da aber auch dieser andere Teil in ihr, der einen Dreck auf Objektivität gab, sondern darauf herumreiten wollte, was die Frau getan hatte. Diesem Teil von ihr war es zutiefst zuwider, hier zu sein, noch dazu mit diesem Vorhaben. Diesem Teil sträubte sich alles bei dem Gedanken daran. Und trotzdem war sie hier, weil sie diesem Teil in ihr, dem emotionalen, dem leidenschaftlichen, selten die Oberhand ließ und noch seltener den Vorzug gab.


    Als sie ein entsprechendes Zeichen gab, trat Demetrios, der bis dahin ruhig bei ihr gewartet hatte, nach vorn und klopfte an die Porta der Iunier. „Decima Seiana wünscht Iunia Axilla zu sprechen. Ist sie zugegen und hat Zeit, meine Herrin zu empfangen?“

    Ein Sklave hatte ihr gesagt, dass sie ins Atrium kommen solle – Decimus Verus sei da. Verus. Seiana dachte unwillkürlich an den Acta-Artikel, der Verus in die Nähe von Christianern gerückt hatte. Woher diese Informationen stammten, hatte sie allerdings nicht herausfinden können, auch jetzt nicht, als Auctrix. Manche Informanten blieben im Schatten, weil sie sich nur an eine bestimmte Person wandten – das zu merken, dafür hatte sie nicht lange gebraucht. Sie wusste noch nicht einmal, ob es ein Informant ihres Patrons gewesen war oder eines Subauctors... oder gar eines freien Mitarbeiters. So oder so hatte sie aber vor, sich das Vertrauen zu erarbeiten, gerade das der Informanten. Denn so viel hatte sie ebenfalls begriffen: es war unschätzbar, was sie in dieser Position an Informationen und Wissen erlangen konnte, wenn sie es richtig anstellte.


    So kam Seiana also ins Atrium, ihre Kleidung in schlichter Eleganz, wie üblich, und musterte ihren Verwandten, den sie ohnehin kaum kannte. Und die Frau, die er mitgebracht hatte. Eine Augenbraue zuckte ein wenig nach oben, aber im Übrigen war ihrem Gesicht keine Regung anzumerken – bis sie ein freundliches Lächeln aufsetzte, das durchaus echt wirkte. „Verus. Es ist schön, dass du deinen Weg wieder hierher gefunden hast“ grüßte sie ihn, bevor sie sich der Frau zuwandte. „Salve. Ich bin Decima Seiana.“

    Seiana saß da, den nun leeren Weinbecher noch locker in der Hand. Sie wusste es besser als ihn aufzufüllen. So wie sie sich gerade fühlte, hätte sie ihn nur wieder geleert, und das war nicht zielführend. Sie fragte sich, ob sie zu seiner Aufbahrung gehen sollte... und war unschlüssig. Sie war sich noch nicht einmal sicher, ob es sich tatsächlich gehören würde. Sicher, sie waren verlobt gewesen, lange Zeit. Andererseits jedoch war es nicht so, dass sie sich im Guten getrennt hätten, auch wenn sie ihm keinen Ärger gemacht hatte und er nur wenige Tage danach mit seiner Idee angekommen war, sie könnten doch Freunde sein. Freunde. Nach allem, was er ihr an den Kopf geworfen hatte. Nachdem er sie dazu gebracht hatte, Jahre ihres Lebens zu vergeuden, nur um sie dann sitzen zu lassen – unverheiratet und in einem Alter, in dem sie schon längst einen Ehemann hätte haben sollen. Ein bitterer Zug zeichnete sich um ihren Mundwinkel ab. Nein, sie würde nicht gehen. Sie verspürte kein Bedürfnis danach, ihn noch einmal zu sehen. Und so wie sie sich getrennt hatten, so wie er sie verlassen hatte, konnte es ihr keiner verübeln, dass sie in diesem Fall mögliche gesellschaftliche Konventionen außer Acht ließ – wenn es denn tatsächlich jemanden gab, der fand, sie sollte sich dort blicken lassen.


    Seiana fühlte sich merkwürdigerweise ein wenig besser, nachdem sie diese Entscheidung getroffen hatte. Leichter, irgendwie. Den Becher stellte sie nun endgültig ab, bevor ihr Blick noch einmal seinen Brief streifte. Katander. Er hatte ihr Katander geschenkt. Seiana musste daran denken, wie sie vorgehabt hatte Elena zur Hochzeit die Freiheit zu schenken, und wie sie Caius hatte bitten wollen, Katander das gleiche zu schenken, so dass die beiden sich ein gemeinsames Leben aufbauen konnten. Nachdem die Verlobung gelöst gewesen war, war daraus nichts geworden, und Seiana war heilfroh gewesen, dass sie Elena nichts von ihren Plänen erzählt hatte. Allerdings gaben ihr die Götter zumindest was das betraf offenbar eine zweite Chance. Sie würde ihr jetzt die Freiheit schenken, und Katander gleich mit. Sie konnte ihnen helfen, sich etwas in Rom aufzubauen – Seiana hoffte jedenfalls, dass sie in Rom bleiben würden. Sie gestand es sich nicht ein, dass es noch einen Grund hatte, dass sie Elena frei ließ. Dass Elena... zu viel wusste. Von ihr. Über sie. Elena kannte sie einfach zu gut, und wo ihr das bisher zumeist gefallen hatte, wo sie sich glücklich geschätzt hatte, eine solche Freundin, eine Vertraute in ihrer Nähe zu wissen, gefiel Seiana diese Tatsache in letzter Zeit immer weniger. Sie hatte sich verändert, veränderte sich immer noch, das wusste sie selbst, und sie hörte sich nicht gerne Vorträge darüber von Elena an. Sie wusste, dass die Spanierin Recht hatte. Aber es gab nichts, was sie dagegen tun konnte, mehr noch, sie wollte nichts dagegen tun. Das Leben war einfacher so, fand sie. Wenn sie sich verschloss. Wenn sie zuließ, dass das Eis die Oberhand behielt. Und dass Elena mit Katander so glücklich schien, trug nichts dazu bei, dass es Seiana leichter fiel, sie um sich zu haben. Und dennoch – sie wünschte sich, die beiden würden in Rom bleiben. Dass sie Elena nicht mehr jeden Tag und ständig um sich haben wollte, hieß schließlich nicht, dass sie ihre Freundin auf Monate oder Jahre hinaus gar nicht mehr sehen wollte.


    Noch eine Entscheidung gefällt. Und eine weitere stand an. Seiana zog den Papyrus zu sich, der etwas weiter entfernt von ihr auf dem Tisch lag, und überflog kurz, was sie auf diesem aufgezeichnet hatte. Die Acta erforderte einiges ihrer Aufmerksamkeit. Da war ein Artikel, den ein freier Mitarbeiter geliefert hatte, den sie so nicht veröffentlichen konnte. Sie würde ihn überarbeiten müssen, so viel stand fest, allerdings war sie sich noch nicht ganz sicher wie, oder wo – und wie – sie ansetzen könnte. Und dann war es auch erforderlich, personelle Änderungen vorzunehmen. Sie überlegte einen Augenblick, dann beschloss sie, Nägel mit Köpfen zu machen. Die Umstrukturierung war immerhin bereits besprochen worden*, und so fertigte sie ein Pergament an, in dem sie die Acta-Mitarbeiter wissen ließ, dass Aurelius Corvinus von nun an Auctor PPA sein würde, während sie Germanica Aelia zur Lectrix ernannte.


    Sim-Off:

    *Sim-off besprochen

    Tatatatack.


    Mit einem sachten Klacken schlugen Fingernägel auf eine Tischplatte, in einer so raschen Folge hintereinander, dass das Geräusch fast – nur fast – ineinander zu verschwimmen schien.


    Eine Pause. Dann. Tatatatack.


    Wieder kamen die Nägel auf. Ein Papyrus lag auf der Tischfläche. Daneben stand ein Becher mit purem Wein, der jedoch kaum angerührt war. Und irgendwo davor lag eine geöffnete Schriftrolle.


    Tatatatack.


    Ein wenig Wachs lag zerbröselt herum, dennoch war das Siegel noch erkennbar, würde man den Papyrus umdrehen. Aber er lag einfach nur da, die Enden etwas gewölbt, weil er in eine aufgerollte Form gezwängt gewesen war und erst seit kurzem geöffnet, und offenbarte die Schriftzeichen darauf.



    Diesmal blieb das Geräusch aus. Die Finger verharrten in der Luft – und griffen nach einem kurzen Zögern schließlich zu dem Weinbecher, hoben ihn an, nur um dann wieder zu verharren. Und zu verharren.


    Seiana starrte in die dunkelrote Flüssigkeit. Der Brief konnte nur eines bedeuten, dennoch hatte sie einen Sklaven losgeschickt gehabt, der Gewissheit schaffen sollte – und Gewissheit geschafft hatte. Er war tot. Caius – Archias, so hatte er nun wieder unterschrieben – war tot. Hatte sich selbst umgebracht. Und Seiana spürte, wie die Eislandschaft in ihrem Inneren sich wieder ausbreitete, alles mit einer glitzernden Schicht überzog, die nur gelegentlich knisterte. Es war wieder da. Was sie hinter sich gelassen glaubte, war wieder da, aufgerüttelt durch den Tod des Mannes, mit dem sie so lange verlobt gewesen war. So lange. Nur um dann von ihm verlassen zu werden, einer anderen wegen. Weil sie anders war. Mehr. Es war wieder da. Wie sehr er sie damit verletzt hatte. Was er ihr alles an den Kopf geworfen hatte. Verklemmt, frigide, zu alt, du kriegst keinen ab. Die Worte auf dem Papyrus schienen sie angesichts dessen zu verhöhnen: es tat ihm leid, stand da. Bitter kräuselten sich ihre Lippen. Nicht genug. Nein, sie war nicht genug gewesen, nicht für ihn. Etwas in Seiana zog sich schmerzhaft zusammen, nur um überdeckt zu werden von einer weiteren Schicht schimmernder Kristalle, die sich rasant bildeten, um das zu schützen, was wichtig war. Umschloss ihr Inneres und verbarg alte Wunden und Unsicherheiten, umhüllte all das, was fehlerhaft war in ihren Augen und begrub es unter Kälte und verletztem Stolz, um nach außen hin vor allem eines zeigen zu können: Selbstbewusstsein. Mit einer raschen Bewegung führte sie den Becher nun doch zum Mund und leerte ihn in einem Zug. Selbstbewusstsein.

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    Marcus nickte langsam. „Ja. Ja. Der wohnt hier.“ Der Ianitor war alt, aber dass die Tribunatszeit von Decimus Mattiacus vorbei war, hatte auch er gemerkt. Kunststück, lag diese doch nun auch schon wieder länger zurück. Er war versucht zu fragen, wie es Dominus Livianus ging, welche Neuigkeiten der Mann von ihm brachte, aber Marcus wusste, was sich für einen guten Ianitor schickte. Und Neugier gehörte nicht dazu. „Ich lasse nachsehen, ob er im Haus ist und dich empfangen kann. Du kannst im Atrium warten.“ Sprachs, drehte sich um und bedeutete dem Sklavenjungen, der ihm immer zur Hand ging, das weitere zu übernehmen – und dieser führte den Gast nun ins Atrium und bot ihm zunächst etwas zu trinken an, bevor er selbst losflitzte, um nach Mattiacus zu sehen.