Beiträge von Decima Seiana

    Seiana konnte es nicht ändern, sie fühlte sich ein wenig seltsam während des Essens. Der Besuch, ihre Pläne, und dann wieder gemeinsam mit dem Kind da zu sitzen... es fühlte sich merkwürdig an. Ungewohnt. Und dass sich Seneca so sehr seiner Tochter widmete... es war schön, es sollte sie freuen und das tat es auch. Aber auch dort lauerten zum einen Probleme – sie würden irgendwie entscheiden müssen, wie sie das würden machen wollen. Und zum anderen gab es einen kleinen Part von ihr, der dann doch nicht ganz so begeistert davon war, wie Seneca sich mit Silana verstand. Er schien sich viel leichter mit ihr zu tun als sie... und er war abgelenkt. Seiana gestand sich das nicht wirklich ein, aber irgendwie gefiel ihr das nicht ganz. Trotzdem war es ein schöner Abend, und sie genoss es, dass Seneca überhaupt da war.
    Als es Zeit war für Silana ins Bett zu gehen, ließ Seiana sie mit ihrem Vater allein, der es sich nicht nehmen ließ das selbst zu erledigen und nicht der Amme überlassen wollte. Seiana selbst zog sich in ihr Cubiculum zurück, wo sie versuchte ein wenig zu lesen, aber auch hier schweiften ihre Gedanken ab, zu all dem, was jetzt bevorstand, was sie organisieren und erledigen mussten. Dazu kam, dass sie es noch immer nicht so ganz realisierte. Seneca und sie, das war so lange ein Ding der Unmöglichkeit gewesen, dass es sich jetzt anfühlte wie eine Illusion. Und das hing nur zum Teil daran, dass es noch einiges zu tun gab... selbst dass sie überhaupt ja gesagt hatte, kam ihr noch unwirklich vor.


    Sie hob den Kopf, als es klopfte, dankbar für die Ablenkung, und lächelte dann als Seneca eintrat. „Um die Uhrzeit soll sie auch schlafen. Schon längst, eigentlich“, erwiderte sie mit einem leichten Schmunzeln. „Von daher gehe ich einfach mal davon aus, dass du es genau darauf angelegt hast...“ Sie stand auf und ging zu ihm ans Fenster, aus dem er gerade hinaus sah. „Ich auch nicht“, murmelte sie leise, kaum hörbar, und obwohl sie sich darum bemühte freudig auszusehen, konnte sie nicht verhindern dass bei ihr ein wenig Zweifel mitschwang. Aber sie hatten heute ja nicht über die Planung reden wollen, und schon gar nicht über mögliche Probleme. Also verkniff sie sich jeden weiteren Kommentar. „Selbstverständlich ist eines für dich hergerichtet worden“, antwortete sie dann, mit gemischten Gefühlen. Sie hatte gehofft, er würde bleiben – das hatte sie auch schon vor der Verlobung. Das Landgut war klein, ihren Leuten hier vertraute sie, und davon abgesehen hatte sie sich so sehr nach ihm gesehnt, dass es ihr nun fast – nur fast – egal war. „Ich hatte allerdings gehofft, du würdest noch bleiben.“ Sie warf ihm einen Blick von der Seite zu, eher vorsichtig, und wünschte sich nicht zum ersten Mal in seiner Gegenwart, sie könnte sich verführerischer geben.

    Nur die Planungen. Zum Glück. Wenn es um ihren Bruder ging, wollte Seiana lieber zunächst allein mit ihm reden, ebenso wie mit Livianus – und umgekehrt war sie nicht sonderlich erpicht darauf dabei zu sein, wenn Seneca mit seiner Familie sprach, auch wenn sie dem nicht ausweichen würde, wenn er sie dabei haben wollte. „Davor gibt es ja auch noch ein paar Dinge zu erledigen“, erwiderte sie. „Unsere Familien informieren, beispielsweise. Aber ich glaube es ist besser, wenn wir das erst mal allein angehen.“


    Aber die Organisation mussten sie ja nicht jetzt schon angehen, auch wenn zumindest Seianas Gedanken weiterhin schwirrten und schwirrten – und anhielten, als Seneca das Thema beiseite schob. Es fiel ihr nicht ganz leicht, aber er hatte Recht, dass es nicht heute Abend sein musste. Er war vorhin erst gekommen, und sie hatten sich schon seit längerer Zeit nicht mehr gesehen... Sie zwang sich, jedes Mal von neuem, wenn Gedanken an die Hochzeit, die Organisation, die Probleme auftauchen wollten, diese einfach zu verdrängen. „Das Essen ist schon in Arbeit“, schmunzelte sie zurück, es war ja sowieso bald Zeit dafür, und hatten Bescheid bekommen, dass es einen Gast zum Essen gab – die jedenfalls, die nicht ohnehin Seiana nahe genug standen, dass sie wussten, dass dieser Gast bleiben würde. „Es wird nicht mehr lange dauern, denke ich.“ Sie ging voraus ins Triclinium, wo die Sklaven tatsächlich gerade angefangen hatten alles vorzubereiten. „Dann erzähl mir mal eine langweilige Geschichte. Wenn sie langweilig genug ist, kannst du sie später Silana noch mal erzählen, zur Zeit ist es manchmal schwierig, sie zum Einschlafen zu bringen...“

    Ebenso neu. Eigentlich noch neuer, ging es Seiana durch den Kopf, aber sie hatte nicht wirklich Heirat, Ehe an sich gemeint... sondern konkret das hier. Seneca. Es selbst zu entscheiden. Und wirklich zu wollen, nicht an ihre Familie zu denken, nicht daran was erwartet würde von ihr. Auch wenn ihr Verstand nach wie vor ihr zu sagen versuchte, dass sie sich nicht zu viel Hoffnungen machen sollte, dass es Hindernisse gab. Gerade weil sie diese Entscheidung ganz egoistisch für sich traf. „Ja...“, murmelte sie. Eine Menge Arbeit. Sie unterdrückte ein Seufzen – und sah ihn dann fragend an. „Gemeinsam? Meinst du die Planungen für die Hochzeit?“ Oder wollte er etwa dabei sein, wenn sie ihrem Bruder erzählte dass sie heiraten würde, oder Livianus... Götter, das kam ja auch auf sie zu. Und sie hatte, zumindest im Augenblick, keine Ahnung, wie sie das am besten angehen sollte.
    Dann allerdings schob Seneca das Thema beiseite, und obwohl Seianas Kopf schwirrte und es ihr nicht ganz so einfach fiel, das zu verdrängen, ging sie doch nur zu gern darauf ein. Sie lächelte zurück und erwiderte seinen Kuss, legte ihre Arme um seinen Hals und lehnte sich noch etwas dichter an ihn. Trotz all der Schwierigkeiten, die jetzt erst recht auf sie warteten, trotz der Tatsache, dass sie es noch immer nicht so recht glauben konnte – sie begann sich zu freuen. Kein Versteckspiel mehr. Kein wochen-, manchmal monatelanges Warten. Und nie mehr die Sorge, er könnte dessen, könnte ihrer irgendwann überdrüssig werden... Er wollte sie. Nach all der Zeit immer noch. Wollte sie heiraten. Seiana konnte gar nicht ausdrücken, was ihr das bedeutete. „Soso“, machte sie mit einem Lächeln, als sich ihre Lippen lösten. „Und wie hast du dir den restlichen Abend vorgestellt, wenn wir nicht mit der Organisation anfangen sollen?“

    Langsam begann auch Seiana zu lächeln, als Seneca sie umarmte und irgendwelche komischen Sachen vor sich hin flüsterte. Glücklich. Wahnsinnig. Verlobt. Ein leises Lachen entschlüpfte ihr, fast schon gegen ihren Willen, weil sie es selbst noch immer nicht so ganz fassen konnte. Sie war sich immer noch nicht so sicher, ob sie das wirklich würden durchziehen sollten. Ob sie es konnten. Aber sie hatte ja gesagt, und sie wollte es ja auch. Wie sie vorhin schon gesagt hatte: sie wollte das, seit sie sich tatsächlich aufeinander eingelassen hatte, wider besseren Wissens. Und dennoch schaffte Seiana es nicht so einfach, all die letzten Jahre wegzuschieben, die von Widerständen und Hindernissen geprägt gewesen waren. Das Lachen drückte irgendwie all das aus, diese irre Mischung aus Für und Wider, aus Glück und Unsicherheit, die in ihr brodelte. Und dann musste sie noch mehr lachen, als Seneca ihr Gesicht in seine Hände nahm und sich beschwerte, dass sie ihn hatte zappeln lassen. „Was überrumpelst du mich auch so, du kennst mich doch“, erwiderte sie, und diesmal zeigte sich tatsächlich ein Grinsen auf ihren Lippen, bevor sie sich auf die Zehenspitzen stellte und anfing ihn zu küssen. „Tut mir leid. Ich wollte dich nicht auf die Folter spannen“, murmelte sie dann, etwas ernster, ihr Gesicht, ihre Lippen immer noch an seinen, die sich dann doch wieder zu einem flüchtigen Lächeln verzogen bei den nächsten Worten. „Das ist nur... neu für mich.“

    Als Seneca antwortete, öffnete sich ihr Mund wieder leicht. Er wollte sie. Sie. Keine Jüngere, nichts Unkompliziertes. Ein Teil von ihr hatte immer noch Schwierigkeiten hatte, das wirklich zu begreifen. Es zu glauben. Sie wusste selbst nicht warum. Vielleicht, weil es so lange gar kein Thema gewesen war... Und vermutlich wohl auch, weil ein Teil von ihr nach wie vor, wie seit Jahren schon, glaubte sie sei nicht gut genug. Schon gar nicht für ihn. Aber Senecas Worte ließen keinen Zweifel mehr offen, im Gegenteil, er drückte sich ziemlich unmissverständlich aus. Und jetzt, endlich, begann dieser Funke größer zu werden, der verhieß, dass es doch eine Chance gab. Wie hatte sie gerade noch flüchtig gedacht? Die Umstände mochten nicht ideal sein, und das würden sie wohl auch nie, aber sie waren so gut sie es wohl je werden würden.
    Seiana atmete erneut tief ein, und dann kam die sachte Berührung seiner Lippen auf ihrer Stirn. „Ich liebe dich auch, Seneca. Ich liebe dich so sehr... es gab Zeiten, da weiß ich nicht wie ich überlebt hätte ohne den Gedanken an dich.“ Sie atmete noch mal tief ein. Sie wollte das aber nicht aussprechen, das ihr schon wieder auf der Zunge lag. Mit einem Ruck stand sie auf, lief ein paar Schritte, hin, her, bevor sie stehen blieb und Seneca einfach nur ansah. Sie machte den Mund auf als wollte sie etwas sagen, aber es kam nichts heraus. Fast ein wenig hilflos hob sie die Hände, in einer halb fragenden, halb belehrenden Geste. Sie listete in Gedanken all die Probleme auf, die sie haben würden, haben könnten, selbst jetzt noch. Sie listete sie auf, alle denkbaren, und dann alle undenkbaren, alles, was ihr einfiel. Und versuchte ihnen dadurch den Schrecken zu nehmen. Sie nicht mehr als unüberwindbares Hindernis wirken zu lassen. „Ja“, brachte sie schließlich hervor, griff nach seiner Hand und zog ihn nach oben, damit sie ihn umarmen konnte. „Ja“, wisperte sie noch mal, ihr Gesicht an seine Brust gepresst. „Ich will deine Frau werden.“

    Zuerst lächelte sie, als Seneca von der besseren Gesellschaft sprach, aber dann wurde Seiana ernst. „Immer noch?“ fragte sie. Er hatte es halb wie einen Scherz klingen lassen, aber da war genug Ernsthaftigkeit in seinem Tonfall um klar zu machen, dass das wohl nicht ganz so weit hergeholt war, wie es wünschenswert gewesen wäre.


    Als Seneca davon ihrer Zukunft sprach, davon die nächsten Schritte zu planen, und als sie sich daraufhin versteifte – da reagierte er auf eine Art, die nicht dazu beitrug dass Seiana sich wohler fühlte, oder beruhigter. Im Gegenteil. Er sah sie nicht wirklich an, und er schien nervös. Was wiederum sie nervös machte, und sie dazu brachte sich hinter alten Mauern verstecken zu wollen, weil sie fürchtete dass das hier nur in eine Richtung gehen konnte.
    Was dann allerdings kam, führte dazu, dass Seiana erst mal komplett erstarrte. Ihr Mund blieb leicht offen stehen, und ohne sich zu rühren, ohne auch nur zu blinzeln, saß sie da und starrte ihn an. Es dauerte, bis sie begriff, wirklich begriff, was er da gesagt hatte. Und als sie es tat, da... war sie immer noch unfähig zu reagieren, zunächst. Ein Teil von ihr hatte genau darauf gehofft. Ein Teil von ihr hatte das gewollt, seit sie sich das erste Mal wirklich nahe gekommen waren, sich eingestanden und darauf eingelassen hatten, was sich da zwischen ihnen entwickelte. Aber genauso lange hatte ein Teil von ihr darauf bestanden, dass das nicht möglich war, undenkbar, fern jeder Realität.
    „Ich... ich weiß nicht, was ich sagen soll“, brachte sie schließlich hervor. Trotz all der Zeit, in der sie es nie fertig gebracht hatten voneinander zu lassen... hatte doch nie jemand von ihnen dieses Thema angesprochen. Es war immer irgendwie unausgesprochen klar gewesen, dass es nicht ging. Nicht möglich war. Zu viel sprach dagegen, selbst, als sie nicht mehr verheiratet gewesen war. Da war ihre Ehe gewesen. Der Standesunterschied. Der Bürgerkrieg und dann dessen Nachwehen, wo gerade ihre Familie so sehr in der öffentlichen Gunst gefallen war, dass es ungünstig für ihn gewesen wäre auch nur an eine Ehe mit ihr zu denken. Ihr Alter, das mit jedem Jahr immer weniger für eine Ehe mit ihr sprach, so gut ihr Stand auch sein mochte. Da waren ihre Familien... die Kontroversen, die Streitpunkte, die Missgunst, ja sogar der blanke Hass von manchen.


    Seianas Gedanken rasten. Sie hätte das so gerne verhindert, in diesem Moment, hätte so gerne ein einziges Mal nicht gegrübelt, nicht sofort angefangen an alles Mögliche zu denken, es abzuwägen, zu überlegen, aber sie schien es nicht verhindern zu können. „Das... du... das...“ Sie stotterte. Wann kam sie je ins Stottern? Sie zwang sich, innezuhalten, tief Luft zu halten. Zwang ihre rasenden Gedanken anzuhalten. Jahrelang war diese Möglichkeit so undenkbar gewesen, dass es ihr schwer fiel, sie jetzt auch nur in Betracht zu ziehen. Aber er hatte Recht, eigentlich. Besser als jetzt waren die Umstände nie gewesen. Besser als jetzt würden sie nicht mehr werden. Trotzdem hatte sie Schwierigkeiten, den Gedanken wirklich zuzulassen. „Das will ich, seit wir uns kennen gelernt haben.“ Zaghaft begann sie zu lächeln, und dann, sie konnte nicht anders, ihre Gedanken rasten schon wieder, warfen alles über den Haufen und türmten Probleme und Hindernisse vor ihrem inneren Auge auf. Natürlich kam ein Aber. Es gab so viele Aber. „Aber... du kannst Jüngere haben, das weißt du. Du kannst es einfacher haben. Unkomplizierter. Gerade jetzt, wo du Tribun bist, steht dir doch alles offen...“

    Seiana schmunzelte ebenfalls. Üben. Ja, vielleicht war das das Problem, dass sie so gar keine Übung hatte, und es wurde ja nicht besser, weil das Kind sich ständig veränderte, größer wurde, dazu lernte. Wann immer sie dachte, sie hätte wenigstens halbwegs den Dreh raus, passierte irgendwas. Eine Zeitlang beispielsweise war es recht angenehm gewesen, als sie aufgehört hatte unsicher zu sein, wenn sie Silana hoch gehoben und herum getragen oder mit ihr am Boden gespielt hatte. Und was kam dann? Scheinbar von einem Tag auf den anderen lernte die Kleine laufen und begann wie verrückt durch die Gegend zu flitzen. Vielleicht wurde es ja besser, wenn sie erst mal in ein Alter kam, an das Seiana sich selbst noch halbwegs erinnern konnte... aber so fiel es ihr schwer nachzuvollziehen, was in Silana vorgehen mochte.
    „Ja, ein bisschen üben kann sicher nicht schaden. Das Ding ist nur, dass sie sich schneller verändert als man hinterher kommt.“ Aber vermutlich stellte das Seneca auch nicht so sehr vor Schwierigkeiten wie sie. Ihr war durchaus bewusst, dass das Problem bei ihr selbst lag, auch wenn ihr das nicht wirklich half eine Lösung zu finden.


    Sie seufzte leise, während ihr Körper, an seinen gelehnt, sich nach und nach entspannte. „Ich weiß nicht, ob es dir hier nicht auch zu langweilig werden würde, wenn dir Mantua schon zu öde ist“, neckte sie ihn. „Aber Rom ist freilich deutlich näher.“ Auch wenn sie selbst den Vorteil der kurzen Entfernung bislang noch kein einziges Mal genutzt hatte.
    Es wäre tatsächlich schön, wenn er dauerhaft hier sein könnte, oder zumindest ein bisschen länger, aber sie machte sich keine Illusionen darüber. Sein Besuch jetzt würde viel zu schnell wieder vorbei sein... aber darüber wollte sie jetzt nicht nachdenken. Stattdessen freute sie sich lieber, dass sich nichts verändert zu haben schien zwischen ihnen, was ein Teil von ihr befürchtet hatte.
    Als er weiter redete, dachte sie sich zunächst nichts, begann nur zu grinsen als Seneca davon sprach, genug zu haben womit er sie beschäftigen könnte. Schon bei den nächsten Worten allerdings kehrte die Anspannung auf einen Schlag in ihren Körper zurück. Ich habe nachgedacht, über uns, hörte sie, und sie versteifte sich, genug, dass Seneca es vermutlich auch spüren konnte. Diese Ankündigung klang nicht gut, gar nicht gut, und kurz setzte ihr Herz einen Schlag aus, bevor es mit doppelter Geschwindigkeit weiter zu klopfen schien. Es kam also doch, und obwohl ein Teil von ihr genau das befürchtet hatte, hatte sie sich in den letzten paar Momenten doch begonnen in Sicherheit zu wiegen – und prompt war die Fassungslosigkeit, die sich in ihr nun ausbreitete, groß genug, dass sie zunächst gar nicht wirklich begriff, was sie noch hörte. Schweigen breitete sich aus, nachdem er geendet hatte, Momente lang, während Seiana versuchte zu verdauen, was sie gehört hatte – und nach und nach realisierte, dass da irgendwie, irgendwas nicht ganz zusammen passte von dem, was sie aus seinen ersten Worten geschlussfolgert hatte, und dem, was er danach gesagt hatte. Des Versteckspiels überdrüssig. Nächste Schritte planen. Langsam, kontrolliert richtete Seiana sich wieder auf und sah ihn an. „Du... wovon genau redest du?“ fragte sie nach, ihr Gesicht die alte Maske, unfähig, der winzigen Hoffnung Raum zu geben, die sich in ihr ausbreiten wollte. Vielleicht meinte er Silana, ihre Zukunft. Vielleicht wollte er sie adoptieren. Oder vielleicht meinte er trotz seiner Formulierung, die etwas anderes verhieß, schon allein er wir gesagt hatte, dass er das Ganze beenden wollte.

    Seiana nickte und lächelte ihrem Bruder leicht zu, während sie in gemächlichem Tempo weiter ritten. Seit sie hier angekommen war, hatte sie das Landgut nicht mehr wirklich verlassen... und sie war sich insgeheim nicht ganz so sicher, ob sie dafür schon bereit war. Andererseits wäre es ein Besuch in einem Tempel, an einem Ort, an dem Faustus selbst Halt gefunden hatte in einer schwierigen Zeit. Und ein Ausflug würde ihr vielleicht auch ganz gut tun.
    Sie war ganz froh darum, dass ihr Bruder sowohl was Rom anging und warum es sie nicht zurückzog als auch den Umgang mit ihrer Tochter nicht weiter nach verfolgte. Manches davon konnte sie ja nicht mal vor sich selbst wirklich in Worte fassen, konnte es sich selbst nicht so recht erklären. Da hörte sie sich wesentlich lieber an, was er für eine Idee hatte – und wie sich herausstellte hatte er gleich mehrere. Seiana sah zunächst nach vorne, als Faustus von dem Tratsch anfing, und kaum merklich verstärkte sich ihr Griff um die Zügel, die bisher recht locker in ihrer Hand gelegen hatten. Sie hätte nicht einmal reiten dürfen, wenn es nach den gesellschaftlichen Ansprüchen ging, sie wusste das, und sie wusste auch, dass zumindest Faustus nichts, aber auch gar nichts Übles über sie dachte. Aber Seneca und er waren da wohl die Einzigen. Jeder andere, der davon erfuhr, würde sich das Maul verreißen, und das gar nicht mal zu Unrecht, wie eine leise Stimme in ihr wisperte. Auch das wusste sie, hatte es immer schon gewusst... sie hatte nur trotzdem Seneca nicht aufgeben können. Bis heute nicht.


    Für einen Moment schwankte sie, Faustus zu unterbrechen und das Thema doch abzuwürgen. Ihr war nicht danach, jetzt über ihre Fehler zu sinnieren, darüber was sie alles falsch gemacht hatte, aber sie blieb dann doch stumm. Silanas Zukunft war wichtig, darüber hatte sie ja selbst schon ausgiebig nachgegrübelt, und wenn Faustus sich schon Gedanken dazu gemacht hatte, wollte sie sie auch hören. Was sie dann auch tat, auch wenn es ihr zwischendrin noch mal schwerfiel ihrem Bruder nicht ins Wort zu fallen. Ihr gefiel nicht, was er über Seneca andeutete, weil er schlicht Unrecht hatte damit, und weil sie sich gewünscht hätte, dass er Seneca einfach akzeptierte. Aber sie sagte auch dazu nichts, sondern schwieg einfach weiter, bis Faustus geendet hatte. „Ich hatte mir die zweite Möglichkeit überlegt. Silana ist klein, Zeit wäre genug um das umsichtig aufzuziehen. Deine anderen Optionen klingen aber auch gut“, erwiderte sie schließlich. Nachdenklich starrte sie nach vorne, in die Ferne. Vor allem die erste Option klang verlockend. Und die dritte... ja, es wäre eine sehr gute Erklärung, warum sie sich der Kleinen annahm. Nur... „Wenn wir sie als deine Tochter ausgeben, wäre sie dann nicht auch unehelich? Oder würdest dann du behaupten, du hättest in den Kriegswirren oder kurz davor im kleinen Kreis geheiratet?“
    Seiana atmete tief ein und kam dann zum eigentlichen Problem. Oder was hieß Problem? Vielleicht war es auch gar keines, aber sie hatte trotzdem etwas Angst davor: mit Seneca darüber zu reden. Sie hatten schon längere Zeit nur wenig Kontakt, und wenn dann nur mit Briefen, in denen sie selten etwas von Belang aufbrachten. Und Seiana hatte keine Ahnung, wie Seneca reagieren würde, oder was er wirklich wollte. Ein Problem hier und jetzt könnte es allerdings auch werden, wenn sie bedachte wie Faustus gerade eben noch über Seneca gesprochen hatte. „Ich muss mit Seneca darüber reden. Er ist ihr Vater, er hat ein Recht darauf zumindest involviert zu werden.“ Sie löste ihren Blick aus der Ferne und sah zu Faustus hinüber, lächelte ihn an. „Danke dass du dir so viele Gedanken gemacht hast. Es... naja. Es ist schön zu wissen, damit nicht allein zu sein.“

    Seiana lächelte, wenn auch ein wenig schwach, ein wenig bemüht. Sie war sonst selten um Worte verlegen, aber wenn es darum ging mit ihrer eigenen Tochter zu agieren, wusste sie nie so recht, wie sie sich verhalten sollte. Weshalb sie sich zurückzog und eher auf Distanz ging, was wohl auch nicht gerade das Beste war, aber immerhin besser als die Kleine ihre Unsicherheit spüren zu lassen, fand sie. „Ich war überraschter als sie, hast du das nicht gemerkt?“ scherzte sie zurück.
    „Gut“, erwiderte sie dann, ein wenig langsam, vielleicht zögerlich, aber durchaus ehrlich. „Ich hätte es ja nie gedacht, aber hier zu leben...“ Sie machte eine Geste mit einem Arm, die das Landgut umschloss. „Es tut mir gut. Ich muss sagen, ich vermisse Rom kaum. Sicher gibt es hier wenig Abwechslung, aber die Vorteile machen das wett.“ Die Ruhe. Die Abwesenheit von gesellschaftlichen Zwängen, von Ränkespielen und Intrigen. Die fehlende Notwendigkeit, anderen ständig etwas vorzuspielen. Sie lehnte sich sachte an ihn, schloss für einen kurzen Moment die Augen und genoss seine Nähe. Jetzt, wo Seneca seine Tochter gesehen hatte und sie das hinter sich hatten, wo Silana nun weg war, begann die Anspannung von ihr spürbar abzufallen. „Allerdings muss ich mich auch nicht mit zig Soldaten herumschlagen“, schmunzelte sie leicht.

    Die Kleine sah Seneca mit großen Augen an, als er davon sprach sie sei seine Tochter. So wirklich hatte sie noch kein Konzept davon, was das war, oder zu was ihn das genau machte... aber sie wusste, dass es etwas Wichtiges sein musste.
    Seiana indes fühlte sich so hilflos, wie Seneca aussah. Sie war komplett überrascht, dass Seneca so einfach damit herausrückte, dass Silana seine Tochter war – sie hatte erwartet er wollte sie erst mal kennen lernen, aber dass er so vorgehen würde, das traf sie völlig unvorbereitet. Das lief gerade schief, oder zumindest nicht sonderlich gut oder geschickt, hatte sie das Gefühl. Sie hatte nur keine Ahnung, was sie tun sollte. Mit halb offenem Mund saß sie da und starrte auf die für sie etwas unwirkliche Szenerie, die sich da entfaltete.


    Am Ende war es dann die Amme, die eingriff. „Oh, sie ist ein überaus liebes Kind, nicht wahr?“ Sie kam herbei und setzte sich zu Silana, während Seiana jetzt zustimmend nickte. „Ja, das ist sie.“
    Silana ließ sich davon nicht so einfach besänftigen, und begann nachzufragen, aber die Amme unterband das vorerst. „Jetzt ist es erst mal Zeit für ein Bad.“ Mit diesen Worten hob sie Silana hoch, nickte den beiden Erwachsenen zu und verschwand. Und Seiana konnte nicht ganz verhehlen, mit welcher Erleichterung sie das registrierte. „Es... es tut mir leid, Seneca. Ich habe damit nicht gerechnet, ich habe sie darauf nicht vorbereitet, ich...“ Sie räusperte sich. „Die Amme wird mit ihr reden. Ihr erklären, wer du bist.“ Das nächste Treffen würde dann sicher anders ablaufen. Hoffentlich. Vielleicht sollte sie von vornherein der Amme die Aufgabe übertragen, Kind und Vater einander näher zu bringen – denn genau das war es ja offensichtlich, was Seneca wollte. „Es tut mir leid“, wiederholte sie.

    Den größten Teil der Verwaltung ihrer Ländereien und Betriebe hatte Seiana in den vergangenen Jahren an fähige Verwalter übertragen – auch das war einer jener Aspekte, den sie geändert hatte. Sie versuchte, mehr Zeit für sich selbst zu haben. Auch wenn es ihr nach wie vor schwer fiel, sich mit Dingen zu beschäftigen, die sich nicht dazu eigneten sie vernünftig abzulenken, war ihr doch eines bewusst geworden: sie konnte und wollte nicht so weiter machen wie vor ihrem... Zusammenbruch, wenn man es denn so nennen wollte. Was sie brauchte, war innere Ruhe, und so schwer es auch war: das hieß, auch zur Ruhe zu kommen. Sich mit Dingen zu beschäftigen, die einen ruhigen Geist forderten und mehr Muse als Hektik brauchten. Und auch einfach mal nichts zu tun... die Gedanken einfach treiben zu lassen. Seiana war nicht allzu gut in diesen Dingen, aber sie bemühte sich – anfangs weil sie gewusst hatte, dass es so nicht weiter gehen konnte, mittlerweile weil sie langsam begann zu bemerken, dass es ihr gut tat.
    Dennoch ließ sie sich freilich in regelmäßigen, wenn auch weit größeren Abständen als früher, von ihren Verwaltern berichten, beschäftigte sich nach wie vor mit größeren, langfristigen Entwicklungen und traf die wichtigen Entscheidungen selbst. Und als sie eines Tages, während Faustus bei ihr zu Besuch war, sich erneut damit beschäftigte, setzte sie ein Schreiben, um ihrem Bruder jene sechs Grundstücke zurück zu überschreiben, die er ihr noch vor dem Bürgerkrieg übertragen hatte.

    Seiana unterdrückte ein Seufzen, als das Kind nach ihrem Tadel zwar grüßte, die Frage dann aber trotzdem gleich noch mal hinterher schob. Sie hatte eigentlich gehofft, dass mit der Unterbrechung die Frage erledigt war – schlicht und ergreifend, weil sie Silana noch gar nichts erzählt hatte. Das Mädchen war viel zu klein, um zu begreifen um was es ging. Und abgesehen davon hatte Seiana nicht die geringste Ahnung, was sie ihr sagen sollte, oder wie. Das wusste sie auch jetzt nicht, und so sah sie nur ziemlich hilflos dabei zu, wie Seneca zwar einen recht guten Anfang machte, dann aber ziemlich über das Ziel hinausschoss. Silana saß da und betrachtete ihn aufmerksam. Seneca war sein Name, damit konnte sie etwas anfangen. Soldat war ihr auch ein Begriff. Sohn des... Haus... Seiana selbst fühlte sich so hilflos wie Seneca, was sich in ihrem Blick spiegelte, mit dem sie seinen erwiderte, Silana – nun. Spätestens seit Haus wurde ihr Gesichtsausdruck skeptisch, und ihr Mund öffnete sich etwas fragend – öffnete sich immer weiter, je länger Seneca sprach. Etwas verwirrt wartete sie am Schluss ab, ob noch mehr kommen würde, aber als klar wurde, dass das alles war, nickte sie kurzerhand. „Kommoden, Kommoden sind aber auch schwer. Ich kann die nicht tragen.“ Kritisch sah sie ihn einen Augenblick an. War er jetzt traurig, weil sie was anderes gesagt hatte? „Aber ich mag sie auch lieber“, schob sie schnell zustimmend hinterher. Sie hatte keine Ahnung, was genau er da eigentlich erzählt hatte, was Tragdingens waren oder ob die wirklich schwerer waren als Kommoden. Was ihr schwer fiel zu glauben, weil die echt schwer waren. Die bewegten sich kein bisschen von der Stelle, wenn sie dagegen drückte. Aber ihm zuzustimmen schien die richtige Reaktion zu sein. Dann fiel ihr ein, was er zum Schluss gesagt hatte, und fügte an: „Warum willst du mich kennen lernen?“

    Kurz nachdem Seiana das Tablinum betreten hatte, kam auch schon die Amme mit Silana. Sie begrüßten sich, das Mädchen fröhlich und aufgeweckt, Seiana wie üblich zurückhaltend, sich ein wenig steif fühlend, auch wenn sie sich wie stets bemühte das zu überspielen.
    Als Seneca schließlich kam, spielte Silana mit der Amme und ein paar kunstvoll gefertigten Holzstücken und Steinen auf dem Boden, während Seiana in der Nähe saß und zusah. Als Seneca sich zu dem Mädchen gesellte, blieb die Decima wo sie war und beobachtete nur weiter, was geschah – und Silana schaute erst mal ein wenig unschlüssig hoch. Der Mann war ihr unbekannt, aber es war deutlich, dass Seiana und ihre Amme kein Problem mit ihm hatten. „Wer bist du?“ fragte sie schließlich, während sie ihn nach wie vor musterte.
    „Silana“, warf die Decima ein, bevor Seneca antworten konnte. Leichter Tadel schwang in ihrer Stimme mit. „Begrüßt man so einen Gast?“
    Silana zog die Nase kurz kraus und grinste dann, halb verschämt, halb verschmitzt. „Salve.“ Kurzes Schweigen. „Wer bist du?“

    Seiana lag auf der Zunge, dass sie sich trotzdem – oder erst recht – Faustus so nicht vorstellen könnte. Faustus war... ihr kleiner Bruder. Das würde er immer bleiben. Überschwänglich und überschäumend, lebenslustig und leichtsinnig – in der guten wie in der schlechten Bedeutung. Ein Hitzkopf und ein Feingeist. Kein Tempeldiener, kein Priester, kein weiser Mann, auch wenn er auf seine Art durchaus weise sein konnte... manchmal. Und Seiana war froh darüber. Sie war froh, dass er sich diese Art behalten hatte, trotz des Älterwerdens und trotz allem, was passiert war. Sie liebte ihn, so wie er war, und so anders als sie er in mancher Hinsicht auch war, tat ihr doch genau dieser Unterschied gut.
    Etwas wehmütig klang er gerade trotzdem wieder, obwohl er vorhin selbst noch gemeint hatte, für ihn käme ein Priesterdasein nicht in Frage. Sie sah kurz zu ihm hinüber und lächelte flüchtig. „Ja, das hat Großmutter öfter gesagt. Und es stimmt ja auch. Aber du kannst den Tempel doch sicher ab und zu besuchen. Vielleicht teilhaben an einer Zeremonie hin und wieder...“ Auch das war etwas, was Faustus konnte wie kaum ein anderer: sich so fallen zu lassen, in der Kunst, in gemeinsamen Erlebnissen. Sie zumindest konnte es nicht, und wann immer sie ihn über so etwas reden hörte, spürte sie eine vage Wehmut, weil sie noch nie dasselbe erlebt hatte wie er, diese Begeisterung, diese Faszination. Als ob er weggespült worden wäre von einer übermächtigen Brandung. Sie konnte Kunst auch genießen, aber bei ihr war es... anders. Leiser. Ganz sicher nicht so, dass sie sich darin verlieren könnte, schon allein weil sie das ja eigentlich immer vermied – sich zu verlieren.


    „Oh“, lachte sie auf. „Großartig, dann haben wir wenigstens zur Abwechslung mal etwas Zeit miteinander. Das letzte Mal ist viel zu lange her.“ Platz gab es ja – auch wenn ihr Landgut deutlich kleiner war als das benachbarte von Meridius, hatte es dennoch Platz, um bequem zumindest ein paar Gäste unterbringen zu können. Und selbst wenn nicht: im Zweifel gab es ja immer noch das Nachbargut, das den Decimern gehörte, und um das Seiana sich zur Zeit sowieso kümmerte, wo sie ohnehin hier war. „Bring ihn mit nächstes Mal“, sagte sie schlicht, als Faustus dann von Borkan sprach, oder eher: schwärmte. Dass er von seinen Liebhabern in diesem Tonfall sprach, kannte sie schon, das tat er immer... neu war, dass er ihn ihr vorstellen wollte. Das hatte er bisher noch nie getan – sah man mal von Flavius Gracchus ab, und das konnte man ganz sicher nicht als Vorstellen zählen –, und auch wenn Seiana wusste, dass es nicht unbedingt daran gelegen hatte, dass Faustus nicht gewollt hätte: sie freute sich dennoch.
    Gleich darauf beschlich sie dann allerdings der eher unangenehmer Gedanke, dass sie umgekehrt noch viel schlimmer war als Faustus. Wenigstens hatte sie es irgendwann fertig gebracht, ihm überhaupt von Seneca zu erzählen, und dafür hatte sie schon lange genug gebraucht. Und sie hatte ein kleines, süßes Mädchen zur Ablenkung gehabt, als sie es getan hatte – eines, das sie selbst zwar verunsicherte, aber eine umwerfende Wirkung auf Faustus hatte. Aber Seneca und ihr Bruder in einem Raum... das wagte sie sich noch nicht mal wirklich vorzustellen. Und dass die zwei sich eigentlich schon kannten, machte es eher noch schlimmer.


    „Ja... klar war mir das auch. Aber...“ Sie presste die Lippen aufeinander. Es war eben ein Unterschied, es zu wissen, oder es am eigenen Leib zu erfahren. Faustus wusste das wohl selbst am besten. Seiana zuckte dann allerdings nur die Achseln. „Egal. Ich werd nicht immer hier draußen auf dem Land bleiben, aber ein bisschen Abstand tut gerade gut.“
    Sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als Faustus dann von ihrer Tochter schwärmte – und spürte zugleich wieder dieses nagende Gefühl der Unsicherheit. Sie freute sich über seine Begeisterung, und sie war stolz über das, was er sagte. Natürlich war sie das. Vor allem was die Fortschritte betraf, die die Kleine machte. Einfacher wurde ihr Zwiespalt dadurch nicht unbedingt. „Nein, nicht deswegen...“ Auch wenn sie ganz sicher nicht darauf erpicht war, dass das heraus kam. Ebenso wenig war sie erpicht darauf, jetzt erklären zu müssen, was sie im Grunde selbst nicht wirklich verstand, warum es so schwierig für sie zu sein schien, den richtigen Weg zu finden mit ihrer eigenen Tochter umzugehen – weshalb sie froh war, dass Faustus schon weiter sprach. „Würde ich nie tun. Was für eine Idee?“

    „Und dabei kennst du erst einen kleinen Teil“, lächelte sie auf seine Worte hin, dass es schön hier sei. „Warte bis du den Rest gesehen hast.“ Wozu er offenbar Gelegenheit haben würde, stellte Seiana erfreut fest, als er gleich darauf erzählte, er könne ein paar Tage bleiben. Nur von seiner Ankündigung, dass er etwas zu besprechen hätte, wusste sie nicht so recht was sie halten sollte... Seneca wirkte nun nicht gerade so, als es dramatisch, aber Seiana mochte so etwas dennoch nicht. Sie wusste lieber von vornherein, woran sie war, worauf sie sich vorbereiten musste, als überrascht zu werden. Aber sie drängte nicht darauf, dass er gleich verraten sollte worum es ging – er hatte einen langen Ritt hinter sich, da mussten längere Gespräche warten. Stattdessen fragte sie also zunächst was er wollte, und musste schmunzeln bei seiner Antwort. „Nicht ganz der Limes. Ich bin in einer Militärfamilie aufgewachsen, ich kenn die feinen Unterschiede...“ Sie lachte leise und löste sich dann von ihm, während sie einen Sklaven herbei winkte. „Bring unseren Gast zum Balneum und sorge dafür, dass er alles hat, was er wünscht“, trug sie ihm auf, blieb selbst aber zunächst stehen, auch als die beiden Männer schon verschwunden waren. Sie hatte Senecas Worte gehört, und auch ohne diese hätte sie gewusst, dass er seine Tochter würde sehen wollen. Darauf eingegangen war sie dennoch nicht. Sie wusste einfach nicht wie, wusste sie nicht, was sie hätte sagen sollen. Und auch wenn gerade alles so geschienen hatte wie immer, trotz all der Zeit, die vergangen war, hatte sie zudem die Befürchtung, es könnte sich ändern, wenn er Silana sehen, Zeit mit ihr verbringen würde. Sie hätte nicht sagen können wieso, aber ihr war flau zumute. Dennoch – nach einem weiteren Moment, in dem sie regungslos da stand, rief sie einen weiteren Sklaven und gab ihm Bescheid, dass Silana ins Tablinum gebracht werden sollte, wo sie selbst ebenfalls hin ging, um dort auf Seneca zu warten.

    Seiana erwiderte das Lächeln, ein wenig peinlich berührt, weil ihr selbst schon im Moment des Aussprechens bewusst gewesen war, dass ihre Frage... unpassend war. Aber zurücknehmen konnte sie sie nicht, etwas anderes fiel ihr selbst nach einem weiteren Augenblick nicht ein, und Seneca schien ihre Worte ohnehin nicht falsch aufzufassen. Ihre leichte Verlegenheit verlor sich dann endgültig bei seiner Antwort, und als sie seine Hände spürte, tat sie das, was sie eigentlich von Anfang an hatte tun wollen: sie umarmte ihn, küsste ihn. Nach wie vor war er einer der wenigen Menschen, bei denen sie sich nach Körperkontakt sehnte, auch wenn sie sich zurückhielt, weil sie Angst hatte vor Zurückweisung – gerade nachdem so viel Zeit vergangen war. Aber nichts schien sich geändert zu haben, nicht an der Anziehung jedenfalls. „Gut“, erwiderte sie leise und etwas undeutlich, weil ihr Gesicht an seiner Brust lag. „Rom den Rücken zu kehren war eine gute Entscheidung. Das Leben hier ist... einfacher. Entspannter.“ Sie atmete tief ein. „Was ist mir dir? Mantua liegt nicht gerade um die Ecke, der Ritt muss anstrengend gewesen sein.“ Und hoffentlich hieß das, dass er nicht schon in den nächsten Stunden oder am nächsten Tag wieder los musste, aber das sagte sie nicht laut. Sie löste sich ein wenig, um ihn ansehen zu können. „Möchtest du etwas essen oder trinken? Oder erst ins Balneum?“

    Seiana befand sich in ihren Gemächern, vertieft in eine Schriftrolle, als sie ihr ein Sklave die Nachricht brachte, dass Besuch gekommen sei. Das allein war schon eher ungewöhnlich, selten fand jemand den Weg hier heraus, nicht zuletzt deshalb, weil außer ihrer Familie kaum jemand wusste, dass sie hier war. Aber als sie den Namen hörte, stockte ihr für einen kurzen Moment der Atem, und wie erstarrt saß sie da und starrte den Sklaven einfach nur an. Sie wusste nicht wie viel Zeit vergangen sein mochte, bis der Sklave sich schließlich räusperte und sie aus ihrer Starre riss.


    Wenige Momente später betrat sie schnell das Atrium, wo Seneca bereits wartete, seit er herein gebeten worden und der Sklave zu ihr gekommen war. Als sie ihn sah, blieb sie – so rasch sie hergekommen war – doch einen Augenblick stehen, bevor sie dann langsamer auf ihn zuging. „Seneca“, grüßte sie ihn. Lächelte leicht dabei. Sie war sich nicht sicher, wo sie genau standen – sie hatten Kontakt gehalten, aber es hatte sich in den letzten Monaten auf Briefe beschränkt. Und in diesen hatten sie nichts besprochen, was sie betroffen hätte. Wo sie standen. Wie es weiter gehen sollte. Dennoch ging sie weiter, unterschritt die Distanz, die höflich gewesen wäre, auf ein Zeichen von ihm hoffend, dass sich nichts geändert hatte zwischen ihnen, während sie ihm näher kam. „Was machst du hier?“ Die Frage war nicht sonderlich klug, das wusste sie, aber ihr fiel nichts besseres ein, was sie hätte sagen können. Zu überraschend war der Besuch. Als sie ihn erreicht hatte, blieb sie für einen winzigen Moment stehen – dann legte sie ihm eine Hand an die Wange und lehnte sich an ihn.

    Seiana atmete tief die kühle Luft ein. Obwohl sie nun schon seit geraumer Zeit hier draußen lebte, in den Bergen vor den Toren Roms, genoss sie die frische Luft immer noch. Wo sie in Rom kaum die Casa verlassen hatte, weil sie gemeint hatte nicht atmen zu können außerhalb der Mauern, die Schutz gewährten, war das hier anders. Und die Luft war letzten Endes nur ein kleiner Teil. Es gab kaum Menschen hier, das war es, was Seiana tatsächlich deutlich befreiter aufatmen ließ, als sie es je in den vergangenen Monaten, Jahren in Rom gekonnt hätte. Sie musste sich nicht mehr verkriechen, um ihre Ruhe zu haben. Sie brauchte hier keine Fassade, wenn sie nach draußen wollte, eine Fassade, die ein Schutzschild gewesen und doch in all der Zeit in Rom so brüchig geworden war, dass sie nichts mehr schützte.
    Und sie konnte hier wieder reiten, worauf sie jahrelang verzichtet hatte, so lange, dass sie beinahe vergessen hatte, wie sehr sie es mal geliebt hatte. Sie hatte ein wenig gebraucht, bis sie tatsächlich wieder genug Übung hatte um sich sicher zu fühlen, aber auch das war besser geworden, wie so vieles.


    Sie warf ihrem Bruder einen Blick zu, als ihre Pferde durch die Bäume trotteten, und lächelte flüchtig. Sie genoss es, Zeit mit ihm zu verbringen, endlich mal wieder. Einfach nur so. Sie hatte ihm gelauscht bei seinen Erzählungen, was ihm widerfahren war seit ihrem letzten Treffen, und obwohl sie halb gehofft hatte, dass er den Weg nach Hause wieder finden würde, wusste sie doch, dass sie die Letzte war, die dazu etwas sagen konnte. Sie hatte ja auch nichts anderes getan als zu flüchten, wenn auch nicht ganz so dramatisch wie er.
    Sie wiederum hatte nicht ganz so viel zu erzählen. Sie führte ein recht ruhiges Leben hier, auch wenn sie sich in regelmäßigen Abständen über das Leben in Rom auf dem Laufenden hielt. Sie berichtete von der Ernte, die in diesem Jahr eine gute gewesen war, von den Vorkommnissen auf beiden Landgütern, davon wie ihre Geschäfte liefen, und vor allem von den Fortschritten Silanas. Sie wusste, oder konnte sich zumindest denken, dass Faustus vor allem an letzterem sehr interessiert war. Im Gegensatz zu ihr hatte er schon immer ein gutes Händchen mit Kindern gehabt... und so erzählte sie auch davon, obwohl sie immer noch nicht so recht wusste, wie sie mit dem Kind, das ihr Kind war, umgehen sollte. Was sie fühlen sollte. Tief im Inneren war sie nach wie vor vor allem eines in Silanas Gegenwart: unsicher.


    „Ich kann dich mir auch nicht vorstellen als Tempeldiener“, erwiderte Seiana mit einem leichten Schmunzeln. „So gut dir die Zeit getan haben mag, aber auf Dauer... nein. Das wäre nichts. Wo bist du jetzt untergekommen?“
    Die Frage nach ihren Plänen, nach Silana, ließ Seiana für einen Moment schweigen. Sie ließ ihrem Tier die Zügel ein wenig lockerer, als sie an einen kleinen Graben kamen, und lehnte sich zuerst zurück, dann nach vorne, bis sie ihn hinter sich gebracht hatten. Er danach setzte sie zu einer Antwort an. „Vorerst ja. Es gibt nichts, was mich momentan nach Rom zurückzieht, ich bin ehrlich gesagt froh nicht mehr in der Stadt zu sein... Seltsam, eigentlich. Früher wäre es mir hier viel zu langweilig gewesen.“ Zu einem Großteil, weil sie die Beschäftigung gebraucht hatte, um ihren Schutzschild aufrecht zu erhalten. „Sie ist großartig, ja. Ich bin nur... Ich weiß manchmal nicht so recht, wie ich mit ihr umgehen soll.“

    In Ordnung, dann herzlich willkommen :) Die Familien-Einordnung und alles weitere besprechen wir dann per PN, wenn du freigeschaltet bist.

    In den Albaner Bergen, in direkter Nachbarschaft zu dem Landgut ihres Verwandten Decimus Meridius, hatte Seiana vor einiger Zeit schon ein kleines Gut gekauft. Ursprünglich war es einfach nur als Ort gedacht gewesen, an dem ihre Tochter aufwachsen konnte, und es war kein Zufall, dass sie ausgerechnet dieses Gut ausgesucht hatte, an ausgerechnet diesem Fleckchen Erde. Auf Meridius' Landgut hatten Seneca und sie zueinander gefunden, die kurze Zeit mit ihm dort gehörte, jedenfalls im Rückblick, zu den glücklichsten ihres Lebens. Es erschien ihr nur passend, das Kind dort aufwachsen zu lassen, und so hatte sie alles Nötige in die Wege geleitet.
    Aber je mehr Zeit verging, die Seiana in Rom zurückgezogen und fast nur noch in ihren Gemächern verbrachte, desto mehr sehnte sie sich selbst nach einem Ort, an dem sie wieder das Gefühl bekam frei atmen zu können. All das, was in den vergangenen Jahren passiert war, war zu viel gewesen. Sie hatte durchgehalten, war stark gewesen, so lange sie es ein musste, aber so bald das nicht mehr nötig gewesen war, weil Livianus zurückgekommen war nach Rom, hatte sie dem über Jahre hinweg aufgebauten Druck nicht mehr stand gehalten. Das Leben in der Stadt mit all seinen Erwartungen raubte ihr die Luft zu atmen. Und so hatte sie schließlich eine Entscheidung getroffen – hatte sich ganz zurückgezogen aus Rom, vor die Tore der Stadt. Und hatte sie anfangs noch die meiste Zeit auf Meridius' Landgut verbracht, war sie inzwischen deutlich häufiger auf dem kleineren Gut anzutreffen.