Beiträge von Decima Seiana

    Wie der Duccius musste Seiana lächeln, wenn auch flüchtig, als Seneca von verschlungenen Pfaden sprach. So konnte man es tatsächlich nennen, wenn man beschreiben wollte was sie beide betraf... simpel, aber zutreffend. Auch wenn es eine ganze Menge vorenthielt. Was dem Duccius natürlich auch nicht entging, genauso wenig wie die Tatsache, dass sie letztlich aus Liebe heirateten, auch wenn Seiana dieses Wort bewusst nicht erwähnt hatte. Natürlich dachte er das, musste es denken, nachdem er schon so pointiert auf den Rangunterschied zu sprechen gekommen war.
    Dass er sie für unkonventionell hielt, traf bei Seiana auf gemischte Gefühle. Sie war lange nicht mehr so wie früher, wo sie versucht hatte diesen verflixten Balanceakt zu schaffen zwischen dem, was ihre eigenen Wünsche waren, und dem, was familiäre und gesellschaftliche Erwartungen von ihr forderten. Wo sie es als negativ empfunden hätte, hätte ihr jemand gesagt sie sei unkonventionell – auch wenn sie noch so sehr wusste, dass das stimmte, einfach weil sie sich so sehr bemüht hatte, trotzdem den Erwartungen zu entsprechen und zu sein, wie eine Römerin sein sollte. Das hatte sie mittlerweile hinter sich gelassen, nicht zuletzt auch wegen einiger Erfahrungen, die sie mit dem Duccius gemacht hatte... Aber dennoch: jahrelang antrainierte Denkmuster ließen sich nur schwer komplett brechen, und obwohl ein Teil von ihr stolz war darauf, was sie erreicht hatte und wie, und obwohl sie auch wusste, dass das nur möglich gewesen war, weil sie eben nicht war wie jede Römerin... gab es doch selbst jetzt noch einen Teil in ihr, dem es immer noch ein bisschen unangenehm war, so bezeichnet zu werden.


    Davon allerdings versuchte sie sich nichts anmerken zu lassen. „Nicht sofort“, erwiderte sie zunächst auf die Frage, ob sie sich verliebt habe. Was brachte es auch, darum herum zu reden, wenn doch ohnehin offensichtlich war, warum sie diese Verbindung wollte. „Aber im Lauf der Zeit dann, als wir uns näher kennen lernten.“ Sie lächelte vage, drehte nachdenklich ihren Becher in den Fingern und unterdrückte eine Grimasse, als der Duccius seinen Finger von einer Wunde prompt in die nächste legte: ihre Familien. Nur ein leichtes Stirnrunzeln zeigte, dass das Thema so schwierig war, wie der Consular sowieso schon vermutete. „Sagen wir es mal so: nicht alle sind begeistert davon, aus unterschiedlichen Gründen, und einige davon waren bereits vorher abzusehen. Was mit ein Grund ist, warum wir sie vor vollendete Tatsachen gestellt haben“, gab sie letztlich relativ offen zu, ohne dabei allzu sehr ins Detail zu gehen.

    Seiana musste lachen, als sie sah wie sehr ihr Bruder grinste. Ein Teil von ihr wünschte sich, selbst das Verhältnis zu ihrem Kind zu haben, das Faustus hatte... diese überschäumende Begeisterung zu spüren. Aber es machte sie glücklich, dass er sich so freute, und dass er die Kleine so gern hatte.


    Die lockere, gelöste Stimmung verflüchtigte sich nahezu sofort, als Seiana ansprach, weswegen sie eigentlich hier war. Es tat ihr leid... sie hätte sich lieber erst mal weiter so mit ihm unterhalten, einfach Zeit mit ihm verbracht, seine Gesellschaft genossen. Aber sie hätte sich kaum darauf konzentrieren können... und sie wollte es hinter sich bringen. Gerade weil sie wusste, dass es schwierig werden würde, und Faustus enttäuschte sie dahingehend nicht. Sie holte tief Luft, als ihr Bruder sie bestürzt ansah und dann anfing zu reden. Befürchtet. Er hatte es befürchtet. Das Wort allein sagte schon alles. Seiana lehnte sich zurück und zwang sich, ruhig zu bleiben. Sich erst mal alles anzuhören, was Faustus zu sagen hatte, ihn nicht zu unterbrechen. Sie wollte hier keinen Streit vom Zaun brechen – sie stritten selten, aber wenn sie es taten, dann krachte es meistens richtig. Und das wollte sie wenn möglich vermeiden.
    Ihr Bruder machte es ihr allerdings nicht gerade leicht, still zu bleiben und abzuwarten, bis er fertig war. Wie schon beim letzten Mal, als sie über Seneca geredet hatten, nahm er kein Blatt vor den Mund, und er sagte Dinge, die sie nicht in Ordnung fand. Mehr noch, er beleidigte ihn regelrecht. Er schimpfte vielleicht nicht, aber das änderte nichts daran, dass seine Worte einer Beleidigung gleich kamen.


    Seiana musste mehr als einmal schlucken, und mehr als einmal sich auf die Zähne beißen, um sich daran zu hindern ihm nicht doch noch ins Wort zu fallen... aber es gelang ihr, still zu bleiben, bis zum Schluss, als Faustus auf den Duccius zu sprechen kam und sie schließlich bat, es nicht zu tun. Weil es die Familie zerreißen würde, angeblich. Spätestens bei diesen Worten verschloss sich ihre Miene. Bei allem, was sie für ihre Familie getan hatte, war es mehr als nur fair, dass sie nun etwas zurück bekam, fand sie. Mal ganz davon abgesehen, dass sie so ziemlich alles anders sah als ihr Bruder. „Da liegst du falsch, Faustus.“ Sie bemühte sich um Ruhe, bemühte sich darum, kontrolliert zu sprechen. Sich nicht aufzuregen, was sie am liebsten getan hätte. Sie sprach aber auch nicht an, dass er ihr eigentlich versprochen hatte, nicht mehr davon anzufangen, wenn er nur einmal Klartext reden durfte, und sie hat ihm da schon gesagt gehabt, dass sie nichts davon hören wollte. Stattdessen ging sie diesmal darauf ein. „Ich kann mich auf ihn verlassen. Das konnte ich immer. Und auch seine Männer konnten und können das. Du sagst, du hättest mal große Stücke auf ihn gehalten – warum hat sich das geändert? Weil du beleidigt bist, dass er später nicht zu dir kam? Wie viele Centuriones sind seitdem auf dich zugekommen, wie viele andere Menschen, und das bevor du wirklich rehabilitiert warst?“ Jetzt war der Moment gekommen, in dem es Seiana nicht mehr auf ihrem Stuhl hielt. Sie sprang nicht auf, so viel Beherrschung hatte sie, aber sie stand auf, und sie begann auf und ab zu laufen. „Was hättest du von ihm und dem Rest der Garde haben wollen, damals bei Vicetia? Wofür hätten sie sich deiner Meinung nach entscheiden sollen, als sie vor der Wahl standen sich abschlachten zu lassen oder aufzugeben? Glaubst du denn ernsthaft, er hätte sich diese Entscheidung so leicht gemacht? Noch dazu in einem Bürgerkrieg, wo es nicht gegen irgendwelche Barbaren ging, sondern gegen andere Römer? Hättest du wirklich deine Männer, alle deine Männer, blindlings in den sicheren Tod von Bruderhand geführt?“ Es gelang ihr immer weniger, so ruhig zu bleiben wie sie eigentlich wollte... dafür ging ihr das Thema zu nahe. Sie liebte Faustus, jahrelang war er ihr Fels in der Brandung gewesen, der einzige Mensch, dem sie vorbehaltlos vertraute. Genau deshalb tat es ihr so weh, dass er scheinbar nicht bereit war Seneca zu akzeptieren.
    „Und was den Duccius angeht: ich weiß beim besten Willen nicht, was du hast. Ich wusste es schon damals nicht. Er hat uns geholfen, Faustus. Ich habe mit ihm eine Abmachung getroffen, und er hat seinen Teil eingehalten. Im Gegensatz zu uns, möchte ich anmerken, aber das ist etwas, für das ich die Verantwortung übernehmen muss, weil er sich auf mein Wort verlassen hat. Aber ist dir eigentlich klar, was für ein verdammt großes Glück du hast heute überhaupt hier zu sitzen? Dass du nicht zum Tod verurteilt worden bist? Noch nicht mal zum Exil? Oder dass ich so unbeschadet aus der Sache heraus gekommen bin, trotz der Dinge, die ich in der Acta veröffentlicht hatte? Das haben wir dem Duccius zu verdanken, der sich für uns eingesetzt hat zu einem Zeitpunkt, als sich keiner mit unserer Familie auch nur blicken lassen wollte in der Öffentlichkeit. Die Decimi hätten sich wieder aufgerappelt – aber wir, du und ich, wir nicht. Was genau daran ist denn nun so großes Leid? Und bevor du von Onkel Magnus' Kindern anfängst: ich habe zugestimmt, weil ich mir sicher war und bin, dass sowohl du als auch Livianus der Meinung seid, dass Kinder zu ihrer Mutter gehören. Livianus hat seine eigenen Kinder bei ihrer Mutter in Britannien gelassen. Ihr beide hättet ohne zu zögern ja gesagt, hätte Venusia einen von euch direkt gefragt. Und wage es jetzt ja nicht mir etwas anderes zu erzählen. Genau darum ging es doch bei Silana auch.“

    Seneca sah sie nicht einmal an, als sie ihm erklärte was ihren Bruder umtrieb. Seiana schloss kurz die Augen und erlaubte sich, für einen winzigen Moment nur, sich zu wünschen die Dinge lägen anders. Aber es brachte nichts, sich zu wünschen oder auch nur daran zu denken, dass es einfacher sein könnte, also versuchte sie die Gedanken daran wieder zu vertreiben. „Ich weiß“, erwiderte sie leise. „Ich sage nicht, dass er Recht hat.“ Bei den Göttern, sie wusste sie ja nicht einmal wer Recht hatte. Oder ob man in seiner Angelegenheit wie dieser überhaupt davon sprechen konnte, auch wenn ihr Bruder das ziemlich eindeutig sah – in diesem Fall: alle anderen hatten ihn enttäuscht, verraten, verkauft. Eine Zeitlang hatte er wirklich die ganze Welt gegen sich geglaubt, so sehr, dass er noch nicht einmal hatte wertschätzen können was es bedeutete, dass er nicht mit dem Tod, nicht einmal mit Exil bestraft worden war. „Und ich sage erst recht nicht, dass es in Ordnung ist, wie lange er diesen Groll nun schon mit sich schleppt. Es tut ihm selbst nicht gut. Aber...“ Ein wenig hilflos zuckte sie die Achseln. „Ich wollte dich vorwarnen. Auch das wird nicht einfach.“ Unschlüssig und immer noch hilflos musterte sie ihn. Sie konnte sehen, dass ihn gerade etwas umtrieb, dass er an etwas zu knabbern hatte, und bei dem worüber sie gerade sprachen, war es nicht schwer sich zu denken, dass es um den Krieg ging. Aber sie wusste nicht so recht, was sie sagen sollte. Sie wollte ihm helfen, aber sie wusste nicht wie. „Wenn du... reden willst... Du weißt, dass du das mit mir kannst. Ja?“


    Die Erleichterung hielt immer noch vor, erst recht als er zustimmte, dass die decimischen Landgüter in den Albaner Bergen in Frage kamen. Das würde es um so vieles einfacher machen. Sie lächelte flüchtig und nickte. „Sehr gut. Dann machen wir das hier.“ Alles andere würde weniger ein Problem darstellen, die weitere Organisation konnte im Zweifel komplett Bediensteten übergeben werden. Was Seiana auch vorhatte, größtenteils jedenfalls. Sie verschränkte ihre Finger mit seinen und musste bei seinen nächsten Worten unwillkürlich erneut lächeln. „Mach dich nicht lächerlich. Was soll ich hier, wenn wir verheiratet sind und du in Mantua lebst? Wir finden dort irgendwas.“ Er hatte ihr gesagt, was Seiana zum nächsten Thema brachte, das nicht unbedingt einfach war... aber wenn sie schon dabei waren, konnte sie das auch gleich hinter sich bringen. „Und Silana kommt selbstverständlich mit. Nur... wir sollten irgendwann entscheiden, was wir mit ihr machen. Wir haben zwar noch Zeit, so lange sie so jung ist, aber trotzdem sollten wir das nicht zu lange aufschieben.“ Sie zögerte kurz. Sie hatte lange nachgedacht, wie sie es mit dem Mädchen anstellen sollten. Wie sie aufwachsen sollte, mit welchem Namen, welchem Status, welcher offiziellen Beziehung zu ihnen. Sie hatte über ihre eigenen Ideen nachgedacht, über Faustus' Vorschläge, hatte sie verworfen und wieder aufgenommen und wieder verworfen. Irgendeinen Nachteil gab es immer, bei jeder Variante. Was in ihren Augen zum eigentlichen Problem werden könnte war allerdings, dass sie befürchtete Seneca könnte diese Nachteile anders gewichten als sie, und deswegen ein völlig anderes Vorgehen wünschen als das, von dem sie glaubte dass es wohl das Beste war. „Wir könnten es so machen, wie ich es ursprünglich vorhatte: dass ich sie als Kind entfernter Verwandten von mir ausgebe, das ich in meine Obhut genommen habe, nachdem diese gestorben sind. Nach der Hochzeit, wenn einige Zeit vergangen ist und es keinem mehr seltsam vorkommt, könntest du sie dann adoptieren.“

    Seiana, die ohnehin schon recht wenig gegessen hatte, hörte auch auf damit. Sie musterte Seneca, der ziemlich gelassen zu sein schien... und fragte sich warum das so war. Warum schien ihm das so wenig auszumachen? „Es ist... mehr als nur eine Sache. Dass wir ein Verhältnis haben, gefällt ihm nicht. Weil er dein Vorgesetzter und es hinter seinem Rücken war. Weil es meinen Ruf zerstören kann.“ Womit Faustus ja auch Recht hatte. Anders als Seneca, dem ihre Affäre kaum weiter schaden würde, wenn es ans Licht kam. „Ich habe ihm gesagt, dass das ein Risiko ist dass ich selbst eingegangen bin, aber...“ Sie zuckte die Achseln und beendete den Satz nicht. „Das andere ist, dass es ihm immer noch nachhängt, wie mit ihm umgesprungen worden ist nach dem Bürgerkrieg. Er ist allein gelassen und enttäuscht worden, von vielen Menschen, und er... das denkt er auch von dir. Oder er projiziert es auf dich, ich weiß es nicht. In jedem Fall hat er das noch lange nicht verwunden.“
    Sie unterdrückte ein Seufzen – und noch einmal, als er von seiner Familie sprach. Ihr schwante nichts Gutes, was das betraf, aber sie wollte nicht wirklich darüber reden. Sie hatte ihn vorwarnen wollen, was ihren Bruder anging, weil er davon noch nichts wusste... aber mehr als das konnte keiner von ihnen tun. Es brachte nichts, sich vorher schon den Kopf zu zerbrechen. Sie nickte nur auf seine Worte hin, dass es nichts an der Verlobung ändern würde, und bemühte sich um ein Lächeln, das ihr aber nicht so wirklich gelingen wollte. „Das hoffe ich auch“, murmelte sie und trank etwas. Der Appetit war ihr irgendwie völlig vergangen.
    Als seine Hand in der Nähe der ihren zu liegen kam, überbrückte sie die letzte Distanz und berührte sacht seine Finger. Sie war erleichtert, dass er nichts dagegen hatte nicht in Rom zu heiraten – wie sehr, bemerkte sie selbst erst, als sie seine Zustimmung hörte. „Nein, das wäre es wohl nicht“, antwortete sie, und ihr Gesicht verschloss sich ein wenig, als er von seiner Casa sprach. Sie wollte dort nicht hin, wollte dort nicht leben. Sie wusste, dass das ungut war, aber sie konnte es auch nicht ändern. Zu viel war passiert. „Wir könnten hier oder auf dem Nachbarlandgut heiraten, je nachdem wie viele kommen. Gerade nebenan gibt es genug Platz zum Übernachten, wenn Gäste bleiben möchten oder müssen. Und... wohnen würden wir dann Mantua?“ versuchte sie vorsichtig die Tatsache zu umschiffen, dass sie ganz sicher nicht vorhatte in die Casa Iunia in Rom einzuziehen.

    Seiana begrüßte Seneca, als dieser kurze Zeit später erschien, und es dauerte nicht lange, bis nach dem Klopfen die Tür aufging und sie hinein geleitet wurden. Das ungefähr war der Moment, in dem sie doch ein wenig Unruhe verspürte... aber es verblasste im Vergleich zu ihrer Familie. Davon abgesehen war der Duccius zwar inzwischen Consular und gehörte zu den höchsten Kreisen in Rom – aber das änderte nichts daran, dass er und sie sich in mehr als nur einer – gelinde gesagt – ungewöhnlichen Situation schon begegnet waren. Vorstellig zu werden, weil sie gedachte seinen Klienten zu heiraten, war da nichts im Vergleich dazu.


    „Consular Duccius“, erwiderte sie mit einem höflichen Lächeln. „Hab vielen Dank für deine Einladung.“ Sie setzte sich in einen der Sessel und ließ sich von einem der Diener ein Wasser geben – von dem sie dann sofort einen Schluck trank, als sie hörte, wie der Duccius das Gespräch begann. Wider besseren Wissens hatte sie gehofft, irgendwie darum herum zu kommen davon erzählen zu müssen, wie sie sich kennen gelernt hatten. Aber natürlich ging es mitten hinein ins kalte Wasser. Mehr noch, der Duccius sprach recht unverblümt aus, dass er die Verbindung ungewöhnlich fand und warum... was sie eigentlich wohl nicht überraschen sollte. „Das ist eine Zeitlang her inzwischen. Kennen gelernt haben wir uns bei einer Durchsuchung der Acta, als Valerianus noch am Leben war.“ Genauer gesagt: der Casa Decima, aber das sagte sie nicht laut. Stattdessen setzte sie ein Schmunzeln auf, während sie Seneca einen flüchtigen Blick zuwarf – dass aus der Durchsuchung damals nun eine Ehe wurde, konnte man immerhin als amüsant betrachten. „Wir sind uns danach noch das ein oder andere Mal begegnet und haben uns angefreundet.“ Was noch keine Antwort auf die Frage nach dem Rangunterschied war. Die der Duccius zwar nicht im eigentlichen Sinn gestellt hatte... seine Worte aber doch auf eine Art formuliert hatte, dass das gar nicht nötig war. „Ich konnte mich immer auf ihn verlassen, was eine Eigenschaft ist, die man nicht bei jedem findet... und die mir im Lauf der letzten Jahre zunehmend wichtiger geworden ist.“

    Seiana war absichtlich um einiges früher gekommen, als sie mit Seneca vereinbart hatte. Sie nervös, schon wieder – sie hasste es, sich so zu fühlen, und sie hasste es, dass im Moment ein Termin den nächsten zu jagen schien, der sie sich so fühlen ließ. Und bei diesem hier war es erst recht kompliziert. Ihre eigene Familie kannte sie, und sie wusste halbwegs, woran sie war. Aber jetzt ging es um seine Familie, oder jedenfalls um einen seiner Verwandten. Einen weiteren, dem Seneca die Wahrheit erzählt hatte – was Seiana nicht gefiel, ganz und gar nicht. Erst recht nicht nach den Erfahrungen, die sie schon hatte machen müssen, weil er einer Person zu sehr vertraut hatte, die dieses Vertrauen nicht verdient hatte. Ihr Bruder Faustus war seit Kindheitstagen ihr engster Vertrauter... und sie hatte Jahre gebraucht, bis sie sich hatte durchringen können wenigstens ihm von Seneca zu erzählen. Jeder weitere, der Bescheid wusste, war einer zu viel in ihren Augen, aber sie konnte es nicht ändern, dass es noch mehr geworden waren. Sie wollte ihm keine Vorschriften machen. Sie hoffte nur, dass es sonst wirklich keinen mehr geben würde... auch wenn sie irgendwie zu bezweifeln wagte, dass Seneca wirklich klar war, dass ihr Risiko dabei ungleich höher war als seines. Entsprechend nervös war sie also. Aber da musste sie wohl durch, irgendwie... und in der Hoffnung, dass es so leichter würde, war sie früher in den Park gekommen und hatte es sich bequem gemacht mit einem Schriftstück – Satyricon, um genau zu sein, etwas von dem sie hoffte, dass es sie ablenken würde. Aber so recht konzentrieren konnte sie sich irgendwie nicht. Ein paar Mal schon hatte sie aufgesehen, hatte überlegt, ein Gespräch mit Álvaro anzufangen – auch wenn er nicht unbedingt der beste Gesprächspartner war, schweigsam und zurückhaltend wie er war, war er doch immer noch besser als Bran. Aber sie sagte dann doch nie etwas, sondern versuchte nur weiter zu lesen.


    Als Seneca mit seinem Verwandten dann endlich kam, wurden ihre Leibwächter als erstes auf sie aufmerksam – Álvaro gab nur ein leichtes Zeichen, eine vage Kopfbewegung, aber das genügte, damit auch Seiana Bescheid wusste. Sie sah erneut hoch und erhob sich dann, als die beiden Männer nahe genug gekommen waren. Sie lächelte Seneca zu, flüchtig, aber warm. „Ja, es ist ganz angenehm hier.“ Seiana berührte seine Hand, einen winzigen Moment zu lange, als dass es noch unauffällig gewesen wäre. Trotzdem viel zu kurz... und zugleich das einzige, was sie sich in der Öffentlichkeit leisten konnten – selbst hier, so abgeschieden wie sie waren. Sie wollte kein Risiko eingehen, Schwierigkeiten gab es auch so schon genug.
    Als sich ihre Hand von Senecas wieder löste, wandte sie sich seinem Verwandten zu, Iunius Avianus, und auch ihm lächelte sie zu, wenn auch deutlich vorsichtiger. „Salve, Iunius Avianus“, grüßte sie ihn, ein wenig verhalten, aber freundlich. „Ich freue mich, dich kennen zu lernen.“

    Sie betrachtete ihn mit einem Lächeln, während sie zusah, wie er aufwachte. „Mh“, machte sie, gespielt nachdenklich. „Nein... ich habe zumindest nichts davon gemerkt. Was aber nicht unbedingt was zu heißen hat.“ Sie setzte sich auf und strich ihm noch mal flüchtig über die Wange, bevor sie ganz aufstand und anfing, sich anzuziehen. Sie mochte es, irgendwie, mit ihm aufzuwachen. Vielleicht lag es daran, dass diese Gelegenheiten so selten waren, noch viel seltener als generell ihre Begegnungen... was sie plötzlich wieder daran erinnerte, was am vorigen Abend passiert war. Sie waren verlobt. Verlobt. Kurz hatte sie das Gefühl, als ob ihre Brust sich zusammenzog, eher aus Angst denn aus Freude, und für einen Augenblick hielt sie inne, sah Seneca an, als ob sie etwas sagen wollte... aber es kam dann doch nichts über ihre Lippen. Es war offensichtlich gewesen, gestern, dass er sich wenig Gedanken um die Schwierigkeiten machte, die auf sie warten würden, und sie wollte ihm die Freude nicht verderben. Aber ihr selbst fiel es, kaum dass sie wieder daran gedacht hatte, schwer sich nicht damit zu beschäftigen.
    Frühstück. Erst mal Frühstück. Sie gab den Sklaven Bescheid und ließ etwas herrichten, und unterhielt sich mit Seneca, über belanglose Nichtigkeiten, letztlich. Kleine Geschichten über das, was so passiert war. Sie hielt sich zurück, bis sie beim Frühstücken waren, sie beide allein, bevor sie schließlich anschnitt, was ihr auf dem Herzen lag: „Wir... sollten über ein paar Dinge reden, glaube ich.“ Er hatte gestern gesagt, dass er es nicht einfach wollte, aber Seiana war sich nicht ganz so sicher, ob ihm bewusst war, was auf sie zukommen konnte. Vielleicht sah sie es auch einfach nur zu schwarz, aber es fiel ihr schwer, das zu glauben. „Mein Bruder weiß inzwischen auch Bescheid. Er ist... nicht unbedingt begeistert von dir“, formulierte sie es vorsichtig. „Nur dass du vorgewarnt bist. Ich werde mit ihm und Livianus reden, ich weiß nur nicht, wie sie reagieren werden. Und ich...“ Sie zögerte einen Moment, dann fuhr sie fort: „Wenn es dir nichts ausmacht, möchte ich nicht in Rom heiraten.“ Es war nicht ihre erste Ehe, das wussten sie beide nur zu gut, und sie war sowieso im Begriff, ein paar Leute vor den Kopf zu stoßen mit ihrer Entscheidung. Sie hatte ja gesagt, weil sie endlich glücklich sein wollte, und weil sie glaubte, dass das mit Seneca gelingen könnte, trotz aller Widerstände. Aber Widerstände würde es so oder so geben – da würde es auch nicht mehr ins Gewicht fallen, wenn sie auf ein paar Traditionen verzichtete, auf die sie selbst ohnehin keinen Wert legte, jedenfalls nicht mehr.

    Seiana konnte nicht anders, sie musste grinsen, als Faustus gleich davon anfing Silana ein Pony zu schenken und einen Ziegenwagen. Das kam jetzt nicht wirklich überraschend, ganz im Gegenteil, aber trotzdem musste sie schmunzeln, über seine Worte und mehr noch über seinen Enthusiasmus, der in ihnen lag. Und sie war dankbar, weil für einen Moment ihre Nervosität weg war. „Sie wird dich vergöttern, wenn du das machst. Und Álvaro wird noch mehr aufpassen müssen...“ Aber Seiana hatte keinen Zweifel daran, dass ihm das gelingen würde. Und sie hatte auch nichts dagegen, dass Faustus ihrer Tochter solche Geschenke machte. Sie mochte stets so furchtbar unsicher sein, was Silana betraf, mochte nicht wirklich wissen, wie sie mit ihr umgehen sollte, um nur ja keinen Fehler zu machen, mochte nicht wissen was richtig und was falsch war. Ihr mochte vielleicht ganz generell jenes Gespür fehlen, dass so viele Mütter natürlicherweise zu haben schienen, wenn es darum ging mit ihrem eigenen Kind umzugehen. Aber das hieß nicht, dass sie ihr deswegen keine Freiheiten ließ. Schon gar nicht so lange sie noch so klein war und es sowieso keiner mitbekam. Ihr hatte es ja auch nicht geschadet, ganz im Gegenteil... manchmal glaubte sie, dass ihre Erinnerungen an ihre Kindheit, an jene Zeit bevor ihre Mutter sie an die Kandare genommen hatte, zu den wenigen Dingen gehört hatten, was sie in manchen Zeiten hatte durchhalten lassen.


    Was Faustus dann allerdings erzählte, ließ ihre Augenbrauen nach oben wandern. „Ist sie tatsächlich?“ fragte sie nach, überrascht und leicht amüsiert. Sieh einer an. Die Kaiserin auf einem Pferd, und das nach der Kaiserwahl. Da konnten sich freilich manche das Maul zerreißen wie sie wollten – als Kaiserin stand sie so sehr über solchen Dingen, dass ihr das nichts anhaben konnte. Ganz im Gegenteil. Sie musste erneut schmunzeln. „Wer weiß, vielleicht fangen es ja dann tatsächlich mehr an ihr nachzumachen. Dann muss Silana fleißig üben, auf ihrem Pony, das ich ihr ankündigen werde... wehe sie kriegt es dann nicht“, drohte sie ihm Spaß.
    Dann allerdings dachte sie wieder an Seneca, an die Verlobung, und sie wurde ernst. So wenig sie die Stimmung zerstören wollte... sie wollte das hinter sich bringen. Ein für alle Mal. „Hör mal, ich... ich muss mit dir etwas wichtiges besprechen.“ Sie holte tief Luft. „Seneca hat mir einen Antrag gemacht. Und ich habe ihn angenommen.“


    Sie schien nicht zu stören, jedenfalls machte Livianus keinerlei Anzeichen, dass es so sein könnte. Er klang auch ehrlich, als er ihr bedeutete einzutreten. Seiana lächelte vorsichtig, kam ganz in den Raum und schloss die Tür hinter sich. Und plötzlich, unwillkürlich, musste sie an das letzte Mal denken, als sie mit ihm über eine Verlobung geredet hatte. Um Archias war es damals gegangen, und sie hatte mit Faustus vor ihrem Onkel gestanden. Und auch damals hatte Faustus nichts von dem Mann gehalten, den sie ausgesucht hatte... nur mit dem Unterschied, dass er damals absolut richtig gelegen hatte mit seiner Ansicht, dass Archias zu nichts getaugt hatte.


    Seiana näherte sich ihrem Onkel weiter, ging so um ihn herum, dass sie sich bequem ansehen konnten. Die Erinnerung an damals half ihr gerade nicht wirklich. Aber seitdem war viel Zeit vergangen. Sie war lange nicht mehr so jung. Lange nicht mehr so unerfahren. Trotzdem wusste sie nicht so recht, wie sie jetzt vorbringen sollte, was sie sagen wollte. Sie schwieg auf seine Frage hin, zu lange, als dass es unauffällig gewesen wäre, aber sie wusste einfach nicht, wie sie anfangen sollte. „Ich habe mich verlobt“, platzte es schließlich aus ihr heraus. Und spürte prompt, wie eine leichte Röte ihre Wangen überzog. Hier stand sie, ehemalige Auctrix, ehemalige Rectrix, Ritterin des Imperiums. Und fand keine besseren Worte, um ihrem Onkel mitzuteilen, dass sie wieder heiraten wollte. „Entschuldige bitte, dass ich mit der Tür so ins Haus falle. Aber ich... ich hatte viel Zeit nachzudenken, seit ich mich in die Albaner Berge zurück gezogen habe. Ich möchte nicht mein ganzes Leben allein verbringen, und ich...“ Wie sollte sie das jetzt am besten formulieren? Sie presste kurz die Lippen aufeinander. „Ein Bekannter... guter Bekannter hat mir einen Antrag gemacht. Es handelt sich um einen Verwandten deines Klienten Iunius Silanus – den Tribunus Angusticlavius der I, Iunius Seneca. Ich hoffe sehr, dass du diese Verbindung gutheißt.“ Ihr lag wirklich viel daran, wenigstens sein Wohlwollen zu haben.

    „Hat Faustus das.“ Seiana lächelte Valentina zu, auch wenn sie unschlüssig war, wie sie reagieren sollte. Sie war nicht gut in darin, sich auf einer so persönlichen Ebene mit jemandem zu unterhalten, den sie nicht kannte – jetzt, nach all der Zeit fern von Rom, von jeglicher Gesellschaft außer der von Sklaven und Dienern und Leibwächtern. Aber es ging hier um die Verlobte ihres Bruders. Sie musste es wenigstens versuchen. „Es ist nie einfach, wenn man die Stellung der Familie allein halten muss. Noch dazu als Frau. Wie kam es bei dir dazu?“
    Erfreut stellte sie fest, dass Valentina ihr Geschenk zu gefallen schien. Auch das war nicht so einfach, jemandem etwas zu schenken, den man nicht kannte, und noch dazu wenn man so wenig Vorwarnung hatte... noch dazu wenn man wie sie eigentlich nicht gern einkaufen ging. Seiana hatte am Ende einfach einen Sklaven beauftragt, ein paar Dinge auszusuchen, aus denen sie dann die letzte Wahl hatte treffen können. „Es freut mich, dass es ihr dir gefällt.“ Die Farben würden ihr auch gut stehen, so wie sie aussah, vor allem das Blau passte sehr gut zu ihr.


    Als Faustus sich dann wieder zu ihnen gesellte, mit einem Mann im Schlepptau, wandte Seiana sich wieder ihm zu. „Du bekommst auch noch was“, schmunzelte sie flüchtig, verriet ihm aber noch nichts davon. Als er ihr dann den Mann an seiner Seite vorzustellen begann, zog Seiana ganz leicht eine Augenbraue hoch. Sie hatte schon einen Verdacht gehabt, wer das sein könnte, den er ihr unbedingt vorstellen wollte, allerdings... ein flüchtiger Blick traf Valentina, die sich dann einem anderen Gast zuwandte, bevor Seiana wieder ihren Bruder ansah. Für einen Moment fragte sie sich, wie viel Faustus' Verlobte wusste. Was da genau dahinter steckte. „Borkan, nehme ich an.“ Faustus hatte keinen Namen gesagt, aber das war auch nicht nötig, Faustus hatte ja schon von ihm geschwärmt. Sie lächelte ihn an, aufrichtig, und reichte ihm die Hand. „Ich freue mich sehr, dich endlich kennen zu lernen. Mein Bruder hat schon einiges erzählt von dir.“
    Wie die anderen auch lauschte sie, als ein Lied erklang, und merkte dann auf, als Faustus sagte wer da die Künstlerin war. „Carmelita? Caius' Carmelita?“ fragte sie nach.

    Seiana hatte das Gefühl, dass es gar kein Ende nahm mit den Terminen. Eigentlich waren es nicht viele, eigentlich war das hier erst der dritte... aber wenn man bedachte, dass sie in der vergangenen Zeit gar keine gehabt hatte, war das trotzdem eine Menge. Dazu kam, dass das Thema für sie eher ein unangenehmes war. Sie wollte Seneca heiraten, ja – aber sie hatte das Gefühl, sich dafür rechtfertigen zu müssen, und das gefiel ihr nicht. Davon abgesehen mochte sie es nicht, wenn sie im Mittelpunkt war, und das ließ sich bei einer Hochzeit kaum vermeiden, wenn sie es war, die heiratete. Nein... wirklich besser würde es ihr wohl erst gehen, wenn die Sache vorbei war.
    Heute also stand Duccius Vala auf der Liste, Senecas Patron. Seneca hatte ihr eine Nachricht zukommen lassen, dass dieser sie beide zu sehen wünschte, und so standen sie nun heute hier, wenige Tage nachdem Seiana in Rom angekommen war. Sie sahen sich zum ersten Mal, seit sie auf dem Landgut gewesen waren, immerhin galt es nach wie vor nach außen gewisse Grenzen zu wahren, und davon abgesehen hatte sie bisher gar nicht wissen wollen, was wohl seine Familie gesagt hatte. Von all diesen Menschen war der Termin mit dem Duccius wohl noch der einfachste, vermutete Seiana... es gab keinen Grund, warum er etwas dagegen haben könnte. Weswegen sie zur Abwechslung nicht wirklich nervös war, nun hier zu sein und darauf zu warten, dass sie eingelassen wurden, nachdem einer ihrer Leibwächter, die sie begleiteten, geklopft und sie dem Ianitor angekündigt hatte.

    Seiana seufzte, als er sie berührte. So lange. Es war so lange her, und sie hatte so oft versucht sich einzureden, nichts zu erwarten, wenn sie sich wieder sahen. Trotzdem hatte sie freilich gehofft, dass sich eben nichts geändert haben würde, und dass sich das erfüllte, mehr als das sogar, begann sie nun mehr und mehr zu realisieren – nicht nur vom Verstand her, sondern tief in ihrem Inneren. Sie genoss jedes seiner Worte, jede seiner Berührungen und Bewegungen. Immer noch war es ein bisschen unfassbar für sie, wie Seneca es schaffte, dass sie sich so gehen lassen konnte bei ihm, es so genießen konnte, wenn sie beieinander waren. Sie hatte es mittlerweile aufgegeben sich zu fragen warum das so war – irgendwann nachdem sie aufgegeben hatte, sich dagegen zu wehren. Und dass er genauso glücklich wirkte wie sie, machte es irgendwie noch besser.


    Als sie am nächsten Morgen wach wurde, spürte sie sofort, dass etwas anders war. Sie wachte nicht nur mit dem Gedanken auf, dass Seneca da war, sondern spürte, dass er mit ihr im Bett lag, auch wenn sie im Lauf der Nacht den Körperkontakt verloren hatten, weil Seiana dann doch lieber ohne Berührung schlief. Trotzdem war es etwas anderes, ganz allein im Bett zu liegen, oder noch jemanden neben sich zu haben... Sie drehte sich um, wandte sich ihm zu und küsste ihn leicht. „Guten Morgen. Gut geschlafen?“ Sie lächelte flüchtig und richtete sich dann auf. „Möchtest du Frühstück?“

    Seiana wartete, aber es kam keine Reaktion – auch nicht auf ein nochmaliges Klopfen. War Faustus überhaupt schon nach Hause gekommen? Sie war so lange nicht mehr hier in Rom gewesen, eingeengt von gesellschaftlichen Zwängen, dass sie ganz vergessen gehabt hatte erst mal einen Sklaven zu fragen.
    Gerade wollte sie sich abwenden, als sie ihren Bruder den Gang entlang auf sich zukommen sah, und unwillkürlich erwiderte sie sein Lächeln freudig – während sich zugleich ihr Magen ein bisschen zusammenzog. Götter, sie war tatsächlich nervös. „Gerne, deswegen bin ich hier.“ Sie umarmte ihn zur Begrüßung und lächelte erneut, diesmal ein kleines bisschen gezwungener, während sie versuchte ihre Nervosität in den Griff zu kriegen.
    „Kein Problem“, versicherte sie ihm, als er davon sprach es sei nicht aufgeräumt, und sie meinte das auch so... eigentlich. Als sie dann aber eintrat und sah, was für ein Chaos sich in dem Zimmer hinter der Tür ausgebreitet hatte, fehlten ihr dann trotzdem für einen Moment die Worte. Sie wusste ja, dass Faustus etwas chaotisch war... aber bisher hatte es doch immer ganz anders hier ausgesehen. Hatte er keinen Sklaven, der hier ab und zu aufräumte? Es war aber auch nicht weiter wichtig, also folgte sie ihrem Bruder nur ganz hinein und setzte sich auf den Platz, den er ihr freiräumte.
    „Silana geht es sehr gut. Sie lernt ständig irgendwas Neues, habe ich das Gefühl.“ Seiana legte ihre Hände in den Schoß, locker, und konzentrierte sich darauf sie dort zu halten. Locker. Sie war nervös, das ja, aber sie wollte nicht dass ihr das anzumerken war – jedenfalls nicht allzu sehr. „Álvaro bringt ihr das Reiten bei. Naja, beibringen ist vielleicht zu viel gesagt, aber sie saß zumindest schon öfter auf dem Pferderücken, und sie findet es großartig.“ Auch wenn Römerinnen nicht reiten sollten... aber in Hispania hatten sie es alle gelernt. So lange Silana später einmal wusste, wann sie es zu unterlassen hatte, sah Seiana darin wenig Probleme.

    Zitat

    Original von Marcus Decimus Livianus
    Ein Sklave war gerade dabei den Decimer aus seiner Amtstoga zu schälen, als es an der Türe klopfte. Wärend der Skalve unbeirrt weitermachte, wandte sich Livianus mit seitlich ausgestreckten Armen der Türe zu.


    "Ja bitte!"


    Als sie herein gebeten wurde, öffnete Seiana die Tür und trat ein – und erstarrte dann zunächst für einen Moment, als sie sah, wo sie gerade hinein geplatzt war. „Onkel...“ Sie zögerte einen Moment, unschlüssig, was sie tun sollte. „Verzeih bitte, ich wollte dich nicht stören. Hast du einen Augenblick Zeit für mich? Gerne auch später, wenn es dann besser passt für dich.“

    Am Tag nach Faustus' Verlobungsfeier suchte Seiana nicht nur ihren Bruder auf, sondern auch ihren Onkel – mit dem gleichen Anliegen. Und obwohl sie davon ausging, dass Livianus der leichtere Part werden würde... aufgeregt war sie trotzdem. Aber es führte ja kein Weg daran vorbei – Faustus und Livianus waren die beiden, die sie definitiv informieren musste. Also klopfte sie nach kurzem Zögern an.

    Die strahlende Begrüßung ihres Bruders trug einiges dazu bei, dass Seiana sich zumindest für den Moment deutlich wohler fühlte. „Natürlich konnte ich das, bei dem Anlass.“ Sie umarmte ihn und hielt ihn für einen Moment länger fest, als nötig gewesen wäre, bevor sie sich Valentina zuwandte und sie anlächelte. „Es freut mich sehr, deine Bekanntschaft zu machen. Du weißt vielleicht, dass ich schon seit längerem nicht mehr direkt in Rom lebe, sonst hätten wir uns sicher schon früher kennen gelernt.“ Geistesgegenwärtig griff sie zu, als Faustus ihr einen Kelch in die Hand drückte, und musste schmunzeln, als er ihr einen Blütenkranz aufsetzte. Aufgedreht war er, sie konnte sich gar nicht erinnern wann sie ihn zuletzt so erlebt hatte.
    „Die Reise war in Ordnung. Wir hatten nur ungefähr nach der Hälfte ein Problem mit einer Achse, weshalb ich erst jetzt komme...“ Sie nickte flüchtig, verständnisvoll, als er davon sprach wie es war mit dem Strom zu schwimmen. Sie wusste, was er meinte, hatte es selbst erlebt, wenn auch nicht ganz so wie er. Sie hatte viel früher als er versucht sich anzupassen.
    Als er ging, sah sie ihm kurz hinterher, dann wandte sie sich wieder an Valentina, während sie einem ihrer Sklaven, der sie herein begleitet hatte, einen Wink gab. Valentina bekam ein Päckchen überreicht, in dem sie eine Palla aus feinstem Seidenstoff vorfinden würde, die in sacht schimmernden Blau gehalten war, mit leichten Übergängen ins Grünliche an den Rändern. „Herzlichen Glückwunsch noch mal. Ich hoffe, es gefällt dir.“

    „Ich weiß“, erwiderte Seiana leise, als Faustus seinen Satz nicht beendete. Natürlich wusste sie es. Ein unehelich geborenes Kind hatte es nie einfach, aber ein Mann es mit nach Hause brachte und beschloss es anzuerkennen, würde das keinen Skandal auslösen. Anders als bei einer Frau. Deswegen hatte sie sich ja so viel Mühe gegeben, hatte alles danach ausgerichtet, dass nur ja nichts bekannt wurde. Sie hatte lange Zeit sogar mit dem Gedanken gespielt, Silana ganz fortzuschicken, auf irgendein entferntes Landgut in irgendeiner entfernten Provinz, mit der sie kaum in Verbindung gebracht werden konnte, außer gelegentlichen Briefen und Berichten. Was sie daran letztlich gehindert hatte, war ein Gespräch mit Seneca gewesen.
    Als Faustus dann weiter sprach und dabei recht heftig wurde, warf Seiana ihm einen halb überraschten, halb schockierten Blick zu, und sie begann die Stirn zu runzeln. „So war das nicht“, erwiderte sie. „Er hätte mich geheiratet. Ich war die, für das nie in Frage kam.“ Jetzt schlich sich etwas Bitterkeit in ihre Stimme. „Weil er 'nur' Centurio war. Weil ich es für wichtiger hielt, was die Leute denken könnten, und für einfacher machbar, einfach rechtzeitig unterzutauchen, damit niemand etwas mitbekommt.“ Sie presste die Lippen aufeinander. Sie wollte eigentlich nicht wirklich hören, was sie davon ihrem Bruder zu hören bekam über Seneca. Es gab keinen, der ihr näher stand als diese beiden Männer, und sie wollte sich nicht anhören, wie der ausgerechnet einer von diesen beiden den anderen schlecht machte. „Du hast recht“, erwiderte sie kurz angebunden. „Ich will das nicht hören.“
    Eine ganze Weile verging danach in Schweigen... und Seiana bereute halb, dass sie Faustus so abgefertigt hatte, seine Bedenken nicht ernst nahm. Aber wie sollte sie das? Was er über Seneca dachte, war falsch. Faustus mochte enttäuscht sein von seinem Verhalten bei Ende des Bürgerkriegs, davon dass er sich ergeben hatte, aber sie fand es ungerechtfertigt, deswegen einen solchen Groll zu entwickeln. Sie beschlich eher das Gefühl, dass Faustus bei jedem Mann, der ihr irgendwie nahe stand, einen Grund fand, ihn nicht zu mögen, egal was es war. Zumindest hatte es inzwischen genug Männer gegeben, dass sich da ein Muster zu zeigen begann. Aber sie sagte nichts davon laut. Was sie stattdessen nach einer Weile des Schweigens sagte, war: „Ich will mich nicht mit dir streiten.“ Das wollte sie wirklich nicht, schon gar nicht jetzt, wo sie sich nach längerem erst wieder sahen, und wo er für einige Zeit bleiben würde. Davon abgesehen hatte sie immer noch das Gefühl, dafür gar nicht so wirklich die Kraft zu haben. „Können wir das Thema einfach lassen? Bitte... noch hat das alles ja sowieso Zeit.“ Und Faustus tat ihr den Gefallen – für den restlichen Ritt und auch die Tage, die er bei ihr blieb, schnitten sie dieses Thema nicht mehr an.

    Ein Lächeln glitt über Seianas Gesicht, als sie Senecas Worte hörte. Auch wenn sie sich manchmal wünschte, sie könnte sich verführerischer geben – nicht allgemein, aber ihm gegenüber –, brauchte sie es offenbar nach wie vor nicht. Auch das war etwas, was sie an ihm liebte, dass er nichts von ihr wollte, was sie nicht war, und dass es reichte, wenn sie einfach sagte was sie wollte. „Ich liebe dich auch“, murmelte sie, kurz bevor sich ihre Lippen trafen, und danach sah sie ihm erst mal einfach dabei zu, wie er sich bis auf den Schurz auszog. Sie hatte ihn so lange nicht gesehen. Sie wollte es genießen, dass er jetzt da war. Vorfreude machte sich in ihr breit, nicht nur wegen des heutigen Abends, sondern zum ersten Mal seit er ihr den Antrag gemacht hatte auch wegen der Zukunft. Wenn sie alles irgendwie würden lösen können... dann könnte sie ihn immer haben. Kein Versteckspiel mehr. Kein monatelanges Warten. Keine Unsicherheit, wie es weiter gehen sollte, wo sie standen, was sie füreinander waren. Sie würden einfach zusammen gehören, offiziell und ohne dass jemand etwas dagegen haben konnte. Der Gedanke war traumhaft.
    Sie kam ihm entgegen, als er dann auf sie zuging, hob eine Hand und berührte ihn, strich über seine Haut, seine Narben, bevor sie ihn erneut küsste, sacht zuerst, dann drängender. Sie wollte ihn, daran hatte sich nichts geändert in all der Zeit, wollte ihn spüren, seine Nähe, seine Berührungen, und es dauerte nicht lang, da lagen auch die letzten Kleidungsstücke am Boden, während sie irgendwie auf dem Bett gelandet waren.

    Am späten Nachmittag, einen Tag nach der Verlobungsfeier ihres Bruders, als all die Menschen das Haus wieder verlassen hatten und Ruhe eingekehrt war, ging Seiana zum Cubiculum ihres Bruders. Sie hatte sich noch überlegt, ob sie gleich am gestrigen Tag noch mit ihm sprechen sollte, weil sie wusste, dass sie die Nacht kaum würde schlafen können, wenn sie bis zum nächsten Tag wartete. Sie erinnerte sich noch zu gut daran, was Faustus von Seneca hielt... und sie wollte es hinter sich haben. Aber es war wohl unfair, ihrem Bruder am Tag seiner Verlobung mit einer Nachricht zu kommen, von der sie wusste, dass er nicht begeistert sein würde. Nicht dass es so war, dass für Faustus der Tag seiner Verlobung einer der glücklichsten Tage seines Lebens war... was auch immer er Valentina erzählt hatte, was auch immer die Geschichte dahinter war, das hier war zumindest für Faustus nur eine Fassade. Trotzdem entschied Seiana sich letztlich dafür, zu warten.
    Tatsächlich hatte sie kaum ein Auge zu getan. Es war etwas anderes, auf ihrem Landgut zu warten, mit gehörigem Abstand zu Faustus, Livianus und den anderen, oder hier, wo sie mit ihrer Familie unter einem Dach war. Trotzdem zögerte sie auch jetzt noch ein letztes Mal, als sie bereits vor der Tür stand. Es fiel ihr nicht leicht, sich das einzugestehen, aber ihr war nicht wohl, wenn sie an Faustus' mögliche Reaktion dachte. Sie war nervös, und als sie jetzt so dicht vor seiner Tür stand, wollte sie am liebsten wieder gehen. Aber irgendwann musste sie es sich hinter sich bringen, und so klopfte sie.

    Seiana wollte nicht wirklich nach Rom. Sie hatte sich nun so lange zurückgezogen... und sie scheute davor zurück, sich wieder dorthin zu gehen, selbst wenn es nur für ein paar Tage war. Sie verknüpfte mittlerweile zu viele schlechte Erinnerungen mit der Stadt, zu viele davon in der Zeit kurz bevor sie regelrecht geflüchtet war. Und ihr gefiel der Gedanke nicht unter Menschen zu sein, vielen Menschen. Das war etwas, was sie noch nie so recht hatte leiden können, wenn zu viele Personen um sie herum waren, aber nachdem sie nun Monate um Monate um Monate auf abseits gelegenen, kleinen Landgut verbracht hatte, hatte sich das eher noch verstärkt. Und dazu kam nun natürlich, dass ihr ein paar unangenehme Gespräche bevorstanden, denen sie auch lieber aus dem Weg gegangen wäre... Aber nichts davon ließ sich vermeiden. Die Verlobungsfeier ihres Bruders wollte sie sich nicht entgehen lassen, und auch was den Rest anging: sie war eine Decima. Es ging ja noch an, dass sie Rom generell den Rücken gekehrt hatte, um außerhalb der Stadt zu leben, aber sich vor Herausforderungen wegducken, nur weil sie sie in die Stadt zurückführten, das war nicht sie. Auch wenn es sie Überwindung kostete, mehr, als sie vorher gedacht hätte.
    Daran lag es letztlich auch, dass sie ein wenig zu spät kam. Sie hatte ursprünglich vorgehabt, schon einen Tag früher herzukommen, hatte die Fahrt hierher dann aber doch auf heute verschoben – und prompt hatte es Probleme auf der Straße gegeben und die Fahrt hatte länger gedauert. Als sie das Peristyl schließlich betrat, musste sie feststellen, dass schon recht viele Menschen da waren, und Seianas Gesicht wurde zu einer freundlichen Maske, die sie früher noch viel perfekter beherrscht hatte, um nur ja nicht zu zeigen, dass sie sich unwohl fühlte. Sie wartete geduldig im Hintergrund, bis sie zumindest das Gefühl hatte irgendeine Lücke tat sich auf, bevor sie zu ihrem Bruder ging und ihn flüchtig umarmte. „Alles Gute, Faustus“, wünschte sie ihm leise, bevor sie sich mit einem Lächeln an die Frau neben ihm wandte: „Und du bist Valentina? Auch dir herzlichen Glückwunsch zur Verlobung.“