Beiträge von Decima Seiana

    Ob alles in Ordnung war? Seiana wusste es nicht. Sie wusste es einfach nicht. Das Eis in ihr ließ nicht zu, dass sie solch profane Dinge hätte überprüfen können. Fast war sie versucht, Arme und Beine zu bewegen, um ihre Körperfunktionen zu testen und wenigstens in dieser Hinsicht feststellen zu können, dass sie in Ordnung war. Sie fühlte sich in Ordnung an. Da war nur diese Starre, diese Taubheit, diese Eiseskälte in ihrem Inneren…


    Und dann kam Caius auf ihren Bruder zu sprechen. Faustus. Ihr Faustus. Der nach Ägypten reisen würde. Der sie allein ließ, in wenigen Tagen schon. So wie Caius sie jetzt allein ließ. Sie würde niemanden haben, niemanden mehr… Und wieder gab es ein, zwei Momente, in denen ihr schwindelte. Begeistert. Faustus würde begeistert sein, meinte Caius. Da lag er vermutlich richtig. Mehr noch: Faustus würde ihr vermutlich sagen, dass er Recht gehabt hatte. Dass er es hatte kommen sehen. Dass Caius keine Ehre hatte und weder sie noch ihre Familie je mit Respekt behandelt hatte. Und das war etwas, womit Faustus wohl richtig lag. Nur, Seiana wollte das nicht hören. Seiana wollte sich nicht anhören müssen, dass er, Faustus, es doch gleich gesagt hatte, und dass sie, Seiana, es damit gar nicht anders verdient hatte. Und all die Streits, die sie mit ihrem Bruder wegen Caius gehabt hatte… Umsonst. Für nichts und wieder nichts. „All die Streits mit ihm, wegen dir…“, murmelte sie vor sich hin. „Alles… umsonst. Umsonst…“

    Seianas Augen weiteten sich, als Caius plötzlich den letzten Schritt zwischen ihnen überwand und sie in den Arm nahm. Sie konnte sich nicht erinnern, wann er sie das letzte Mal so in den Arm genommen hatte. Und sie konnte damit nicht umgehen. Ganz leicht, minimal nur, erzitterte ihr Körper. Er hatte ihr gerade gesagt, er wollte die Verlobung lösen. Er sagte ihr, er wisse es. Wisse, dass sie nach Ägypten gereist war. Für ihn. Seiana glaubte, dass er keine Ahnung hatte, was das letztlich bedeutet hatte für sie. Was für ein Schritt es gewesen war. Den sie für ihn getan hatte. Caius lebte sein Leben stets mit einer Leichtigkeit, die der Hauptgrund gewesen war, warum er ihr so attraktiv erschien, bis heute, warum sie ihn so mochte. Diese Leichtigkeit trug ihn durchs Leben. Er war einfach zu Meridius gegangen und hatte mit ihm geredet, wegen ihr, ohne irgendetwas in der Hinterhand zu haben. Und hatte sich dabei kaum Gedanken gemacht. Sie war völlig anders. Sie konnte so etwas nicht. Solche Dinge waren für sie immer ein Riesenschritt, und genau so etwas war die Reise, der Umzug nach Ägypten für sie gewesen.


    Wie erstarrt stand sie da. Rührte sich nicht. Spürte seine Hände auf ihrem Rücken und an ihrem Kopf. Und plötzlich war da der Gedanke in ihrem Kopf, dass seine Hände dort nichts mehr zu suchen hatten. Nirgendwo an ihrem Körper. Das einzige, was sie ihm nicht gegeben hatte, obwohl er mehr als einmal versucht hatte, es zu bekommen. Sie versteifte sich, noch mehr als ohnehin schon. Und trat dann einen Schritt zurück, und dann noch einen. Plötzlich fror sie. „Betrachte die Verlobung als aufgelöst“, wisperte sie.

    Wie so häufig in letzter Zeit – und noch häufiger in den letzten Tagen –, war Seiana gerade damit beschäftigt, für ihre Kurse zu lernen, als einer der Sklaven, die dem Ianitor halfen, zu ihr kam und sie davon unterrichtete, dass Iunia Axilla da sei und sie zu sprechen wünsche. Und sie erstarrte. Rührte sich nicht. Bemühte sich einfach nur, das Gefühl durchzustehen, als ob sie ein weiteres Mal in dieses endlose Eismeer eingetaucht sei, das dieser Tage ein fortwährender Bestandteil ihrer Selbst zu sein schien. Es gab Momente, in denen sie es schaffte, sich darüber zu erheben – sogar nicht wenige. Immer dann, wenn sie in Gesellschaft war. Sie aß, sie trank, sie redete und lachte sogar hin und wieder, übte sich in eiserner Beherrschung und ließ sich nichts anmerken von dem, was in ihr vorging. Das war der deutliche Vorteil an dieser ganzen elenden Geschichte: dass sie ihre Selbstbeherrschung nun tatsächlich zu perfektionieren begann. Denn in ihr sah es vollkommen anders aus. Eine zerklüftete Eislandschaft formte ihr Inneres, rau, abweisend, lebensfeindlich. Sie war irgendwo mitten darin, einsam, allein gelassen. Es funktionierte so, sie funktionierte so. Nur manchmal brach die Eisdecke unter ihr auf, tat sich ein Abgrund auf, der sie verschlang, sie eintauchen ließ in die eisige Tiefe unter dieser Landschaft, und in diesen Moment war ihr anzumerken, dass etwas nicht stimmte – nicht weil sie dann zusammengebrochen wäre, sondern weil ihr in diesen Augenblicken jegliches Leben zu fehlen schien. Sie hätte eine Puppe, eine Statue sein können, so viel Wärme und Leben haftete ihr in solchen Momenten an.


    Genauso saß Seiana jetzt da. Erstarrt. Eisig. Beinahe leblos. Der Sklave räusperte sich, einmal, zweimal, ein drittes Mal, sagte schließlich etwas, aber immer noch reagierte sie nicht. Er bekam schon Angst und überlegte, ob er jemanden holen sollte, aber gerade als er einen letzten Versuch startete, sie auf sich aufmerksam zu machen, rührte sie sich doch. „In Ordnung. Du kannst gehen. Kümmer dich darum, dass für Getränke gesorgt ist, falls es noch nicht geschehen ist.“ Sie erhob sich, nicht steif, wie ihre vorige Haltung hätte vermuten lassen, sondern mit einer sonderbaren Form müder Eleganz, und machte sich auf den Weg ins Atrium, wo Axilla bereits auf sie wartete. „Iunia“, grüßte sie sie förmlich. Das Eis in ihrem Inneren verschwand einfach nicht. Ließ kaum eine Regung zu. „Wie kann ich dir behilflich sein?“ Was verschafft mir die Ehre wäre ihr dann doch zu zynisch vorgekommen, obwohl ihr genau das auf den Lippen gelegen hatte – ohne jeden Zynismus. Es wäre einfach nur eine Standardformel gewesen. „Etwas zu trinken?“ bot sie ihr noch an, als ein Sklave mit einem Tablett auftauchte.

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    Marcus musterte die Besucher eingehend. Und zuckte dann leicht die Achseln. „Ihr könnt im Atrium warten. Sie ist im Haus, ich werde jemanden schicken, der ihr Bescheid gibt und anfragt, ob sie Zeit hat.“ Sprachs und tat. Und dann schnappte er sich einen anderen Sklaven und trug ihm auf, den Besuch ins Atrium zu führen.

    Seianas Augenlider waren ein wenig herabgesunken, was mehr als alles andere ein Zeichen dafür war, wie erschöpft sie tatsächlich war – andernfalls hätte sie ein derart deutliches Signal der Unaufmerksamkeit gegeben, selbst Caius nicht. „Mhm“, machte sie nur auf den Kommentar mit dem Abend hin. Und dann, als es ums Gehen ging, noch mal: „Mhm…“ Und dann öffnete sie die Augen und hob den Kopf, musterte ihn für einen Augenblick und schwankte zwischen Genervtheit und Amüsement. Sie entschied sich für letzteres. Sie hatte jetzt nicht den Nerv, sich schon wieder mit ihm anzulegen, und nach diesem anstrengenden Abend wollte sie nicht ins Bett gehen und sich schlecht fühlen, weil Caius und sie schon wieder missgestimmt waren. „Mein lieber Caius, ich bin bei dir.“ Sie grinste leicht. „Und bald werde ich ganz bei dir sein. Das weißt du.“ Sie erhob sich, neigte sich zu ihm und gab ihm einen Kuss. „Gute Nacht, Caius“, sagte sie leise, bevor sie zu ihrem Zimmer ging und sich schlafen legte.

    Sie registrierte, dass er näher kam, aber sie rührte sich nicht. Sie spürte nicht einmal den Impuls, ihm auszuweichen, spürte so wenig in ihrem erstarrten Inneren, dass sie noch nicht einmal sagen konnte, ob dieser Impuls irgendwo in ihr doch schwach aufleuchtete oder nicht. Sie hörte, was er sagte. Ich hab dich gern. Sie starrte vor sich hin, ohne wirklich zu sehen, was vor ihren Augen war. Erstklassig. Perfekt. Schnell wieder einen. Warum schien Atmen auf einmal so mühsam zu sein? So als ob die Luft erst qualvoll durch eine zu enge Röhre gesogen werden müsste, bevor sie tatsächlich in den Lungen ankam… Nie so tief. Für endlos lange Momente nahm der Schwindel zu, wurde stärker. Aber sie wankte nicht. Mit eiserner Selbstkontrolle, die in diesem Augenblick viel mehr aus der Starre in ihrem Inneren gespeist wurde denn aus tatsächlich bewusster Beherrschung, verhinderte sie, ihr Körper, dass sie wankte. Sie stand einfach nur da, und eine Statue hätte regloser nicht sein können.


    „Ich bin nach Ägypten gereist. Für dich“, wisperte sie. Alles hatte sie hier stehen und liegen lassen, hatte ihre Familie vor den Kopf gestoßen, nur um zu ihm zu kommen, nur um ihm die Chance zu geben, die er hatte haben wollen. Hatte ihr Leben hier in Rom aufgegeben, noch bevor sie es wirklich hatte einrichten können. Hatte die Chance aufgegeben, einen anderen Mann zu finden… als sie noch jünger gewesen war. Aus dieser Perspektive betrachtet – die er selbst angebracht hatte – hatte sie ihm Jahre ihres Lebens geopfert. Nur damit er sich eine andere suchen konnte, weil sie ihm nicht mehr passte. Oder nie gepasst hatte. Nur damit er ihr jetzt sagen konnte, dass es nie so tief war wie mit ihr. Natürlich. Erneut die bittere Flamme, die in ihrer zynischen Heftigkeit als einzige stark genug schien, dass sie durch die Eisschicht drang. Natürlich nicht so tief. Sie hat ihn ja auch rangelassen. Im Gegensatz zu mir.

    Tja. Also. Seianas Magen schien zu kippen, als Caius so anfing. Begann man so, wenn man sich entschuldigen wollte? Ernsthaft entschuldigen? Begann man so, noch dazu in diesem Tonfall, wenn man sich versöhnen wollte? Seiana kam nicht dazu, Antworten auf diese Fragen zu finden. Caius sprach weiter. Und das Eismeer in ihrem Inneren war wieder da. Sie hatte das Gefühl, einzufrieren, innerlich wie äußerlich. Lösen. Er wollte die Verlobung lösen. Irgendwo unter dieser riesigen Schicht aus Eis und eisigem Wasser flammte bitterer Schmerz auf.


    „Lösen“, murmelte sie, in einem Tonfall, als ob sie nicht recht wüsste, was dieses Wort bedeutete. Lösen. Die Verlobung lösen. Die…


    Sie. Sie. Sie ist anders. Sie ist mehr. Seiana schwindelte. Weil sie mit ihm ins Bett gesprungen ist. Dieser Gedanke loderte auf, so bitter und heftig, dass er sich seinen Weg durch die Eisschicht brannte und für einen Moment hell aufleuchtete in ihr, wie ein Blitz alles erstrahlen ließ und die rohe, zerklüftete Landschaft, die ihr Inneres war, gnadenlos bloß legte. Im Gegensatz zu mir.

    „Selbstverständlich“, nickte sie. Natürlich hatte sie Zeit für ihn, was denn sonst. Bei den Göttern, sie fühlte sich immer merkwürdiger. Caius war merkwürdig. Die ganze Situation war merkwürdig. Hatten sie sich jemals so gestritten gehabt? Seiana konnte sich nicht erinnern. Andererseits konnte sie sich auch nicht daran erinnern, dass er je auf einer derartigen Feier so etwas abgezogen hätte. Oder dass er ihr je gestanden hätte, sie zu betrügen.


    Böse. Er hoffte, sie sei nicht mehr ganz so böse. War sie denn böse gewesen? Seiana wusste, wie er das Wort meinte, aber sie kam trotzdem nicht umhin, die eigentliche Wortbedeutung ebenso in Betracht zu ziehen. War sie denn böse gewesen? „Nein“, antwortete sie, konnte aber nicht verhindern, dass ihre Stimme ein wenig zynisch klang. „Warum auch.“ Auf ihre Frage, fiel ihr auf, hatte er nicht geantwortet – wie so häufig in letzter Zeit. Es schien langsam zur schlechten Gewohnheit zu werden, dass Caius ihre Fragen nicht oder nur mit Gegenfragen beantwortete. Vielleicht sollte sie sich das auch mal angewöhnen, dann würde er mal sehen, wie das war… aber dann würde sie wohl nur wieder den Vorwurf bekommen, dass sie nicht antwortete.


    Seiana wusste, dass ihre Gedanken gerade auf merkwürdigen Pfaden trieben. Aber die ganze Situation war einfach… merkwürdig. Und in ihrer Magengrube war ein seltsames Gefühl. Fast, aber nur fast, könnte sie meinen, dass es so etwas wie Angst wäre.

    Decima Lucilla
    Casa Roscia
    Narbo Martius
    Gallia Narbonensis



    Liebe Tante Lucilla!


    Ich weiß, es ist eine halbe Ewigkeit her, dass wir beide das letzte Mal Kontakt hatten – ich habe von Faustus immer gehört, wie es dir geht, aber irgendwie hat immer die Zeit gefehlt, selbst die Feder in die Hand zu nehmen und zu schreiben. Was macht dein Sohn Caius? Faustus hat mir erzählt, dass er in Ägypten ist? Und wie ist das Leben in Gallien? Vom Leben in Rom brauche ich dir, glaube ich, kaum etwas erzählen – du kennst es sicher immer noch weit besser als ich. Allerdings muss ich gestehen, dass ich mich in den vergangenen Wochen seit meiner Rückkehr aus Alexandria recht gut eingelebt habe. Es stehen offenbar mehrere Hochzeiten an, das gesellschaftliche Leben, so könnte man es wohl sagen, brummt derzeit… Und auch bei mir steht da viel an, weil die Hochzeit von Caius (dem Aelier, meinem Verlobten – kennst du ihn eigentlich?) und mir nun auch bald stattfinden wird. Und damit komme ich auch schon zu dem Grund meines Schreibens: ich weiß nicht, ob es deine Zeit zulässt, zur Hochzeit nach Rom zu kommen – eingeladen bist du selbstverständlich herzlich! Und für den Fall, dass du kommen kannst, wollte ich dich fragen, ob du meine Pronuba sein würdest. Es würde mich wirklich sehr freuen, wenn eine Frau, die mich noch aus meiner Kindheit kennt, das übernehmen würde.


    Liebe Grüße,


    Deine
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    P.S.: Die Hochzeit ist übrigens geplant für den ANTE DIEM IV NON APR DCCCLX A.U.C. (2.4.2010/107 n.Chr.) geplant.


    Sim-Off:

    Familienwertkarte :)

    Seiana lächelte weiter, obwohl sie sich langsam zu wünschen begann, die Befragung mochte aufhören. Sie wollte nicht darüber reden. Bei allem was passiert war, sie wollte nicht darüber reden – sie wollte Caius nicht so reinreiten. Und immerhin bestand auch die Möglichkeit, dass doch noch etwas auf sie zurückfiel. Und wenn es nur Mitleid war, was Seiana genauso wenig wollte wie Gerede. Mitleid, ausgelöst durch eine derartige Geschichte, fachte den Tratsch nur noch effektiver an. „Offen gestanden, ich weiß es nicht. Das blieb unter den Männern“, antwortete sie, in einem freundlichen Tonfall und wie zuvor ohne sich anmerken zu lassen, was tatsächlich in ihr vorging. Sie wusste ja tatsächlich nicht, was der Duccier gesagt hatte. Sie hatte Caius nicht gefragt danach, und es war ihr im Grunde auch gleichgültig. Ganz egal was er gesagt hatte, Caius hätte so nicht reagieren dürfen. Ob die beiden vor ihr ihr nun glaubten oder nicht, war eine andere Sache – so unhöflich, ihr eine Lüge vorzuwerfen, würden sie allerdings kaum sein, schätzte Seiana. Und so konnte es ihr letztlich egal sein, ob sie ihr glaubten. „Wie ich bereits sagte, es muss sich wohl um ein Missverständnis gehandelt haben.“

    Es dauerte nicht lang, bis Seiana erschien. Als der Junge ihr Bescheid gegeben hatte, dass Caius da war und sie sprechen wollte, hatte sie zuerst gezögert, aber sie hatte sich gezwungen, nicht nachzudenken. Einfach zu ihm zu gehen. Sich keine Gedanken zu machen. Natürlich überlegte sie doch, während sie zum Tablinum kam, immerhin waren sie das letzte Mal im Streit auseinander gegangen, und weder sie noch er hatten seitdem einen Versuch gestartet, miteinander zu reden.


    Sie betrat den Raum und sah Caius am Fenster stehen. Dort, wo sie beim letzten Mal gestanden hatte. Und sie fühlte sich hilflos. Sie wollte nicht schon wieder streiten, aber sie wusste auch nicht, was sie sagen sollte. Sie wusste immer noch nicht, was sie damit anfangen sollte, mit dieser ganzen Sache. Was er ihr erzählt hatte. Gebeichtet hatte. Axilla… Seianas Lippen pressten sich aufeinander, als vor ihrem inneren Auge zwei Körper erschienen, verschwitzt und eng miteinander umschlungen, Caius’ und Axillas. Nicht dass sie einen der beiden je nackt gesehen hätte, aber die Gesichter waren dort, in ihrer Phantasie. Und sie meinte wieder zu hören, was Caius ihr gesagt hatte. Sie ist anders. Sie ist mehr. Seiana räusperte sich und schloss dann die Tür, bevor sie ein paar Schritte in den Raum hineinging. „Caius?“ Die Situation war merkwürdig. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. „Was möchtest du?“

    Seiana bemühte sich, sich zusammenzureißen. Bemühte sich ernsthaft. Und es gelang ihr dann schließlich auch, irgendwie. Faustus riss sich genauso zusammen wie sie, auch wenn sie ihn gut genug kannte – und nah genug bei ihm war –, um zu sehen, dass ihm der Abschied auch nahe ging. Aber dass er es schaffte, so gefasst zu sein, führte dazu, dass auch sie sich beinahe zwang, sich zu beherrschen. Jetzt war weder die Zeit noch der Ort, irgendetwas zu besprechen. Also ignorierte sie den Kloß in ihrem Hals und lächelte, als er auf das Serapis-Amulett deutete, dass sie ihm mitgebracht hatte. „Ja, schreib mir auf jeden Fall. Das werd ich auch tun.“ Trotz aller guten Vorsätze entließ Seiana ihn nur zögernd aus ihrer Umarmung, als er dann ganz zurücktrat. Erneut musste sie blinzeln, aber immer noch hielt ihre Fassade. „Dir auch. Möge Neptun dich beschützen auf der Reise…“ Sie blieb regungslos stehen, als er sich umwandte, sah ihm nach, wie er auf das Schiff eilte, lauschte den Kommandos, die erteilt wurden, beobachtete, wie das Schiff fertig gemacht wurde zum Ablegen – und es schließlich auch tat. Sie sah, wie der Rumpf erzitterte, wie der Schiffsleib sich löste vom Pier, wie das Schiff sich hinaus bewegte ins offene Meer. „Ich liebe dich, Faustus“, murmelte sie, und jetzt klang ihre Stimme erstickt vor unterdrückten Tränen. Und sie blieb selbst dann noch stehen, als das Schiff noch nicht einmal mehr als winziger Fleck am Horizont auszumachen war.

    Seiana musterte den Duccier noch einen Augenblick, aber zum Thema Schuld sagte sie nichts mehr. Sie war jemand, der sich viel Gedanken machte, gerade auch darüber, was sie wem schulden mochte – ihrer Familie beispielsweise, ihrem Bruder, ihrer Mutter. Ihrem Verlobten, dachte sie, ein wenig zynisch. Sie blieb nicht gerne etwas schuldig. Und das Gespräch mit dem Duccier ließ sie mit einer vagen Unzufriedenheit diesbezüglich zurück. Es zählt nicht, wenn es einfach ist. Und einfach war das hier ganz sicher gewesen.


    Bei seinem letzten Satz musste sie unwillkürlich lächeln, und weil es aus einer echten Reaktion heraus entstand und nicht nur rein gewollt war, war es ehrlicher als bisher. „Dann danke ich der Gunst der Stunde. Und dir für die Zeit, die du für mich erübrigt hast.“ Sie nickte Elena und dem anderen Sklaven kurz zu, als diese auftauchten, geholt von einem prudentischen Sklaven, und stand auf. „Einen angenehmen Tag wünsche ich dir noch, Duccius.“

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    Auch Crios registrierte, wie Axilla ruhiger zu werden schien, und er musterte sie einen Augenblick lang, bevor er sich Serrana zuwandte. Ein flüchtiges Lächeln huschte über seine Züge. „Das hab ich gern gemacht“, erwiderte er auf ihren Dank hin. Auf sein Angebot hin, dass er bleiben würde, schien sie zunächst zu zögern, und tatsächlich kam von ihr ein Einwand – den Crios allerdings ausräumte. „Sie wird nicht sterben“, antwortete er. Nicht sofort jedenfalls. Außer Gefahr war Axilla noch nicht, aber es sah gut aus, und es brachte nichts, wenn sie alle hier blieben. „Aber falls sich ihr Zustand wieder verschlimmert, werd ich dir Bescheid geben. Du kannst dich ruhig hinlegen.“ Er nickte der Sklavin, die wohl Adula war, kurz zu. „Es reicht, wenn jemand in die Taberna kommt – dort haben wir alles vorrätig, und dort kann ich die Kräutermischung und die Salbe zusammenstellen.“




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    Hatte Crios sich eben noch beruhigt, konnte er sich jetzt schon wieder aufregen. Was ging die Iunia ihn eigentlich so an? Er sagte doch nur die Wahrheit, und selbst wenn nicht, er konnte ja wohl bitte gar nichts dafür! Und von was für großherzigen Worten sprach sie da… oder Vorwürfen. Er hatte ihr keine Vorwürfe gemacht. Er hatte nur Fakten aufgezählt – gut, er hatte sie vielleicht ein bisschen heftiger formuliert, weil er sich über sie aufgeregt hatte, aber das änderte nichts daran, dass es Fakten waren. Keine Vorwürfe. Er maßte sich doch nicht an, über andere zu urteilen! Aber es war wohl beim besten Willen nicht zu viel erwartet, dass sie die Verantwortung übernahm für das, was sie getan hatte! Er konnte ja verstehen, dass es nicht leicht für sie war, aber er konnte doch nichts dafür! Sollte sie sich doch an den Kerl halten, der ihr das Kind gemacht hatte! Hatte der ganz sicher verdient, dass ihn mal jemand anfuhr.


    Als Axilla sich dann auch noch demonstrativ von ihm abwandte und ihn noch mal anmaulte, ohne ihn anzusehen, hatte auch Crios die Nase voll. „In Ordnung. Salbe hast du noch, wie du sie anwendest weißt du auch, Kräutermischung hat Leander. Vale.“ Sprachs, drehte sich um und ging zur Tür, um das Zimmer zu verlassen.




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    Hätte Crios geahnt, was sie dachte, hätte er durchaus etwas dazu sagen können. Hätte sagen können, dass eine Fehlgeburt erst im späteren Stadium der Schwangerschaft tatsächlich wie eine Geburt war, dass, je früher der Abgang erfolgte, er mehr wie eine Abtreibung war. Hätte ihr auch sagen können, dass es einen Unterschied machte, ob die Natur oder die Götter einfach regulierend eingriffen oder ob es der Mensch war, der das tat. Hätte ihr sagen können, dass eine Überanstrengung ihres Körpers mit Sicherheit nicht dazu beitragen würde, dass sie weitere Abtreibungskrämpfe bis hin zu einer Fehlgeburt besser überstand als die letzten. Aber er ahnte nichts von ihren Gedanken. Inzwischen leicht entnervt musterte er Axilla. „Da hättest du vielleicht früher dran denken sollen“, entfuhr es ihm, bevor er nachdenken konnte. Und im gleichen Moment fühlte er so etwas wie schlechtes Gewissen in sich – er hatte ja recht, darüber was war, wenn sie schwanger wurde, hätte sie sich früher Gedanken machen müssen, aber das war eigentlich nichts, was ein Arzt sagen sollte, fand er. Wobei, Iaret hätte vermutlich auch Worte in dieser Deutlichkeit gefunden, nur hätte er sie anders gesagt, und vor allem aus anderen Beweggründen, nicht weil er langsam die Nase voll hatte von ihrem Verhalten, mit dem sie immer mehr ihm die Schuld geben zu wollen schien. Aber Crios mochte so was nicht, und er sah es auch gar nicht ein, er wollte schließlich nur helfen. Und immerhin hatte sie sich ja selbst in diese Lage gebracht, sie und der Kerl, der bei ihm gewesen war und ihm eine reingehauen hatte.


    „Ich weiß nicht, was du machen sollst, die Entscheidung kann ich dir nicht abnehmen. Aber wenn du mit Bauchkrämpfen zusammenbrichst, dann versuch doch bitte in der Nähe der Märkte zu sein. Dann hab ich’s wenigstens nicht so weit“, meinte er, immer noch patzig. Nach einem Moment des Schweigens rang er sich aber dann doch zu der Erkenntnis durch, dass das gerade nicht unbedingt angemessen war, und etwas versöhnlicher fügte er noch hinzu: „Ich zeige dir nur deine Möglichkeiten auf. Ich sage dir, was für Konsequenzen es haben kann, je nachdem für was du dich entscheidest. Was für Konsequenzen es haben wird, liegt allein bei den Göttern. Ebenso was mit dem Kind sein wird, wenn du dich entscheidest, es auf die Welt zu bringen.“




    Ihre Aussage, sie sei ihm etwas schuldig, schien irgendetwas in dem Duccier zu bewegen. Hätte Seiana gewusst, was dieser Satz in ihm auslöste, sie hätte sich vermutlich nicht nur gewünscht, ihn nie gesagt zu haben, sie hätte sich umgehend verabschiedet. Aber sie wusste es nicht. Sie ahnte noch nicht einmal etwas davon. Sie sah nur, wie der Duccius einen Moment lang zu zögern schien und dann etwas sagte, was ihr doch zu denken gab. Schuld ist etwas gefährliches. Und dann lächelte er erneut, kurz bevor er aufsprang und sich wieder von ihr entfernte. In diesem Moment wurde Seiana nicht recht schlau aus ihm, aus seinem Verhalten. Sie sah ihm nach, wie er sich etwas entfernte, und öffnete den Mund, um etwas zu sagen, um ihm zu widersprechen womöglich – dass sie mitnichten offenherzig Schuld auf sich nahm. Aber dass es Situation gab, in denen man einfach Verantwortung übernehmen musste, ob man nun tatsächlich unmittelbar Schuld daran trug oder nur mittelbar. Und dass er ihre Entschuldigung so schnell und so ehrlich angenommen hatte, dass er ihr nichts nachtrug, machte es für sie umso schwerer, für sich mit dem Geschehen abzuschließen. Es wäre einfacher gewesen für sie, hätte er sich geziert, hätte angefangen Fragen zu stellen wie die Aurelier beispielsweise.


    So blieb in ihr das Gefühl hängen, ihm etwas schuldig zu sein, obwohl oder gerade weil er das ebenso ablehnte wie ursprünglich ihre Entschuldigung. Sie wollte erneut etwas sagen – wollte darauf hinweisen, dass er einen Gefallen gut hatte bei ihr, gleich ob er das wollte oder nicht, und es gab durchaus Dinge, die sie bewirken konnte. Ihre Familie trug nicht nur einen Namen, der in Rom Gewicht hatte, sie hatte auch einige Verwandten, die ganz konkret Einfluss hatten, seien es nun direkte oder angeheiratete; und sie selbst hatte in Rom vielleicht noch nicht viele Kontakte, aber das würde sich ändern, und den oder anderen kannte auch sie. Aber etwas in seinem Blick hinderte sie daran. „Schuld ist nichts, was man vergeben kann“, meinte sie leise. Man hatte sie, oder man hatte sie nicht, war ihre Auffassung. Natürlich konnte man große Worte darüber schwingen, konnte sie auch anderen zuweisen, aber an den Tatsachen änderte das nichts. Das einzige was man tun konnte war, sich dazu zu bekennen – oder es zu verweigern.


    Allerdings behielt Seiana – obwohl emotional aufgrund dieser ganzen Geschichte mit Caius tiefer betroffen als ihr lieb war – durchaus im Sinn, um was es hier eigentlich ging. Es war lächerlich, einen Disput darüber anzufangen, ob sie ihm nun etwas schuldig war oder nicht wegen dieser Sache. Wenn sich zukünftig die Gelegenheit ergeben würde, würde sie sich erkenntlich zeigen für sein anständiges Verhalten ihr gegenüber. Um das zu tun, brauchte sie jetzt nicht sein Einverständnis. „Belassen wir es also dabei, wenn du das möchtest“, nickte sie. Einen Augenblick lang musterte sie ihn noch, dann setzte sie wieder ihr Lächeln auf, um das Abschiedsgeplänkel in die Wege zu leiten. Sie wollte nicht unhöflich erscheinen, indem sie zu rasch wieder verschwand, aber sie hatte gesagt, weswegen sie gekommen war – und sie würde ja sehen, wie er reagierte. „Nun, im Grunde ist das alles, weswegen ich gekommen bin. Ich hoffe, ich habe dich bei nichts allzu wichtigem gestört.“

    Was sie von dem Flottensoldaten halten sollte, wusste Seiana nicht so recht – das hieß, eigentlich wusste sie es schon, nämlich für unfähig, aber es brachte ja auch nichts, das allzu deutlich zu zeigen. Allerdings musste sie sich auch nicht mehr lange mit ihm herumschlagen, denn noch während sich in seiner Haltung plötzlich etwas zu ändern schien, kaum dass sie Faustus’ neuen Rang genannt hatte, war der schon bei ihr und umarmte sie. Und Seiana konnte nicht anders, als seine Umarmung zu erwidern. In diesem Moment war ihr egal, wer alles zusah. Sie sehnte sich nach etwas Nähe, nach etwas Wärme, und Faustus schien ihr der einzige zu sein, der ihr das geben konnte. Und er war im Begriff zu gehen. Einen Augenblick lang musste sie tatsächlich mit den Tränen kämpfen. So viel war passiert… Aber sie hatte es nicht übers Herz gebracht, ihm davon zu erzählen, und sie brachte es auch jetzt nicht fertig. Er freute sich über diese Beförderung, er freute sich so auf Ägypten, und sie wollte ihm das nicht verderben, indem sie ihn mit ihren Problemen belastete. Ganz sicher nicht.


    Also hielt sie ihn fest, klammerte sich fast schon an ihn, und schluckte mühsam. „Doch, musste ich“, murmelte sie an seiner Schulter. Und dann hob sie den Kopf und lächelte ihn an. „Irgendwer muss doch aufpassen, dass du heil an Bord kommst. Tut mir leid, dass ich erst jetzt da bin, aber die Kutsche hatte eine kleine Panne…“ Was eigentlich absolut unwichtig war. Völlig untypisch für sie begann sie zu plappern, aber das konnte auch einfach an dem Abschied an sich liegen, der ihnen beiden bevorstand. „Ich werd dich auch vermissen… Pass auf“, lachte sie dann, „wenn ich nicht geplant hätte ein paar Tage in Ostia zu bleiben, würde ich dein Angebot glatt annehmen.“ Seianas Lachen wurde zu einem schiefen Grinsen, und sie drückte Faustus noch einmal an sich. „Pass du auf dich auf“, murmelte sie, und musste schon wieder mit Tränen kämpfen, die sie um keinen Preis zeigen wollte.