Beiträge von Decima Seiana

    Seiana konzentrierte sich auf ihre Schreibarbeit. Sie hatte dreimal angesetzt inzwischen, und sie hatte jedes Mal neu angefangen. Die Tatsache, dass sie den Papyrus nicht einfach beiseite legte, sondern zerknüllte, sagte genug aus über ihre innere Verfassung derzeit, fast mehr noch als die Tatsache, dass sie überhaupt neu anfangen müsste. Nach dem zweiten Mal hatte sie sich eine Wachstafel herangezogen. So… befriedigend das Zerknüllen des Materials für diesen einen winzigen Moment auch war, Papyrus war zu teuer, um ihn derart zu verschwenden. Sie ignorierte Elena, wie sie die Scherben beiseite räumte, schrieb weiter, kratzte die Worte aus und schrieb erneut. Sie fand einfach keine Worte, die richtig klangen. Es ging schon mit der Anrede los. Aber schließlich, irgendwann, hatte sie einen Entwurf fertig, mit dem sie wenigstens leben konnte. Keine Emotionen waren in dem Brief zu merken, und genau das war es, was sie wollte. Caius sollte nicht merken, was in ihr vorging. Noch lieber wäre es ihr gewesen, wenn sie ein wenig höfliche Lockerheit hätte hineinbringen können in die Worte, einen oberflächlichen Konversationston, aber das schaffte sie nicht. So sehr sie es versucht hatte, sie schaffte es nicht. Für einen Augenblick seufzte sie lautlos und strich sich müde über die Augen. Und dabei hatte sie erst einen Brief geschrieben. Weitere standen ihr bevor. Lucilla musste sie schreiben, in jedem Fall. Und Faustus… Seine Abreise nach Ägypten stand kurz bevor, er war bereits in Ostia. Sie würde ihm nichts sagen, beschloss sie. Sie würde warten, bis er abgereist war, und ihm dann auch einen Brief schreiben. Einen, den sie ebenso emotionslos halten – oder es zumindest versuchen – würde wie alle anderen.


    Sie ließ ihre Hand wieder sinken, zog nun erneut einen Papyrus zu sich und machte sich daran, den Entwurf abzuschreiben, als die Tür aufging. Sie bemerkte es nicht, ganz im Gegensatz zu Elena, die aufsah – bevor die Sklavin allerdings auf den Besucher aufmerksam machen konnte, übernahm der es selbst. Seiana sah hoch, überrascht, darüber dass überhaupt jemand hier war, und darüber dass derjenige nicht einmal geklopft hatte. Sie warf Elena einen kurzen Blick unter gerunzelter Stirn zu, fast als wäre es deren Schuld, aber sie sagte nichts zu ihr, sondern bedeutete ihr nur mit einem Kopfnicken, zu gehen. „Flavus. Setz dich doch.“ Ihr Lächeln war so gefroren, wie sie sich innerlich fühlte, als sie auf die Sitzgruppe am Fenster wies. Sie hatte keine Zeit gehabt, sich zu sammeln, sich darauf vorzubereiten, mit jemandem zu reden dem sie nichts zeigen wollte. Und gerade im Augenblick, nach diesem Brief, hätte sie Zeit bitter nötig gehabt, Zeit um eine Maske aufzusetzen, die auch das bittere Eis verbarg. Sie musterte ihren Cousin kurz. Sie hatte ihn ein paar Mal getroffen, seit sie wieder hier war, aber wirklich viel Gelegenheit, miteinander zu reden, hatte sich nicht ergeben, weshalb sie ihn kaum kannte. Sie wusste nur, dass er der Sohn Livianus’ war, von dem er lange nichts gewusst hatte. „Verzeih mir, wenn mein Ausbruch dich gestört hat“, wich sie seiner Frage aus. „Manchmal fehlt einfach die nötige Selbstbeherrschung.“

    Wie vereinbart, erschien Seiana drei Tage nach ihrem letzten Besuch erneut an der Porta der Villa Aurelia, etwa zu der Zeit, zu der die Salutatio sich dem Ende zuneigen musste. Drei Tage, in denen sich ihre Welt auf den Kopf gestellt zu haben schien. Dennoch, so schwer es ihr auch fiel, sich zusammenzureißen, so sehr sie sich am liebsten zu Hause verkrochen hätte, es kam für sie nicht in Frage, diesen Termin abzusagen. Also klopfte der Sklave – nicht Elena, zu der sie momentan auf Abstand ging – an und verkündete dem Ianitor, als er öffnete, dass seine Herrin Decima Seiana einen Termin mit Aurelius Corvinus habe.

    [Blockierte Grafik: http://img210.imageshack.us/img210/4457/crios.jpg~Crios~


    Die Iunia schien aufmerksam zuzuhören, als er erklärte, und es kamen keine Widersprüche. Im Gegenteil, beinahe wirkte es so, als ob sie es kaum erwarten könne, was Crios wiederum einen Hinweis darauf gab, wie sehr sie unter ihren Schlafproblemen wohl zu leiden hatte. Er machte noch ein paar gekritzelte Notizen, überlegte und strich herum, und ein weiteres Mal, als er sah, wie ihr Gesicht in sich zusammenfiel bei der Bemerkung, dass der Trank ihre Probleme kaum dauerhaft lösen konnte. Weniger stark, dafür aber so, dass sie ihn über einen längeren Zeitraum würde nehmen können, ohne dass sich negative Wirkungen zeigten, beschloss er.


    Dass sie auf seine nächste Frage dann tatsächlich antwortete, überraschte Crios ein wenig. Natürlich erzählten ihm die Menschen von ihren Problemen, dafür war er ja da, dafür arbeitete er hier, aber gerade bei solchen Besuchern, die deren akute Beschwerden nur Ausdruck irgendetwas tiefer Liegendem waren, kam es häufiger vor, dass sie es vorzogen nur das momentane Problem zu schildern und nicht mehr. Und, mehr unwillkürlich denn bewusst, hatte er die Iunia genauso eingeschätzt. Er lehnte sich etwas zurück und lauschte ihr schweigend, wie sie erzählte, woher ihre Albträumen kamen. Und worum es in ihnen ging. Crios beachtete die kleinen Gesten nicht, die zeigten, wie schwer es ihr fiel – wie beispielsweise der Finger, der auf dem Tisch Muster zog –, er unterbrach auch nicht, sondern hörte ihr zunächst einfach nur zu. Ihre Mutter war also gestorben, bei einer Fehlgeburt. Crios schätzte Serrana auf nicht älter als siebzehn, vielleicht achtzehn Jahre, was hieß, dass sie damals alt genug gewesen war, um alles auch zu begreifen – aber wohl noch lange nicht alt genug, um damit fertig zu werden. Dass sie miterlebt hatte, was mit Axilla geschehen war, musste alles nur wieder aufgewühlt haben.


    Erst als Crios das Gefühl hatte, dass sie tatsächlich zu Ende gesprochen hatte, wenigstens für den Moment, rührte er sich. „Kein Wunder, dass dich das verfolgt. Gibt es jemanden, mit dem du darüber reden kannst? Jemanden, dem du dich anvertrauen kannst, wenn du in der Nacht aufwachst, oder wenn es dich tagsüber einholt?“ Seine Finger spielten wieder mit dem Stylus. Schwierig. Das klang schwierig, und sie würde damit nicht einfach so fertig werden. „Was könnte der Grund dafür sein, dass es in letzter Zeit du selbst bist, die in deinen Träumen verblutet? Hast du eine Vermutung?“ Dann räusperte er sich. „Vielleicht hilft es dir auch, wenn du versuchst, bewusst an die schönen Zeiten mit deiner Mutter zu denken – es trainierst, sozusagen. Damit es dir dann leichter fällt, deine Gedanken dahin zu lenken, wenn dich wieder einholt was passiert ist. An was kannst du dich noch erinnern?“




    Seiana sah Axilla weiterhin an. Einfach nur an. Sie konnte nicht gegen das Gefühl in ihrem Inneren ankämpfen. Sie wollte es auch nicht. Wo die Bitterkeit brannte, wo verletzter Stolz und verletzte Gefühle loderten, da brachte das Eis Ruhe. Keinen Frieden, aber Ruhe. Löschte die Bitterkeit nicht, aber kühlte sie, so sehr, dass sie zwar da war, aber nicht mehr schmerzte. Dass sie zwar da war, aber nicht mehr behinderte, sondern wenn überhaupt ihr klares Denken nur stützte. Dass das Eis sich mit dieser Bitterkeit Stück für Stück genauso durchzog wie mit ihrem Stolz und ihren Gefühlen, die einen empfindlichen Schlag erhalten hatten, dass es sich dadurch nur ausbreitete und verstärkte, spielte eine untergeordnete Rolle. Es half. Das war alles, was zählte. Half ihr, die Fassung zu bewahren. Und sie brauchte ihre Fassung. Gerade jetzt, wo sie keine Ahnung hatte, wie es weiter gehen sollte mit ihr und ihrem Leben, als nach wie vor unverheiratete Frau, die nicht einmal die Aussicht auf eine baldige Hochzeit hatte. Und so versuchte Seiana nicht einmal, das Eis in sich zu bekämpfen, sondern hieß es willkommen.


    Reglos starrte sie die Iunia an. Ob die Tatsache, dass sie sie so förmlich anredete, die andere traf, konnte sie nicht genau erkennen. Das war jedoch ausnahmsweise nicht geboren aus dem Wunsch heraus, Axilla zu treffen, sie klein zu sehen, sondern lag Seiana einfach im Wesen. Sie konnte Axilla nicht so vertraut anreden, es ging nicht, nicht nach dem was passiert war – genauso wenig wie sie es noch fertig brachte, Caius so zu nennen, obwohl ihr alles andere auch irgendwie falsch vorkam und sie es deswegen bei ihrem Gespräch vorgezogen hatte, ihn gar nicht beim Namen zu nennen. Mit einem angedeuteten Nicken quittierte sie den Dank, den die Iunia ihr für ihre Zeit aussprach, und neigte ihren Kopf ein weiteres Mal, ein wenig deutlicher diesmal, als Axilla darum bat gehen zu können. Sie wünschte sich, sie könnte Genugtuung empfinden dabei, dass Axilla tatsächlich bat, sie um Erlaubnis fragte. Aber das tat sie nicht. Nicht einmal der hässliche Teil in ihr regte sich in diesem Moment. Axilla würde gehen. Und sie würde zu Caius gehen. Würde Zeit mit ihm verbringen, wie die ganzen letzten Wochen schon. Zeit, die sie ihr gestohlen hatte. Zeit, die vielleicht hätte helfen können, dass Caius und sie es schafften. Zeit, die sie nicht gehabt hatten, weil Caius sie lieber mit Axilla verbracht hatte… Alles war so eisig, so gefroren, dass Seiana es noch nicht einmal mehr schaffte, eine höfliche Floskel zu formulieren. „Dann geh“, brachte sie nur noch über die Lippen, und sie wartete schweigend, bis Axilla gegangen war.

    Seiana wusste nicht, wo ihr der Kopf stand. Sie schlief schlecht in letzter Zeit, und es war gleichgültig, ob sie versuchte sich mit Wein zu behelfen oder nicht. Wenn sie etwas getrunken hatte, hatte der Schlaf nur eine andere Qualität, keine bessere. Der einzige Unterschied war, dass sie den Abend allein in ihrem Cubiculum besser überstand – dafür der Morgen aber umso furchtbarer war. Sie war nach den ersten paar Aussetzern sehr schnell dazu übergegangen, ihren Weinkonsum zu reduzieren, genug, dass sie sich nicht am nächsten Morgen fühlte, als sei sie von einem Felsen direkt auf den Kopf gestürzt, aber dann konnte sie es auch eigentlich auch ganz lassen, weil es ihr dann nicht half, den Abend besser zu überstehen. Trank sie nur ein oder zwei Becher, fühlte sie sich nur noch melancholischer, noch schlimmer. Und da es sich für eine Frau eigentlich sowieso nicht schickte, dem Wein so sehr zuzusprechen, ließ sie es dann ganz bleiben. Nur manchmal… manchmal gab sie nach. In der Regel dann, wenn sie wusste, dass sie am nächsten Tag keine Termine hatte.


    Elena war davon nicht begeistert, ganz und gar nicht. Aber Elena hatte nicht viel zu melden im Augenblick. Seiana hatte ihr nicht verboten, Katander zu treffen, so weit würde sie niemals gehen – aber der Gedanke, dass ihre Leibsklavin, ihre Freundin, nach wie vor glücklich war mit dem Leibsklaven ihres ehemaligen Verlobten, setzte ihr einfach zu. Dazu kam, dass Elena sie kannte wie sonst niemand, und Seiana konnte ihre Blicke nicht mehr sehen, ihren Tonfall nicht mehr hören. Sie brauchte kein Mitleid, sie wollte kein Mitleid. Und Elena konnte nicht anders, als mit ihr mitzuleiden. Für sie zu leiden, fast schon, ließ Seiana doch einfach nicht zu, dass zu viel an die Oberfläche drang. Sie konnte es nicht zulassen. Elena hingegen wollte gerade das von ihr, versuchte gerade das zu erreichen, dass sie es zuließ. Das alles waren Gründe, warum Seiana derzeit auf Abstand ging zu ihr. Und so kam es, dass Elena sich dieser Tage ungewöhnlich viel Freizeit erfreuen durfte, während Seiana sich vorzugsweise mit Sklaven umgab, die sie kaum kannten und so nicht Gefahr lief, angesprochen zu werden auf etwas, auf das sie nicht angesprochen werden wollte. Und, natürlich: Seiana stürzte sich in ihre Arbeit. Sie hatte bereits vor einiger Zeit beschlossen gehabt, ihren Buchladen nun von Alexandria nach Rom zu verlagern, und nun war sie es endlich angegangen. Die Götter waren auf ihrer Seite gewesen, wenigstens diese eine Mal, da sie in genau dieser Phase die Zusage für Räumlichkeiten bekommen hatte, die von allen besichtigten ihr die liebsten gewesen waren. Nah genug bei den Märkten, um Laufkundschaft zu bekommen, aber nicht so nah, dass die Räume zu teuer wurden. Und jetzt war sie hier, mit einem Sklaven, der nach ihren Anweisungen agierte und alles herrichtete, während sie in der Mitte stand und versuchte, sich vorzustellen, wie dieser Raum werden könnte. Sie wedelte mit einer Hand und dirigierte den Sklaven, der gerade nach einer Vase gefasst hatte, zu einer anderen Kiste. Die Dekoration konnte warten, das wichtigste waren nun erst mal die Bücher.


    Dann hörte sie das kleine Glöckchen, das über der Tür angebracht war. Etwas verblüfft, weil sie nicht damit gerechnet hatte, drehte sie sich um und erblickte eine Besucherin. „Salve…“, erwiderte sie, zunächst etwas zurückhaltend, während sie dennoch höflich lächelte. Eigentlich hatte ihr Laden noch nicht geöffnet. Eigentlich hätte der Sklave die Tür abschließen sollen. Eigentlich. Faktisch war das aber ihre erste Besucherin. Ihre erste Kundin, hier in Rom – vielleicht. Seiana beschloss zu ignorieren, dass das Geschäft noch nicht offiziell geöffnet hatte, und dass es hier alles andere als so aussah, als wäre es ein funktionierender Laden, was er aber eigentlich war. Jemand hatte jetzt schon hierher gefunden. Und sie würde sie sicher nicht vertreiben. Den Sklaven allerdings würde sie wieder in der Casa Decima abliefern. Wenn er sich gut gemacht hätte, hätte sie sich überlegt zu fragen, ob sie ihn vielleicht haben könnte für die Arbeit hier, aber so würde sie sich eben nach jemand anderem umsehen. Mit einem Lächeln näherte sie sich also ihrer Besucherin. „Verzeih bitte, wie es hier aussieht – ich habe mein Geschäft erst vor kurzem von Alexandria hierher verlegt, daher ist noch alles im Aufbau. Mein Name ist Decima Seiana. Wie kann ich dir behilflich sein?“

    Seiana verharrte, wie sie war. Noch immer wusste sie nicht so recht, was sie mit diesem neuen Wissen nun anfangen sollte. Nur eines schien sonnenklar zu sein: dass Axilla einen Mann, einen Ehemann, gebraucht hatte, und dass sie dafür gesorgt hatte, einen zu bekommen. Und wenn Caius tatsächlich der Vater ihres Kindes war, dann – sich das einzugestehen, darum kam Seiana nicht herum – war es bis zu einem gewissen Grad sogar gerechtfertigt, dass Axilla sich ihn geholt hatte. Dass sie dafür gesorgt hatte, dass er gerade stand dafür, dass er sie geschwängert hatte. Auch wenn sie diejenige war, die darunter zu leiden hatte, die er im Gegenzug dafür sitzen ließ, obwohl sie nicht das Geringste dafür konnte. Hätte sie doch mit Caius schlafen sollen? Ihn so an sich binden sollen? Sie hatte doch gewusst, wie wichtig ihm das war, er hatte sie oft genug deswegen gefragt – in der letzten Zeit, in Rom, noch mehr als in Ägypten. Was für sich genommen schon wieder ironisch war, denn in Alexandria hätte es durchaus die ein oder andere Situation gegeben, in der sie vielleicht nachgegeben hätte, wenn er es tatsächlich darauf angelegt hätte. In Alexandria war es anders gewesen. In Rom war das nicht mehr in Frage gekommen – vielleicht, wenn sie in Alexandria bereits intim geworden wären… aber nicht so. Nur, sie konnte nicht leugnen, dass sie gewusst hatte, wie wichtig es ihm gewesen war. Dass ihm nachzugeben eine Möglichkeit gewesen wäre, ihn noch mehr an sich zu binden. Aber sie hatte nicht geglaubt, dass das nötig war, hatte einfach nicht daran gedacht, dass sie so etwas hätte tun müssen. Dass er von seinem Versprechen zurücktreten, die Verlobung auflösen, sie sitzen lassen würde.


    Hätte Seiana in diesem Moment die Distanz zu sich und der Situation aufbauen können, die sie sich eigentlich wünschte und im Grunde von sich erwartete, hätte sie der Iunia vielleicht sogar Respekt gezollt dafür, wie sie da stand und nicht zurückwich, obwohl ihr anzusehen war, wie schwer ihr das fiel, wie unwohl sie sich fühlte. Aber Seiana fehlte diese Distanz. Sie schaffte es nicht, sie aufzubauen. „Dann hast du ja gesagt, was du sagen wolltest, Iunia.“ Die gleichen Worte wie vorhin. Seiana wählte sie nicht bewusst so, aber sie wusste auch nichts anderes zu sagen. Es gab nichts zu sagen. Sie konnte Axilla nicht verzeihen. Sie konnte ihr nicht einmal glauben, dass sie es ernst meinte. Man nahm einer anderen Frau nicht einfach so den Verlobten weg, schon gar nicht dann, wenn bereits der Hochzeitstermin stand. So etwas passierte nicht einfach so. Davon war Seiana überzeugt. Und Bitterkeit, gepaart mit Eiseskälte, nahm von ihrem Inneren Besitz.

    Seiana bemerkte, wie Axilla zu schrumpfen schien, wie sie immer kleiner wurde, innerlich. Und einem Teil von ihr gefiel das. Gefiel es zu sehen, dass sie so auf ihre Worte reagierte. Einem hässlichen Teil von ihr, der durch Bitterkeit und Eis nur genährt wurde. Sie hatte genug von Axilla gehört und gesehen, um im Grunde ihres Herzens zu wissen, dass sie sie traf mit der Unterstellung, sie hätte keine Ehre. Aber Seiana konnte auch nicht anders. Und ob es die Iunia traf oder nicht, Seiana dachte auch tatsächlich so: sie hatte keine Ehre. Nicht wenn sie es fertig brachte, etwas derartiges zu tun. Dass sie darunter litt, zeigte nur, dass sie kein abgebrühter Mensch war, aber es änderte nichts daran, dass es falsch und ehrlos und hinterhältig gewesen war, was sie getan hatte. Sie hatte einen Mann gesucht, und sie war mit Caius ins Bett gesprungen. Für einen winzigen Moment kräuselten sich Seianas Lippen bitterspöttisch. Sie liebte ihn. Genau.


    Und dann sprach Axilla wieder. Und was sie sagte, ließ das Eis in Seianas Innerem von einem Moment zum anderen schier explosionsartig sich ausbreiten. Alles schien sich zu überziehen mit eisigen Splittern, glitzernden Kristallen, die alles dämpften, als sie begriff. Begriff. Axilla… war… schwanger? Seiana starrte sie einfach nur an, und obwohl ein Teil ihrer Selbst verzweifelte darum bemüht war, eben nicht zu zeigen, dass sie das nicht gewusst hatte, nicht zu zeigen, wie sehr sie das überraschte, konnte sie doch nicht verhindern, dass, auch wenn ihre Miene wie gefroren war, allein durch ihre Sprachlosigkeit klar wurde, dass sie ahnungslos gewesen war. „Was?“ wisperte sie. Schwanger? Sie war… Seiana wusste in diesem Moment nicht, was sie denken sollte. Axilla war schwanger. Und angeblich hatte sie versucht, es abzutreiben. Ohne es Caius zu sagen. Aber es hatte nicht geklappt. Sie war immer noch schwanger. Schwanger mit Caius’ Kind. Hatte Caius sich deswegen für sie entschieden? Seiana wusste, wie sehr er Kinder wollte. War das der Grund gewesen? Hatte er davon gewusst, bevor er sich gegen Seiana entschieden hatte? Oder war es am Ende doch nur der Sex, den Axilla ihm so bereitwillig gewährte, ungeachtet der Tatsache, dass er mit einer anderen verlobt gewesen war? Spielte es überhaupt eine Rolle, für ihre Situation jetzt? Ein Kind. Axilla trug Caius’ Kind, und wenn die Götter auf ihrer Seite waren, würde es heranreifen und geboren werden und von seinem Vater angenommen werden können, was es zu einem richtigen, echten Kind machen würde. Und die beiden zu einer Familie. Aber Seiana wurde in diesem Moment noch klarer, warum Axilla so verzweifelt auf der Suche nach einem Mann gewesen war. Vielleicht war auch gar nicht Caius der Vater, Seiana traute es Axilla durchaus zu, mit mehr als nur einem ins Bett gesprungen zu sein, nachdem sie generell auf derartige Dinge keinen Wert zu legen schien, aber als sie gemerkt hatte, dass sie schwanger war, und dass die Abtreibung fehlgeschlagen war, war offenbar sogar ihr klar geworden, dass sie einen Ehemann brauchte. Und sie hatte sich den genommen, den sie am leichtesten, am schnellsten hatte kriegen können. Aber: sie könne ja nicht anders, als so zu fühlen. Genau.


    „Ein bisschen zu spät, um sich darüber Gedanken zu machen, findest du nicht?“ Seianas Stimme war nun fast eisig, aber nicht klirrend, nicht schneidend, sondern eher dumpf. Dass sie mit diesem Satz mehr oder weniger eingestand, dass die beiden ihr tatsächlich weh getan hatten, fiel ihr gar nicht auf.

    Seiana erwiderte Septimas Lächeln unverbindlich. Sie hoffte ebenfalls, dass die beiden die Unstimmigkeit hatten ausräumen können. Sie hatte nicht die geringste Lust auf eine weitere Szene wie jene in der Öffentlichkeit. Aber sie war sich nicht so sicher, ob sie Caius darauf überhaupt noch einmal ansprechen sollte – oder wollte. Dann hörte sie allerdings, ein wenig überrascht, das Angebot der Tiberia, sich noch weiter zu unterhalten. Seiana musterte sie kurz und überlegte, wo das Interesse wohl herkam – aber sie hatte sicherlich nichts dagegen, weitere Kontakte zu knüpfen und zu pflegen. Sie warf dem Senator einen Blick zu und lächelte auch ihn an, als dieser wiederholte, dass er die Entschuldigung annahm – mit einer Betonung, die Seiana keineswegs entging. Sie würde mit Caius noch einmal über dieses Thema reden müssen, das war ihr klar. Wenn sie wirklich Schadensbegrenzung betreiben wollten, würde auch er hierher kommen müssen. „Ich danke euch dafür. Und dir, Tiberia, danke ich für dein freundliches Angebot – im Augenblick habe ich nicht allzu viel Zeit, aber ich würde mich gerne einmal mit dir treffen. Wann würde es denn dir passen?“


    Als der Sklave dann hinzutrat und eine Botschaft von Aurelius Corvinus überbrachte, wusste Seiana nicht so recht, wie sie sich fühlen sollte. Einerseits gewährte ihr das Aufschub, andererseits musste sie so nur noch länger warten – denn dass sie sich auch bei ihm persönlich entschuldigen wollte für den Vorfall, stand für sie außer Frage. „Nun“, antwortete sie Ursus, „es wäre mir durchaus Recht, wenn ihm übermittelt werden könnte, dass ich hier war um mich für das Vorgefallene zu entschuldigen. Er ist mein Patron, musst du wissen, daher ist es mir wichtig, dass auch er das weiß.“ Seiana warf dem wartenden Sklaven einen kurzen Blick zu, aber es war die Sache des Aureliers zu entscheiden, ob er Corvinus das persönlich sagen oder doch durch den Sklaven überbringen lassen würde. „Seinen vorgeschlagenen Termin in drei Tagen werde ich gerne dennoch annehmen. Ich habe noch einige andere Dinge mit ihm zu besprechen, ich wäre ohnehin dieser Tage auf ihn zugekommen bezüglich eines Termins.“

    Seiana starrte auf die Tür und konnte nicht anders als an das letzte Mal zu denken, als sie hier gewesen war. Sie hatte sich mit Faustus gestritten, schon wieder. Und sie hatte versprochen, ihren Verlobten vorzustellen. Sie schloss die Augen und drängte die Bitterkeit zurück, verbarg sie unter dem Eis, das sie dieser Tage umgab wie einen Kokon. Entschlossen öffnete sie die Augen wieder und klopfte an, und als Livianus sie herein gebeten hatte, betrat sie zögernd sein Officium. „Salve, Onkel. Ich würde gerne etwas mit dir besprechen. Sofern du einen Augenblick Zeit für mich hast.“

    Seiana starrte ihrem Bruder fassungslos hinterher, als der das Officium verließ. Einfach so. Ihr noch nicht einmal die Chance gab, noch etwas zu sagen. Der flüchtete, wie schon beim letzten Mal, als sie aneinander geraten waren wegen diesem Thema. Machte sie denn tatsächlich alles falsch? Was um alles in der Welt sollte sie denn tun, was erwartete er von ihr? Sie presste die Lippen aufeinander und rang um Selbstbeherrschung, wenigstens so weit, dass sie ihm nicht hinterher lief oder hinterher brüllte.


    Und dann spürte sie eine Bewegung – und eine Hand auf ihrer Schulter. Livianus. Seiana hatte kurzfristig vergessen, dass ihr Onkel auch noch hier war. Und sie spürte Verlegenheit in sich aufsteigen, weil sie sich so hatte gehen lassen, vor ihm. Aber seine Worte taten ihr gut, vor allem nach dem, was Faustus gerade von sich gegeben hatte. „Ich… Ja. Ich werde mich um ein Treffen kümmern.“ Und wenn sie Caius hierher schleifen musste… „Danke, Onkel Livianus.“ Sie sah endlich zu ihm hoch und lächelte, wenn auch etwas schwach. „Ich denke, ich werde jetzt auch gehen. Ich gebe dir Bescheid, sobald ich einen Termin weiß für das Essen.“ Noch ein Lächen, dann verabschiedete sie sich endgültig und verließ ebenfalls das Büro.

    Seiana war versucht, sich über die schmerzende Stirn zu reiben, aber sie unterdrückte den Impuls im letzten Moment und strich sich nur eine nicht vorhandene Strähne hinter das Ohr. „Nein“, antwortete sie nach einem Moment. „Nein, das erwarte ich nicht.“ Aber bei ihr war das noch mal etwas anderes. Als Frau hatte sie nun mal kein Prae- und Cognomen, das eine Unterscheidung im Bekanntheitsgrad noch einmal mehr ermöglichte. Sie würde sicher nicht so weit gehen, ihn von nun an Aelius zu nennen. Aber sie hatte wenigstens vor, sich wieder an das distanziertere Archias zu gewöhnen. Nur hatte sie nicht gedacht, dass es so schwer sein würde, wenn sie ihm gegenüber stand. Dass es ihr, nach all der Zeit, die sie ihn nun schon Caius nannte, so… nun ja… falsch vorkommen würde. Sie kannten sich einfach – wenn auch lange nicht so gut, wie Seiana geglaubt hatte. Sie hätte nie geglaubt, dass Caius sie sitzen lassen würde…


    „Nun.“ Sie räusperte sich, ein wenig verlegen. Ihr Kopf schien zu dröhnen, und es fiel ihr schwer, die Fassade aufrecht zu erhalten. Höfliche Konversation zu betreiben. Seiana war dankbar, als in diesem Moment ein Sklave hereinkam und Getränke brachte. „Möchtest du etwas?“ Sie selbst ließ sich einen Becher Wasser geben, teils, weil ihre Kehle tatsächlich wie ausgedörrt schien, teils, weil sie – was ihr selten genug geschah – das Gefühl hatte, etwas zum Festhalten zu brauchen. Es hatte einen Grund gehabt, warum sie ihm geschrieben hatte. Sie fühlte sich nicht so wirklich in der Lage, mit ihm über diese Dinge zu reden. Sie hatte gehofft, das schriftlich klären und auf jeglichen weiteren Kontakt verzichten zu können.

    Fast konnte man Seianas Blick interessiert nennen. Auf kühle Art interessiert. Sie tat alles, um nicht zu zeigen, wie sie sich innerlich fühlte. Ein Gespräch mit Corvinus würde also nicht mehr nötig sein, genauso wenig wie die Rückreise nach Alexandria. Das von Axilla bestätigt zu hören, von ihr zu hören, dass Caius sich tatsächlich für sie entschieden hatte, mit allen Konsequenzen und einer baldigen Hochzeit offenbar, einer Hochzeit, die ihre hätte sein sollen, versetzte ihr nur noch einen weiteren Stoß. Die vertrautere Anrede, die Versicherung, sie hätte alles ehrlich gemeint, half da nichts. Drang nicht vor. Das Eis in Seiana ließ nur das zu, was es verstärkte. Und sprach Axilla davon, dass es etwas zu verbergen gab. Was zu verbergen? Dass sie und Caius zusammen waren, dass sie offensichtlich mit schöner Regelmäßigkeit im Bett landeten, dass sie sich so sehr begehrten, dass sie noch nicht einmal bei einem Anlass wie dem Essen mit Bekannten die Finger voneinander lassen konnten? Nicht einmal dann, als sie, Seiana, eigentlich noch die Verlobte Caius’ gewesen war? „Nein“, lächelte sie kühl. „Etwas zu verbergen gibt es jetzt nun wahrhaftig nichts mehr.“ Auch wenn es Seiana lieber war, wenn nicht unbedingt die Runde machte, dass sie betrogen worden war. Oder wie lange das schon so ging – noch dazu ohne dass sie etwas gemerkt hatte. Falls es bekannt wurde, und falls sie jemand darauf ansprach, könnte sie verbreiten, sie hätte davon gewusst… und hätte es stillschweigend akzeptiert, wie so viele Frauen. Immerhin ging es bei einer Ehe um andere Dinge. Nur die Tatsache, dass Caius ihr dann doch die andere vorgezogen hatte, das war etwas, was sie nicht würde so darstellen können, dass es positiv für sie wirkte. Ganz sicher nicht. Es würde immer so wirken, dass sie ihn nicht hatte halten können. Dass das, was sie zu bieten hatte, nicht genug gewesen war für ihn. Und dass sie nicht gemerkt hatte, dass seine Affäre zu einer tatsächlich Gefahr wurde für ihre Verlobung. Vielleicht war es da sogar besser, die Wahrheit zu verbreiten – dass sie tatsächlich nichts gewusst hatte, bis zum Schluss…


    Das Angebot mit dem Essen lehnte die Iunia ab, und etwas anderes hatte Seiana nicht wirklich erwartet. Was allerdings dann kam, erwischte sie unvorbereitet. Sie hatte nicht gedacht, dass ein erneuter Schwall von Worten kam. Eine hervorgesprudelte Erklärung, Verteidigung, Entschuldigung. Seiana wollte das gar nicht hören. Sie wollte nicht hören, was für Gründe Axilla gehabt hatte, oder Caius. Sie wollte nicht hören, dass sie sich liebten. Und sie wollte erst recht nicht hören, dass Caius angeblich sie geliebt hatte. Und sie glaubte ihr auch nicht. Sie glaubte ihr nicht, dass sie sich nicht hatte dazwischen drängen wollen, denn warum hatte sie es sonst getan? Sie glaubte ihr nicht, dass sie sich gewünscht hätte, dass Seiana und Caius miteinander glücklich hätten werden können… denn warum sonst hatte sie genau das verhindert. Hatte die Chance auf genau das zerstört, indem sie sich an Caius herangemacht hatte, immer und immer wieder. Warum hatte Caius in den letzten Wochen nur noch so wenig Zeit für sie gehabt? Jetzt war Seiana das sonnenklar. Natürlich hatte er keine Zeit gehabt, weil er sie mit ihr verbracht hatte. Mit dem Mädchen, das vor ihr stand. So betrachtet war es wohl auch selbstverständlich, dass er ihr seine Geschäfte anvertraut hatte. Sie musterte Axilla, wie sie auf sie zukam, rührte sich selbst nicht vom Fleck. Und als die Iunia fertig war mit ihrem Schwall, neigte sie sich leicht nach vorn, zu ihr hin. „Leid tut es dir also? Ich wüsste nicht, warum. Es gibt doch keinen Grund, warum es dir leid tun könnte.“ Das noch vor keinen Grund schwang so deutlich in ihren Worten und ihrem kühlen Lächeln mit, als hätte sie es gesagt, aber Seiana hütete sich, es laut auszusprechen. Sie würde der Iunia nicht explizit drohen, würde ihr nicht explizit sagen, dass Seiana alles andere tat als ihr zu verzeihen. Nein. Sie blieb höflich. „Es muss schwer sein, Dinge zu tun, die man eigentlich nicht tun will. Das zu vereiteln, was man sich doch eigentlich… wie hast du gesagt? Von Herzen wünscht. Ich habe damit offen gestanden keine Erfahrung, ich handle danach, was die Ehre – meine und die meiner Familie – mir gebietet.“ Die Iunia hatte keine Ahnung. Hätte sie auch nur einen Funken Ehre im Leib, sie hätte sich nicht dazwischen gedrängt. „Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie schwer das für dich gewesen sein muss.“

    Seiana regte sich auch weiterhin kaum. Äußerlich scheinbar ungerührt hörte sie zu, wie Axilla reagierte auf das Spärliche, was sie ihr hingeworfen hatte. Sie wusste ohnehin nicht so recht, was die Iunia hier tatsächlich wollte. Seiana bezweifelte, dass es ihr tatsächlich darum ging, sich zu entschuldigen. Entweder wollte sie nur ihr eigenes Gewissen erleichtern und sich – nachträglich! – quasi Seianas Erlaubnis und Segen einholen für das, was sie abgezogen hatte, oder sie wollte sich, wenigstens insgeheim, lustig machen über sie. Und Seiana war nicht gewillt, ihr eines dieser beiden Dinge auch nur ansatzweise zu gewähren.


    „Nachdem du es gesagt hast, weiß ich es jetzt.“ Sogar ein kühles Lächeln schaffte es auf ihre Lippen. Immer noch kein Wort davon, dass sie die Entschuldigung akzeptierte. Es wäre gelogen gewesen, und Seiana hatte nicht vor, Axilla anzulügen. Sie hatte es gar nicht nötig. Sie war eine Decima. „Übrigens, ich hoffe du siehst es mir nach, dass ich nun doch nicht mit meinem Patron über deine Angelegenheit spreche. Es hat sich ja augenscheinlich erledigt. Kann ich davon ausgehen, dass du nun doch nicht im Frühjahr nach Alexandria zurückkehren wirst?“ Ihr Lächeln blieb ebenso kühl wie ihre Stimme es war. Seiana wollte keine Konversation anfangen, weil sie höflich sein wollte – nein, sie bemerkte die kleinen Zeichen der Verlegenheit und des Unwohlseins, die Axilla zeigte, und sie reagierte darauf. Sie wollte es der Iunia nicht leicht machen. Das Eis in ihrem Inneren ließ es nicht zu. Zugleich wäre es aber auch niemals in Frage gekommen, dass sie ihr offen die Meinung sagte, dass sie sie herunterputzte oder ähnliches. Es hätte Schwäche gezeigt. Und es wäre unhöflich gewesen. Es sollte keiner von ihr behaupten können, dass sie nicht wusste, was sich gehörte. Dass sie sich benommen hätte wie eine Furie. Oder dass sie sie hinausgeworfen hätte, kaum dass sie einen Schritt über die Schwelle gemacht und ihr Sprüchlein aufgesagt hatte. Wenn Axilla später über diesen Besuch sprach, sollte sie sagen können, dass sie mit ausgesuchter Höflichkeit behandelt worden war. Seiana wollte nicht, dass Axilla einen Grund hatte, ihr einen Vorwurf zu machen, und sei es nur den Vorwurf mangelnder Gastfreundschaft. Was hinter der Fassade steckte, war etwas völlig anderes, und Axilla konnte darüber mutmaßen, was sie wollte, war es doch keine herzliche Höflichkeit, die Seiana ausstrahlte, sondern eine kalte. Das Eis begann sich um sie zu legen wie ein Kokon… Aber Seiana hatte nicht vor, ihr etwas zu liefern, worüber sie sich tatsächlich beschweren konnte. Nichts, was Hand und Fuß gehabt hätte. Mit einer leichten Handbewegung bedeutete sie dem Sklaven an der Tür, sich zu nähern. „Kann ich dir noch etwas anbieten? Eine Kleinigkeit zu essen?“

    Die Nacht war keine gute gewesen. Wie schon nach ihrem Streit mit Faustus hatte Seiana sich irgendwann Wein bringen lassen, viel Wein. Elena hatte versucht zu widersprechen, aber als Seiana kratzbürstig geworden war, hatte sie es aufgegeben. Einen besseren Schlaf hatte ihr das trotzdem nicht geschenkt – ganz im Gegenteil hatte sie das Gefühl, nur noch unruhiger geschlafen zu haben, noch häufiger aufgewacht zu sein, als es wohl sonst der Fall gewesen wäre. Andererseits: ohne den Wein wäre sie vermutlich überhaupt nicht eingeschlafen. Entsprechend litt sie nicht nur etwas unter Kopfweh, als ein Sklave ihr Cubiculum betrat und ihr mitteilte, dass ihr Verlobter – Seiana hatte sich noch nicht die Mühe gemacht, die Kunde im Haus zu verbreiten – im Tablinum auf sie warte. Und, es mochte am Kopfweh und ihrer allgemein schlechten Konstitution an diesem Tag liegen, Seiana schwindelte es. Sie sah sich im Augenblick nicht wirklich in der Lage, schon wieder mit ihm zu reden. Sie fühlte sich nicht imstande, diesmal Beherrschung zu üben. Gestern… gestern war es kein Problem gewesen, weil sie einfach… wie erstarrt gewesen war, weil sie nichts gefühlt hatte, was sich hätte zeigen können. Heute sah das anders aus. Schon allein wegen dem Wein.


    Seiana atmete tief ein – sie weigerte sich einzugestehen, dass es ein Seufzer war – und erhob sich schließlich. Sie konnte ihn nicht nicht empfangen. Es wäre unhöflich. „Sorg für Getränke.“ Sie hatte keinen großen Sinn für Höflichkeit. Sie war es gegenüber Gästen, aber gegenüber einem Sklaven brachte sie es nicht fertig im Moment. Einen Augenblick gönnte sie sich noch, in dem sie versuchte, sich zu sammeln, dann verließ sie ihr Gemach und machte sich auf den Weg ins Tablinum, das sie kurze Zeit später auch betrat. Und dort stand er. Seiana stockte eine Winzigkeit, fühlte das Eis in ihrem Inneren wieder, fühlte, wie es knackte und knarrte, dann überwand sie den Moment und schloss die Tür hinter sich. Eine Schriftrolle war in seiner Hand, und nun ahnte Seiana, warum er hier war. „C-“, setzte sie an und verstummte dann wieder. Sie hatte im Brief nicht umsonst sein Cognomen gewählt. Sie waren nicht mehr verlobt, es wäre unpassend, ihn mit seinem Praenomen anzureden. Und im Brief war das auch leicht gewesen zu tun. Nur jetzt, ihm direkt gegenüber, kam es ihr seltsam vor, ihn Archias zu nennen. Also verzichtete sie auf den Namen gänzlich. „Salve. Was führt dich her?“

    Es war nicht Elena, sondern ein namenloser Sklave der Decima, der folgenden Brief abgab für Caius.


    Salve, Archias.


    Es mag verwundern, dass ich dir nun schreibe, nachdem wir heute morgen erst gesprochen hatten, jedoch gibt es noch einige Dinge zu klären, und es ist mir lieb, dies so schnell wie möglich zu tun.
    Die Auflösung der Verlobung sollte schnellstmöglich eingetragen werden. Sofern du dies noch nicht in die Wege geleitet hast, möchte ich dich bitten, dies zu tun. Sollte es nötig oder von dir gewünscht sein, werde ich dich auch gerne begleiten ins Officium der Registratur.
    Weiterhin wurden zwar nicht explizit Verlobungsgeschenke getauscht, jedoch denke ich, dass die Taberna Medica als solches fungiert hat. Ich kann sie dir gerne wieder zurück überschreiben, so du dies möchtest, allerdings habe ich Gefallen daran gefunden. Solltest du also keine Verwendung dafür haben, möchte ich dir anbieten, sie dir zum gegenwärtigen Marktpreis abzukaufen.
    Außerdem gedenke ich, deinen Eltern zu schreiben, um mich bei ihnen für die Unannehmlichkeiten zu entschuldigen sowie anzubieten, einen Teil der Kosten für die Verlobungsfeier zu tragen. Solltest du hier Einwände haben, werde ich dies selbstverständlich unterlassen, daher wäre es mir wichtig, deine Meinung zu erfahren.
    Zu guter Letzt möchte ich dir noch mitteilen, dass ich sowohl bei Aurelius Corvinus, Aurelius Ursus und Tiberia Septima als auch bei Duccius Vala war, um mich für den Vorfall bei jener Hochzeitsfeier zu entschuldigen. Dies nur zur Information für dich, falls du gedenkst, gleiches zu tun. Es steht dir in diesem Fall frei, dich auf meinen Besuch zu beziehen, es wäre sogar geschickt, wenn du dies tust, da meine Entschuldigung für uns beide galt.


    Vale,
    [Blockierte Grafik: http://img442.imageshack.us/img442/8797/seianaunterschriftkj1.png]

    Seiana saß in ihrem Zimmer. Es war später Nachmittag geworden inzwischen. Sie hatte im Tablinum gestanden, regungslos, bis ein Sklave hinein geplatzt war und allein durch sein Auftauchen sie aus ihrer Starre gerissen hatte. Augenblicke lang hatte sie ihn angestarrt, hatte nichts geantwortet auf seine Fragen, und war dann an ihm vorbei gegangen und in ihrem Zimmer verschwunden. Und dort hatte die Eisschicht schließlich einen Riss bekommen, verursacht durch die Bitterkeit und gestützt durch die Tatsache, dass sie allein war, ohne Zeugen. Ein Aufschrei hallte durch das Zimmer, in dem Schmerz, unterdrückte Tränen und die allumfassende Bitterkeit vibrierten, eine Vase wurde gefegt von ihrem Platz und zerschellte nur einen Moment später auf dem Boden, zersprang in tausend Scherben. Anschließend presste Seiana ihre Hände vor ihr Gesicht und rang um Selbstbeherrschung. Rang darum, die Kontrolle zu bewahren. Nervös begann sie, durch ihr Zimmer zu tigern, achtete auf keinen Sklaven, der hereinsah und fragte, was los war, achtete nicht einmal auf Elena, als diese kam, fuhr sie nur an, dass sie die Scherben wegmachen sollte. Und Elena, die ihre Herrin kannte wie sonst keiner, nicht einmal Faustus, Elena, die mehr Freundin als Sklavin war, schwieg und tat einfach nur, was ihr gesagt worden war. Zum ersten Mal, seit Seiana sich erinnern konnte, fragte sie nicht nach, was los war. Das allein zeigte Seiana, welchen Eindruck sie gerade machen musste. Aber so sehr sie sich auch bemühte, es gelang ihr nicht, diesen Riss gänzlich zu kitten, nicht so schnell. Er war da. Und aus ihm trat aus, was darunter lag. Das hieß, augenblicklich sprudelte es eher.


    Irgendwann war sie doch wieder zur Ruhe gekommen, hatte aufgegeben, hin und her zu laufen. Aber immer noch hatte sie kein Wort mit Elena geredet, hatte ihr nichts gesagt. Nun saß sie einfach vor ihrem Schreibtisch und starrte vor sich hin, während das, was aus dem Riss weiterhin sickerte, an der Oberfläche gefror in der Kälte. Und schließlich, endlich, zog sie eine Feder und einen Papyrus zu sich heran. Es gab Dinge zu erledigen. Dinge zu klären. Je eher, desto besser.

    Seiana regte sich nicht. Sie regte sich nicht, als Caius ihrer Aufforderung stumm folgte und an ihr vorbei zur Tür ging. Sie regte sich nicht, als er doch noch etwas sagte. Wie sie da stand, hätte sie genauso gut eine Statue sein können, und sie gab nicht den geringsten Hinweis darauf, ob sie ihn überhaupt gehört hatte. Und selbst als die Tür tatsächlich zugefallen war, dauerte es noch lange, bis sie den Kopf drehte und dorthin anstarrte, auf den Fleck, an dem er verschwunden war. An dem er die Tür zugeschlagen hatte zwischen ihr und ihm. Die Tür zu dem, was hätte sein können.


    Im Gegensatz zu ihm wurde ihr Gefühl nicht besser.

    Es dauerte. Und dauerte. Aber Seiana wartete geduldig, ohne ein Wort zu sagen. Sie hatte ein zweites Mal dieselbe Frage gestellt. Ihretwegen konnten sie auch hier stehen bleiben und sich anschweigen, bis sie sich irgendwann verabschieden würden. Ein paar Mal öffnete sich der Mund der Iunia, aber es kam nichts hervor, und Seiana wartete nur weiter, sah sie an und sagte nichts. Tat nichts. Nichts, was es Axilla hätte leichter machen können. Denn, warum die Iunia hier war, war Seiana klar. Es gehörte nicht viel dazu, sich das zu denken. Aber sie tat ihr nicht leid, und sie hatte auch kein schlechtes Gewissen, weil sie ihr nicht half. Sie hatte der Iunia schon genug geholfen. Nein, Seiana hatte in diesem Augenblick nur bedingt – was hieß so gut wie gar nicht – ein schlechtes Gefühl dabei, die Iunia zappeln zu lassen. Und auch, als sie endlich anfing zu sprechen, ließ sie sie reden. Sie ließ sie einfach reden, sagte nichts, reagierte nicht, und als ob das eine Art Zeichen sei, redete Axilla dafür nur umso mehr, sagte immer mehr. Rechtfertigte immer mehr. Und ließ dabei doch kein Wort verlautbaren, das in Seianas Augen tatsächlich eine Rechtfertigung gewesen wäre. Sie hatte ihr den Verlobten weggenommen, hatte ihn ihr ausgespannt. So einfach war das.


    „Nun“, sagte sie schließlich. „Dann hast du gesagt, was du sagen wolltest, Iunia.“ Seiana sagte nichts davon, dass sie sie hasste. Aber sie sagte auch nichts davon, dass sie die Entschuldigung annahm. Nicht einmal davon etwas, dass sie ihr glaubte – dass sie ihr nicht hatte weh tun wollen, dass es keine Absicht gewesen war, dass es einfach passiert war. Was sie, nebenbei bemerkt, nicht tat, aber sie sagte einfach gar nichts dazu. Seiana beließ es bei diesem einen Kommentar, dass Axilla gesagt hatte, was sie hatte sagen wollen. „Gibt es sonst noch etwas, weswegen du gekommen bist?“

    Wie verblüfft Caius dreinsah, als sie die Streits erwähnte, das drang dann doch zu Seiana durch. Aber sie reagierte nicht darauf. Sie hatte ihm nicht von allen Auseinandersetzungen erzählt, und auch nicht jedes Detail. Hatte ihm nicht erzählt, wie Faustus reagiert hatte. Hatte ihm nicht erzählt, dass sie sich am Abend ihrer Ankunft in Rom sogar beinahe in die Besinnungslosigkeit getrunken hatte, weil Faustus und sie so übel gestritten hatten. Und dann sprach Caius weiter. Und Seiana… fühlte sich plötzlich, als ob sie frei mitten im Raum schweben würde. Sehen. Er wollte sie sehen. Er löste die Verlobung, und er wollte sie dennoch wieder sehen? Warum? Sie verstand es in diesem Augenblick nicht. Irgendetwas in ihrem Kopf hatte eine Barriere hochgezogen, und sie verhinderte, dass Seiana tatsächlich begriff, was Caius da sagte und warum. „Du…?“ Sie starrte ihn an, und ihre Augenbrauen zuckten ganz leicht zusammen. Sie kam nicht damit klar. Sie kam mit dieser ganzen Situation nicht klar. Und das Schlimmste war vielleicht, dass sie in diesem Moment nicht differenzieren konnte, was da alles war. Aus welchen verschiedenen Schichten das Eis bestand, und Bitterkeit, die darunter brannte. Sie mochte Caius. Sie hatte ihr Leben mit ihm verbringen wollen. Sie hatte ja gesagt, als er sie gefragt hatte, ob sie ihn heiraten wollte, und sie hatte es gemeint. Wie jeden Schritt, den sie ging, hatte sie sich auch diesen reiflich überlegt gehabt. Sie tat solche Dinge nicht spontan. Sie traf keine Entscheidung leichtfertig. Sie hatte überlegt, seit sie von Meridius erfahren hatte, dass Caius bei ihm gewesen war, und da der Antrag zu erwarten gewesen war, hatte sie in jenem Moment ja sagen können, ohne Zögern, ohne Zweifeln, und mit vollster Überzeugung. Sie liebte ihn nicht auf die Art, wie andere Menschen sich liebten, aber sie bezweifelte, ob sie dazu überhaupt in der Lage war. Sie hatte ihn gemocht… auf gewisse Art geliebt… so gut es ihr möglich war. Sie hatte nur nicht mehr zulassen können, schon gar nicht solange sie nicht verheiratet gewesen waren. Aber das änderte nichts daran, dass sie ihre Entscheidung ernst gemeint hatte. Dass sie tatsächlich und wirklich ihr Leben mit ihm hatte verbringen wollen.


    Aber da war noch mehr. Da war der Stolz in ihr. Eine weitere Schicht. Der Stolz einer Decima, den er getroffen hatte durch die Tatsache, dass er sie nicht wollte. Dass er eine andere ihr vorzog. Diese Verletzung ihres Stolzes brannte tief. Genauso wie die Verletzung ihrer Ehre. Und noch eine Schicht gab es, eine große. Sie musste heiraten. Es gehörte sich für eine römische Frau, zu heiraten. Und sie war alt, nicht alt, aber alt für eine Frau, die noch nie verheiratet gewesen war. Sie hatte die 20 schon länger hinter sich gelassen. Sie hatte sich keine Gedanken darüber gemacht, weil sie ja verlobt war, die Hochzeit in Aussicht gehabt hatte, aber jetzt… jetzt… Eine Frau in ihrem Alter, die noch nicht verheiratet war und noch nicht einmal einen Verlobten vorweisen konnte… Seiana legte zu viel Wert auf all diese Dinge, als dass ihr das nichts ausmachen würde. Und so setzte sich Schicht um eisiger Schicht zusammen um diesen bitteren, lodernden Kern in ihr, der so tief verborgen war, dass sie ihn selbst gar nicht bemerkte, so wenig, wie sie augenblicklich die Schichten analysieren und herausfinden konnte, welche ihr wie viel Schmerz zufügte und wie sie am besten damit umgehen könnte. „Ja“, antwortete sie schließlich auf seine Frage, immer noch wie erstarrt, ein riesiges Taubheitsgefühl in ihr, bedingt durch die Kälte. „Geh.“

    Seiana bedeutete dem Sklaven mit einem Wink, der Iunia das Gewünschte zu geben, während sie es mit der gleichen Handbewegung ablehnte, selbst etwas zu nehmen. Ihr Herz klopfte in ihrer Brust stetig und ruhig, als sie in sich hinein horchte. Unter einer Eisschicht, aber es war da, schlug, sandte seinen Rhythmus beständig in ihren Körper hinein. Keine Unruhe. Keine Aufregung. Seianas Blick lag auf Axilla, und unwillkürlich dachte sie an den Kuss, den die Iunia ihr gegeben hatte. Es schien wie eine Ewigkeit her zu sein. Sie schien sich nicht einmal mehr richtig erinnern zu können. Und dann tauchte ein weiteres Bild auf vor ihrem inneren Auge, ein Bild, wie Axilla sich an Caius schmiegte, wie er sie streichelte, wie sie wohlige Laute von sich gab… während alle zusehen konnten. Schlampe, schoss es ihr plötzlich durch den Kopf, während ihr Blick unbewegt blieb. Seiana wusste noch, wie sie sie empfangen hatte, als Axilla eigentlich zu Livianus wollte und dieser nicht hier gewesen war. Wusste noch, wie sie ihr angeboten hatte, ihr bei der Suche nach einem geeigneten Mann behilflich zu sein. Sie hätte nie gedacht, dass sie ihr auf diese Art behilflich sein würde. Dass Axilla sich auf ihrer Suche nach einem Ehemann Seianas Verlobten aussuchen würde.


    „Sicher“, antwortete sie. Dass die Iunia ihrem Blick auswich, bemerkte sie, aber sie konnte es nicht so ganz einordnen. Schlechtes Gewissen, vermutete sie. Natürlich. Sie ist mehr. Mehr. Das Mädchen vor ihr, das so unsicher und nervös wirkte, schien ihr nicht mehr zu sein. Nicht mehr als sie. Ganz sicher nicht mehr als eine Decima. Seiana sah sie an, und die Eisschicht in ihrem Inneren begann plötzlich zu wachsen, nicht weil Seiana es nicht verhindern konnte, sondern weil sie es wollte. „Wie kann ich dir behilflich sein?“ wiederholte sie, beinahe schon unnatürlich ruhig.