Beiträge von Decima Seiana

    Seiana grüßte Piso zurück, als dieser den Raum betrat, aber nach dem denkwürdigen Abend im Hause der Pompeier war sie… nun ja… nicht ganz so erpicht darauf, mit ihm in ein Gespräch zu kommen. Sie konnte ihm nicht ewig aus dem Weg gehen, aber sie befürchtete, er könnte sie auf den Kuss mit Axilla ansprechen, und das wollte sie tunlichst vermeiden. Vielleicht lag es daran, dass Piso sich nicht ganz sicher war, ob sie ihn erkannt hatte.


    Als der Unterricht dann losging, war sie zunächst die einzige, die etwas sagte – was, nach einer kurzen Pause, in der jeder schwieg, von der Griechin gleich verbessert wurde. Seiana neigte sich etwas vor. Sie hatte sich nur ansatzweise mit diesem Thema beschäftigt – früher hatten sie es hin und wieder gestreift, in ihrem Unterricht, und jetzt vor dem Kurs hatte sie das ein oder andere gelesen, genug um zu wissen, dass die Zeit, die sie hier vorhatte zu verbringen, keine Zeitverschwendung sein würde. Natürlich reichte es nicht sonderlich tief, das konnte es gar nicht. Aber irgendwie kratzte es Seiana doch ein bisschen an ihrem Stolz und ihrem Ehrgeiz, dass sie so explizit verbessert wurde. Sie hörte zu, was die beiden anderen sagten, und musterte dann Piso, und bei dem, was er sagte, vergaß sie, dass ihr der Kuss nach wie vor peinlich war, den er miterlebt hatte. „Moment“, meinte sie. „Der Ausgangspunkt ist doch, dass Pythagoras nichts hatte, womit er Musik messen konnte. Wäre er gehörlos gewesen, hätte er kaum diese Methode entwickeln können, irgendwie musste er sie ja beurteilen können. Er musste es hören, um es bestimmen zu können – und dem fehlt die mathematische Grundlage. Er hat ausprobiert und zugehört. Dass sich das Ergebnis auf mathematische Art darstellen lässt, heißt nicht, dass die Methode mathematisch ist. Nimm Pythagoras das Monochord weg – wie will er dann die Oktaven bestimmen? Oder gib einem Gehörlosen ein Monochord, dessen Saite länger oder kürzer ist – dann kann er zwar die Oktaven bestimmen, aber er kann nicht die Töne benennen.“ Nein, Seiana erschien das irgendwie unzureichend.

    Ihr Onkel sagte zunächst gar nichts, und es fiel Seiana schwer, in seinem Gesicht zu lesen, ein Anzeichen dafür zu entdecken, was er wohl denken mochte. Faustus allerdings hielt sich keineswegs zurück. Was er allerdings sagte, führte dazu, dass ihr erst mal die Luft weg blieb. Er… wechselte auf einmal die Taktik. Er wechselte die Taktik! Sie war die ganze Zeit davon ausgegangen, dass er sauer auf sie wäre – gut, natürlich auch auf Caius, das hatte sein Brief ja nur allzu deutlich gemacht, aber sie hatte gedacht, dass ein Großteil einfach auf sie gerichtet war. Und darauf hatte sie sich vorbereitet. Dass er jetzt aber so auf Caius losging, überraschte sie. Und es ließ sie gedanklich straucheln, weil ihren Argumenten der Boden entzogen wurde, waren sie doch auf der Annahme gebaut, dass sie hier die Böse war, die in Eigenregie gehandelt hatte, und nicht Caius, der unverschämt war und ihre Familie – und ganz nebenbei sie selbt – überging. Angeblich. Als ob sie das mit sich machen lassen würde!


    Es war ganz gut so, dass Faustus einen ganzen Monolog brachte. Seiana hätte zuerst nicht wirklich gewusst, was sie sagen sollte, sie musste sich erst sammeln, und sie wünschte sich bei den Göttern sie könnte sich jetzt Notizen machen, damit sie auch ja nichts verpasste oder vergaß, worauf sie reagieren wollte und sollte. Und es schien immer schlimmer zu werden. Er zitierte etwas aus einem Brief, den Caius ihm angeblich gehabt hatte, und hier war das Schlimmste, dass Seiana sich tatsächlich vorstellen konnte, dass Caius so etwas geschrieben hatte. Sie schloss ganz kurz die Augen und starrte Faustus dann an, wollte ihm am liebsten den Mund verbieten oder ihn sonst wie dazu bringen, aufzuhören. Was sollte das denn? Hatte er das nicht als Spaß nehmen können? Und wenn er es schon nicht als Spaß nahm: musste er das ausgerechnet vor ihm Onkel breit treten? Aber Faustus dachte scheinbar gar nicht daran, aufzuhören. Im Gegenteil. Und Seiana blieb nichts anderes übrig, als da zu sitzen und sich alles anzuhören. Und sich zu sammeln für den Gegenschlag. Was Faustus aber zum Schluss seiner kleinen Rede verlauten ließ, das wischte alles weg, was Seiana sich in den Momenten davor zurecht gelegt hatte. Alles. „Du hast WAS?!?“ brach es aus ihr heraus, ungeachtet der Tatsache, dass Livianus im Raum war, und sie sprang auf. In dem Moment war ihr egal, was sich schickte und was nicht. Caius hatte sich also tatsächlich mit Faustus getroffen – aber ganz anders, als sie es geglaubt, gewollt oder erwartet hätte. „Du hast dich mit ihm geprügelt? Faustus, was soll das? Du beschwerst dich, dass er angeblich keinen Respekt vor unserer Familie hat und damit wohl auch vor mir, und du stellst solche Sachen an? Wie sieht es denn mit deinem Respekt vor mir aus?“ Vielleicht wurde sie jetzt unfair, aber das war ihr gleichgültig. Faustus hatte auch nicht gerade auf Tiefschläge verzichtet. Sie fuhr sich durch die Haare und ging ein paar Schritte in dem Officium. „Bona Dea, ich weiß echt nicht was ich noch machen soll!“ Sie hätte Abbitte geleistet, hier, in diesem Büro, vor diesen beiden Männern, obwohl sich alles in ihr dagegen gesträubt hätte für ein Verhalten ihrerseits zu Kreuze zu kriechen, was sie zwar als… ungewöhnlich und nicht den Traditionen entsprechend sah, aber auch nicht notwendigerweise als falsch. Sie hätte es getan. Aber sie konnte das nicht tun, wenn es hier um ihren Verlobten ging. Und nicht, wenn Faustus ihm Dinge vorwarf, die sie nicht gänzlich bestreiten konnte – Dinge, die sie aber gerade mochte an Caius. Auch wenn sie sich im Augenblick wünschte, er wäre ein wenig gesellschaftskonformer.

    „Die Freude ist ganz auf meiner Seite, Prudentius“, erwiderte Seiana die Begrüßung lächelnd, und nickte grüßend dem letzten Anwesenden zu, der von Balbus vorgestellt wurde: „Salve, Duccius.“ Während Vespa sie zu den Klinen dirigierte, stellte sich heraus, dass Caius und der Duccier sich kannten. Als Vala von ihr als Caius’ Gattin sprach, zuckte eine ihrer Augenbrauen überrascht, aber da hatte sie sich noch unter Kontrolle – als der Duccier ihr dann aber ein mehr als deutliches Kompliment machte, konnte sie doch nicht verhindern, dass sie sichtbar nach oben rutschten. Juwelen? Er verglich sie mit Juwelen? Seiana musterte ihn kurz, unschlüssig, ob und wie sie darauf reagieren sollte. Sie war mit drei Brüdern groß geworden, sie war mit ihnen unterwegs gewesen, sie hatte sich lange Zeit nicht für Männer auf diese Art interessiert. Sie war ohnehin nicht der Typ, der leicht anfing zu schwärmen, und sie hatte immer dazu tendiert, derlei Avancen schlicht zu übersehen, ob nun bewusst oder unbewusst. Und als dann ihre Mutter krank geworden war, hatte sie dafür ohnehin keinen Kopf mehr gehabt. Caius war der erste Mann gewesen, den sie wirklich auf diese Art wahrgenommen hatte… und Caius machte ihr nicht diese Art von Komplimenten, wofür Seiana auch ziemlich dankbar war. Es passte nicht zu ihm, und sie wollte das auch nicht wirklich. Mochte es zu so einem Anlass und bei dem minimalsten Grad an Bekanntschaft einfach dazu gehören – Seiana wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte, und das gefiel ihr nicht. Es gefiel ihr nie, wenn sie nicht wusste, wie sie reagieren sollte.


    Sie schenkte ihm dennoch ein Lächeln – es wäre unhöflich gewesen, gar nicht zu reagieren –, das ihre Augen aber nicht erreichte. Caius berichtigte die Annahme, dass sie bereits verheiratet seien, weshalb Seiana dazu auch nichts weiter sagte, obwohl Caius ein wenig… zögerlich dabei zu sein schien, auch wenn sie nicht sagen konnte warum. Überhaupt schienen sie sich seltsam zu benehmen, denn dass der Duccier sie im Anschluss noch einmal und genauer musterte, bemerkte Seiana durchaus. Sie erwiderte seinen Blick für einen Moment und sah dann zu Caius, aber die beiden Männer begannen nun ein Gespräch, und Seiana beschloss, es zu ignorieren. Und erst als ein ihr bekannter Name fiel, richtete sie sich etwas auf. „Aurelius Corvinus?“ Wie lange war es her, seit sie ihn das letzte Mal besucht hatte? Lange genug, dass es wieder Zeit wurde, vermutete sie. „Wie geht es ihm zur Zeit?“

    Grau scheint ihr der Tag zu sein, ein helles, leeres Grau, inhaltslos und leicht, aber leicht auf eine Art, die schwer ist – ein Grau, in dem man sich selbst verliert, ein großes, verschlingendes Nichts. In diese Art von Grau scheint ihr der Tag getüncht zu sein. Was faszinierend ist angesichts der Tatsache, dass der Himmel ein zartes Blau trägt… oder auch wieder nicht, ist das Blau doch so zart, dass es beinahe durchscheinend wirkt. So durchscheinend, dass man die Leere, das Nichts dahinter erahnen kann. So durchscheinend, wie sie sich fühlt.


    Leise waren Seianas Schritte, die sie zur Ara lenkten, beinahe lautlos. Sie hatte vorbereitet, was nötig war, hatte es schon in der vergangenen Woche vorbereitet gehabt, aber es schien bisher nicht der passende Zeitpunkt gewesen zu sein. Immer war etwas zu tun gewesen… Seiana wusste, tief in ihrem Herzen, dass es nicht daran lag, dass sie zu viel zu tun hatte, dass sie ihr Opfer aufschob. Es hatte ganz andere Gründe. Es hatte dieselben Gründe, aus denen ihr Schritt auch jetzt langsam und zögerlich war.


    So viel geschieht in letzter Zeit. Viel zu viel. Sie fühlt sich, als sei sie nicht mehr in der Lage Schritt zu halten, als wüchse ihr alles über ihren Kopf. Altes, Vergangenes, längst hinter sich gelassen Geglaubtes bricht wieder über ihr herein. So gut ist sie darin, zu verbergen und zu verdrängen… Und doch sind da die Momente, in denen sie dazu nicht in der Lage ist. Momente, in denen sich offenbart, was ihrem Inneren zugrunde liegt. Der Bodensatz der Seele. Alte Narben, alte Wunden, nie vollständig verheilt. Wie können Wunden heilen, wenn nie die Zeit, der Raum zum Heilen gelassen wurde? Wie kann Raum zum Heilen gelassen, geschaffen werden, wenn die Konfrontation mit dem Schmerz so viel schlimmer ist als die Flucht… So lange die Balance zu halten ist, so lange es einen nicht einholt, ist es einfacher, zu fliehen. Aber irgendwann holt es einen ein. Wie eine Lawine, so unaufhaltsam. Irgendwann holt einen alles ein.


    Langsam und zögerlich trat sie vor die Ara. Das Kohlebecken glühte vor sich hin, tauchte ihre Umgebung in ein sanftes Licht. Seiana stellte den Korb ab, den sie dabei hatte, und holte Salz, Brot und Wein hervor, verteilte sie mit Bewegungen, die nur deshalb ruhig waren, weil sie sich jahrelang in Kontrolle geübt hatte. Bereitete sie vor und opferte sie schließlich.


    So durchscheinend fühlt sie sich… Und es sind diese grauen Tage, in denen sie realisiert, dass sie sich nie Zeit zum Trauern genommen hat. Oh, sie hat getrauert. Sie hat getrauert. Aber sie hat sich… nie Zeit dafür genommen. Raum gelassen. Hat Trauer und Verlust und Schmerz nur so weit zugelassen, wie unumgänglich war, um nicht zu zerbrechen. Aber es rächt sich, irgendwann. Es holt einen ein. Es holt sie ein. Und alles scheint plötzlich in Frage gestellt. Ein ganzes Leben auf dem Prüfstand. Ein ganzes Leben vor Gericht, vor einem Richter mit kalten, unbarmherzigen Augen.


    Seiana kam einfach nicht umhin, sich zu fragen, ob es richtig war, was sie tat. Wie sie ihr Leben lebte. Sie entzündete ein Räucherstäbchen und dachte an ihre Mutter, zum ersten Mal seit langer Zeit bewusst, ohne dass von außen ein entsprechender Auslöser gegeben war. Sie hatte sie geliebt. Aber sie hatte immer damit leben müssen, dass sie – in ihren eigenen Augen wenigstens – nie an erster Stelle gestanden hatte. Das dritte Kind von vieren. Ein Mädchen. Das noch dazu bei weitem nicht dem Bild eines braven Mädchens entsprach, wie sie es hätte sollen, das zu wild, zu unbändig, zu stolz gewesen war. Das die Erwartungen der Mutter nicht erfüllt hatte. Und dann war ihre Mutter gestorben, gestorben, bevor sich daran etwas hatte ändern können. Was ihr blieb, war das schmerzhafte Gefühl, nie genug gewesen zu sein. Genauso wie das schmerzhafte Gefühl, dem Herzen ihrer Mutter nie so nahe gewesen zu sein wie ihre Geschwister.


    Man glaubt immer, so viel Zeit zu haben. Zeit ist etwas, das unendlich ist. Und obschon man um die Endlichkeit dessen, was in dieser Welt existiert, weiß, scheint Zeit doch auch für einen selbst unendlich zu sein. Im Übermaß vorhanden. Erst, wenn es zu spät ist, erkannt man seinen Trugschluss.


    Seiana vermisste ihre Mutter – sie vermisste die Stärke, die sie immer ausgestrahlt hatte, die Ruhe und Sicherheit. Sie vermisste es, dass sie – so wenig sie auch ihren Erwartungen entsprochen haben mochte – mit ihr immer jemanden gehabt hatte, der… da gewesen war. Und allein dieses Bewusstsein, das Wissen, dass jemand da war, selbst wenn alle Stricke rissen, vorbehaltlos, hatte eine Sicherheit bedeutet, deren Fehlen ihr nun umso schmerzhafter bewusst wurde, da sie es in den letzten Jahren so völlig ignoriert hatte. So lang war ihr Tod schon her, und doch tat es in manchen Momenten noch so weh, als wäre es erst gestern geschehen. Sie fehlte ihr. Sie fehlte ihr so sehr.

    Seiana zögerte, als zuerst Imperiosus und dann auch Caius ihren Worten widersprachen und sie zum Bleiben aufforderten. Sie erwiderte Caius’ Blick, und erst da wurde ihr klar, dass sie, wenn sie darauf bestand sich nun zu verabschieden, ihn im Grunde auch zwang zu gehen. Als sie die Worte zuvor ausgesprochen hatte, da hatte sie nur sich gemeint, aber natürlich würde er sie kaum alleine gehen lassen, immerhin waren sie zusammen gekommen. So viel dazu, dass sie immer wohlüberlegt handelte… nein, sie hatte einfach gehen wollen, hatte hier weg gewollt, und eben nicht vorher darüber nachgedacht. Sie hatte dieser Atmosphäre entfliehen wollen, in der sie sich plötzlich so fehl am Platz vorkam, fast schon wie ein Eindringling. Er hatte aufgehört, Axilla zu streicheln, aber sie lag immer noch neben ihm, auf der gleichen Liege, an ihn gekuschelt. Sie schien schon beinahe zu schlafen, und in dem Moment wirkte die Iunia so jung, als könnte sie Caius’ Tochter sein. Auch wenn die Art, wie er zuvor den Arm um sie gelegt hatte, nicht wirklich väterlich zu nennen war. Nein, sie wollte nicht bleiben, wollte sich nicht weiter ansehen müssen, wie Axilla weiter neben Caius auf der Cline lag und friedlich vor sich hindöste. Vielleicht lag es auch nur am Alkohol, dass sie so vertrauensvoll wirkte, aber das war Seiana egal. Ob mit oder ohne Alkohol, sie wusste, dass sie das nicht haben würde, und es versetzte ihr einen Stich.


    Der Zug um ihren Mund veränderte sich kurz, als sich ihre Lippen minimal aufeinander pressten, und schließlich sah Seiana weg, wich Caius’ Blick aus. Einen winzigen Moment später hob sie den ihren wieder. Allerdings war es nun Imperiosus, den sie ansah, nicht mehr Caius, und sie hielt ihren Blick bewusst weg von ihm. Auf ihren Lippen lag ein Lächeln, das genauso falsch – und genauso gut gespielt – wie das vorige war. Feinfühlige Menschen mochten erkennen können, wie unehrlich es letztlich war, wie wenig sie sich nach lächeln – oder bleiben – fühlte, aber in der Regel gelang es ihr, die Menschen um sie herum zu täuschen. „Nun gut. Was möchtest du denn wissen über das Alltagsleben einer Actaredakteurin? Aber ich glaube, ich sollte dich bereits jetzt vorwarnen – sonderlich aufregend ist es nicht.“ Sie lachte leise, griff nach ihrem Weinbecher, ließ ihn sich von einem der Sklaven auffüllen und trank einen Schluck, während sie alles, was auf ihrer anderen Seite vorgehen mochte, ignorierte.

    Imperiosus schien sich prächtig zu amüsieren, und machte Seiana nur noch verlegener. Dann allerdings hörte sie ein leises Streichel mich neben sich, und ihr Blick wandte sich zu Axilla, die nun neben Caius auf der Cline lag. Und dieses merkwürdige Gefühl, das zuvor schon eingesetzt hatte, als sie gesehen hatte wie gut Caius und Axilla sich verstanden, wie… nahe sie sich offenbar waren, war plötzlich wieder da. Und stärker als je zuvor. Denn Caius reagierte ohne zu zögern. Seiana ließ ihren Weinbecher langsam sinken und starrte hinüber, auf Caius’ Hand, der über Axillas Arm strich, immer wieder – bis er schließlich kurz innehielt. Seiana begegnete Caius’ erschrockenem Blick, konnte ihn aber nicht wirklich deuten. Sie hatte nur das Gefühl, dass… da irgendetwas war. Und er fuhr fort mit dem Streicheln. Etwas anders, nicht ganz so… intensiv, kam es ihr vor, aber er machte weiter. Und das gefiel ihr nicht. Sie fand es einfach… unangebracht. Egal wie gut die beiden befreundet waren – und Seiana war auch damit nicht glücklich, zumindest nicht, dass sie so überhaupt nicht wusste, wie gut denn nun tatsächlich, dass sie hier so überrascht worden war davon, dass die zwei sich offensichtlich so gut kannten, war sie bisher doch von einer flüchtigen Bekanntschaft ausgegangen –, Seiana fand es unangebracht. Sie waren weder verlobt noch verheiratet noch sonst etwas, und sie befanden sich hier bei einem Essen, mit anderen Menschen, die nicht alle zum engsten Freundeskreis gezählt werden konnten. Und selbst wenn – es war einfach… unangebracht! Seiana klammerte sich an diesen Gedanken. Es gefiel ihr nicht, was Caius tat, und es gefiel ihr nicht, dass er es tat, während sie daneben saß. Und es gefiel ihr nicht, dass sie nicht so recht benennen konnte, warum ihr das ein so mulmiges Gefühl verursachte gerade. Empörung, ja, aber etwas, das ein bisschen an Bauchweh erinnerte? Sie wollte sich nicht eingestehen, dass sie sich, wenn sie diese Szene betrachtete, zum einen … kleinen Stich Eifersucht spürte, wegen der Lockerheit, wegen der scheinbar vollkommenen Leichtigkeit, mit der Axilla sich an Caius schmiegte, eine Leichtigkeit, Sorglosigkeit, die ihr selbst völlig fremd war… und zum anderen sich völlig fehl am Platz fühlte. Völlig. Sie hatte da nichts zu suchen. Sie passte nicht dazu. Keiner schien etwas ungewöhnliches daran zu finden, kam es ihr vor, schon gar nicht Axilla oder Caius selbst. Da war eine Vertrautheit zwischen den beiden, die Seiana durchaus sah, und von der sie wusste, dass sie sie nicht hatte. Wohl nie haben würde. Sie passte einfach nicht dazu.


    Seiana räusperte sich leise und stellte den Weinbecher zur Seite. „Ich glaube, es wird Zeit für mich zu gehen. Imperiosus, danke dir für die Einladung und den Abend.“ Sie setzte ein Lächeln auf, das ebenso perfekt wie falsch war. Die richtige Nuance, ein vages, flüchtiges Lächeln, angemessen für einen Abschied nach einem Essen, zu dem sie ihr Verlobter mitgebracht hatte, mit Menschen, die sie kaum kannte. Sie war gut darin, das richtige Lächeln im richtigen Moment aufzusetzen. Nur das Wörtchen nett, vor Abend, das hatte sie nicht über die Lippen gebracht. Nicht in diesem Augenblick.

    Seiana war schon gespannt auf den Kurs. Sie hatte eine Zeitlang überlegt, ob sie ihn überhaupt belegen sollte, aber mehrere Gründe hatten dann den Ausschlag gegeben. Sie brauchte Ablenkung – es war nicht so, dass sie nicht genug zu tun hätte, aber sie brauchte noch mehr Ablenkung. Von der bevorstehenden Hochzeit, in erster Linie. Je näher sie rückte, desto mulmiger wurde das Gefühl in ihrem Magen. Dann war da der Fakt, dass die Kursleiterin aus Alexandria stammte und eine Abgesandte des Museions war. Und das ließ darauf schließen, dass sie eine Sicht der Musik darlegen würde, die Seiana mehr entgegenkommen würde als das, was die meisten Römer für gewöhnlich darüber dachten. Schweigend saß sie da und nickte nur grüßend, als die Kursleiterin den Raum betrat und sich vorstellte. Und um Seianas Mundwinkel spielte ein flüchtiges Lächeln, als sie gleich darauf direkt anfing, ohne lang herumzureden. Diese direkte Art gefiel ihr, und während ihre Finger leicht mit dem Stylus spielten, mit dem sie sich Notizen machen wollte, lauschte sie aufmerksam der Einleitung. Und spätestens als Penelope an die Stelle kam, in der sie Musik als Mathematik bezeichnete, wusste Seiana, dass sie im richtigen Kurs saß. Mit dieser Herangehensweise konnte sie etwas anfangen, mit Mathematik, mit Ordnung, mit Gesetzmäßigkeiten. Dass sich auch etwas wie Musik auf diese Art darstellen ließ, gefiel ihr. Dass Penelope bei ihrem Monolog kühl wirkte, auf Abstand bedacht schien, störte Seiana nicht im Geringsten dabei, ganz im Gegenteil. Es war in so vielen Fällen einfacher, wenn Emotionen außen vorgelassen werden konnten. Sie neigte sich ein wenig vor und ergriff das Wort, als Penelope geendet hatte. „Es heißt, er hat mit Saiten und Gewichten experimentiert, um feste Größen zu entwickeln – um zu zeigen, dass Musik messbar ist, in Zahlen darstellbar.“ Sie musterte Penelope kurz. „Ist es richtig, dass er rein empirisch vorging?“

    Und das war das Pudels Kern – auch wenn diese Wendung erst Jahrhunderte später zu einem geflügelten Wort werden sollte, in diesem Augenblick hätte sie zutreffender nicht sein können. Um was es für sie ging, um was es für ihn ging – bei dieser letztlich so simplen Aktivität. Nicht dass es immer und bei jedem so war, aber in diesem Fall und bei Seiana und Caius war es so. Für sie hieß das Bett mit ihm zu teilen so viel mehr, und sie konnte nicht aus ihrer Haut, nicht einfach so. Nicht, wenn da zusätzlich noch der Fakt hinzukam, dass Seiana trotz oder gerade weil sie das einzige Mädchen unter vier Kindern und darüber hinaus ein Wildfang gewesen war, eine recht strenge Erziehung genossen hatte, sowie der Fakt, dass sie eigentlich wollte, dass ihre Mutter stolz auf sie sein konnte, wenn sie noch leben würde. Nein, Seiana konnte nicht aus ihrer Haut, weder was die Tatsache betraf, dass sie Angst davor hatte sich zu sehr zu öffnen, noch was jene betraf, dass die Traditionen und das Ansehen ihrer Familie ihr so wichtig waren. Es war etwas, woran sie sich festhalten konnte. Was ihrem Leben Halt gab – Halt gegeben hatte, als es keinen anderen gegeben hatte. Als ihre Mutter krank geworden war, als sie sie gepflegt und alles andere hintan gestellt hatte, was ihr eigenes Leben betraf, als sie gestorben war… und sie, Seiana, ganz allein gewesen war – da war all das, was ihre Mutter ihr über die Jahre eingebläut hatte, zu einem Anker geworden für sie. Einem Netz, dass sie aufgefangen hatte. Vermutlich hätte es nicht diese Auswirkungen gehabt, wäre es nicht ein schleichender Prozess gewesen, hätte sich der Gesundheitszustand ihrer Mutter nicht über einen langen Zeitraum stetig verschlechtert, wäre Seiana selbst nicht immer mehr gefordert gewesen. Aber so… konnte sie sich nicht einfach so verabschieden von dem, was ihr Halt gegeben hatte in der schwierigsten Phase ihres Lebens. Was ihr geholfen hatte, weiter zu machen, weiter zu leben…


    Sie folgte Caius durch das Haus und hörte ihm zu, versuchte sich zu merken, was er ihr erklärte auf dem Weg, und betrat schließlich den Raum, der für sie gedacht war. Einfach, aber doch angenehm. Sie würde sich hier wohl fühlen, übermäßiger Luxus war nichts für sie. Seiana besah sich das Zimmer einen Augenblick länger, als nötig gewesen wäre, aber dann wandte sie sich doch zu Caius um und versuchte sich ein weiteres Mal an einem Lächeln, das ebenso unverbindlich war wie der Klang seiner Stimme. In diesem Augenblick wünschte sich ein Teil von ihr, sie könnte ihm sagen, was in ihr vorging. Und für den Bruchteil eines Augenblicks drängte dieser Teil an die Oberfläche, und sie wollte ja sagen, wollte ihm sagen, dass sie ihn brauchte, dass er sie einfach in den Arm nehmen sollte, dass es ihr leid tat und dass sie nicht ändern konnte, wie sie war, oder was geschehen war, oder dass ihr das alles so wichtig war. Aber der Moment verging, und Seiana schüttelte mit gespielter Leichtigkeit den Kopf. „Nein, danke. Ich… denke, ich werde auspacken und mich dann ein bisschen ausruhen.“

    Seiana… ließ sich weiter küssen. In ihr herrschte ein Chaos, das sie nie für möglich gehalten hätte. Die Male, die Caius sie geküsst hatte, da war es… es war doch irgendwie richtig gewesen. Er war ihr Verlobter. Er war ein Mann! Wieso… Seiana konnte sich einfach nicht erklären, warum ein Teil von ihr das mit sich machen ließ, und warum dieser sogar so stark war, dass sie Axilla nicht von sich stieß. War es der Wein, auch wenn sie bei weitem nicht so viel getrunken hatte wie Axilla? War es die Tatsache, dass Seiana – bei aller Gewandtheit, aller Selbstsicherheit, die sie sonst zeigte – völlig unerfahren war, was dieses Thema anging? War es, dass sie genau das leid war, weil sie, je näher die Hochzeit rückte, immer aufgeregter wurde? Oder war es etwas ganz anderes? Sie hatte ja noch nicht einmal den Vergleich, den Axilla hatte, konnte zwar den Unterschied benennen, den dieser Kuss hatte im Vergleich zu jenen Caius’, aber nicht, was darüber hinausging. Sie wusste nichts von dem drängenden Wunsch, sich hinzugeben – sicherlich schlummerte irgendwo auch in ihr dieser Wunsch, und vielleicht konnte er auch geweckt werden, aber zumindest bisher war Seiana äußerst gut darin, alles zu unterdrücken, was in diese Richtung ging. Es wäre einfach nicht richtig vor der Hochzeit. Und trotzdem saß sie nun hier und ließ sich küssen. Und wusste nicht, warum. Wusste nicht einmal, wie ihr geschah. Sie spürte Axillas Hände ihr Gesicht umfangen, aber sie behielt ihre bei sich, rührte sich immer noch nicht – auch dann nicht, als die Iunia den Kuss löste. Sie blinzelte, hob ihre Lider und wurde aus grünen Augen angesehen, und sie blinzelte gleich noch mal, verwirrt wie sie war. Axilla hingegen schien gar nicht verwirrt zu sein, nicht im Mindesten.


    Seiana hörte ihr Flüstern, und das, endlich, war es, was sie wieder in die Realität holte. Die, die sich für Dionysos halten. Seiana sah auf, und zu ihrer größten Verlegenheit musste sie feststellen, dass sie von drei Männern angestarrt wurde. Ein Teil von ihr begriff, was Axilla wohl gemeint haben mochte mit der Macht, die sie, die Nymphen, also die Frauen, also die Nymphen, über Dionysos hatten, nein, über jene, die sich für Dionysos hielten, also über die Männer. Aber Stück für Stück eroberte sich der Teil von ihr, der alles unter Kontrolle haben wollte, die Herrschaft über sie wieder zurück. Und er fühlte sich zutiefst peinlich berührt. Seiana bemerkte aus dem Augenwinkel, wie Axilla zu Boden rutschte, wie Caius ihr auf seine Liege half, wie Piso etwas zu Imperiosus sagte, aber sie bemerkte nicht wirklich, was dahinter steckte – dass Caius gerade in einem Zustand war, den er angestrengt zu verheimlichen suchte, dass Piso wohl nur ablenken wollte mit seiner lockeren Bemerkung über den Wein, dass Axilla einfach nur betrunken war und vermutlich jetzt schon nicht mehr so wirklich wusste, was sie gerade eben getan hatte. Sie rutschte nur zurück, umklammerte ihren Weinbecher und versuchte sich und ihr glühendes Gesicht dahinter zu verbergen, wenigstens ansatzweise, indem sie zu trinken begann.

    [Blockierte Grafik: http://img210.imageshack.us/img210/4457/crios.jpg~Crios~


    Auch Crios bemühte sich, das verzweifelte Schluchzen auszublenden, so gut es ging. Bei den Göttern, er hatte sie gewarnt. Aber dass es so schlimm sein würde, hätte auch er nicht geahnt. Als sie anschließend auf seine Frage hin nur den Kopf zur Seite drehte, schloss Crios für einen Moment die Augen. Er fühlte sich so müde. Aber gleichzeitig war er verantwortlich, für Axilla, aber auch für die anderen hier. Er war der Arzt. Nur dieser eine kleine Moment des Augenschließens, das konnte er sich gönnen… Dass Leander verschwand, bekam er nur am Rande mit, und auch nur, weil er es sagte. Als Serrana ihn aber ansprach, öffnete er seine Augen wieder und sah sie an. Er hätte ihr geholfen, aber er ging davon aus, dass es sowohl ihr als auch Axilla wohl lieber war, wenn er sich zurückhielt, was derart intime Dinge betraf – sofern sie nicht medizinisch notwendig waren. Und so nickte er abermals nur und setzte sich so hin, dass er Axillas Körper nun den Rücken zuwandte und nur ihren Oberkörper, ihren Kopf im Blick hatte. Er legte ihr eine Hand an die Wange und strich kurz darüber, bevor er erneut ihre Stirn fühlte und anschließend ihren Puls. Er war immer noch so schnell, viel zu schnell und flatterhaft, und Crios presste die Lippen kurz aufeinander, bevor er sich zusammenriss. Es half keinem, wenn er sich seine Besorgnis allzu deutlich anmerken ließ.


    Kurz wandte er erneut seinen Blick zu Serrana, als diese ihm nun auf sein Angebot antwortete. „Es hilft ihr nicht, wenn du leidest, ohne etwas dagegen zu tun. Und einen beruhigenden Trank zu machen, kostet nicht viel Zeit oder Aufwand“, entgegnete er ernst. Während Serrana Axilla wusch und ihr dann eine neue Tunika anzog, saß Crios da und hielt Axillas Hand – bis Leander wiederkam mit dem heißen Wasser. Crios bedeutete seinem Landsmann, den Topf abzustellen auf dem Tisch, der im Cubiculum war, während er zugleich aufstand und seine Tasche nahm. Erneut kramte er darin herum, holte Kräuter hervor, setzte eine Mischung in einem Leinensäckchen an und nahm dann den Krug, den Leander gleich mitgebracht hatte. Das Säckchen wanderte in den Krug, und Crios goss heißes Wasser darauf. Anschließend begann er erneut, mit einer zweiten Mischung, und für diese nahm er kurzerhand den Krug, der bereits auf dem Tisch stand. Kurz überzeugte er sich davon, dass er leer war, dann übergoss er auch den zweiten, etwas größeren Beutel mit heißem Wasser. Und dann gönnte er sich erneut einen winzigen Moment, in dem er einfach nur da saß, sich kurz mit Daumen und Zeigefinger an die Nasenwurzel griff und zudrückte. Anschließend, als wäre nichts gewesen, richtete er sich auf und brachte beide Krüge zum Bett. „Es muss noch ein wenig ziehen. Danach möchte ich, dass ihr davon“, er hob den zweiten leicht an, „etwas trinkt. Alle.“ Seine Stimme machte klar, dass er keinen Widerspruch dulden würde. Es half Axilla nicht, wenn die anderen irgendwann zusammenklappten, ganz im Gegenteil.




    Es war richtig, zu warten. Davon war Seiana überzeugt. Warum fühlte sie sich dann in diesem Augenblick dennoch so… mies, als Caius ohne große Worte einfach nur zustimmte? Warum hatte sie das Gefühl, ihm etwas schuldig zu sein deswegen, so, als ob er ihr einen Gefallen tat? Sie sah auf den Boden hinunter und wünschte sich für einen winzigen Moment, sie hätte auch das bereits hinter sich. Aber sie brachte es einfach nicht fertig, und noch weniger brachte sie es fertig, ihm zu sagen, was alles in ihr vorging. Dass es nicht nur, nicht allein Tradition und Anstand waren, sondern dass sie auch Angst hatte. Angst davor, sich einem anderen Menschen mehr zu öffnen, mehr von sich zeigen, als sie es jemals zuvor getan hatte. Einen anderen Menschen so nahe an sich heran zu lassen. Es ging, für sie, nicht nur um Sex – und genau dort lag vermutlich das Problem, weil es wohl für Caius in erster Linie darum ging. Für sie war Sex ein Symbol für mehr, war ein Symbol dafür, dass sie sich öffnen, sich entblößen musste, und sich damit verwundbar machte. Sie hatte Angst vor diesem Moment. Nicht einmal Faustus, der ihr näher stand als sonst jemand, hatte sie je alles von sich gezeigt. Ihr Verstand sagte ihr, dass sie zu viel in diese ganze Sache hineininterpretierte, dass es nur körperlich war, aber selbst das reichte schon aus, um ihr ein wenig Angst zu machen, weil es ohne Nähe, und sei es nur körperliche, einfach nicht funktionierte. Sie wusste genug von Sex, um zu wissen, dass es letztlich der Mann war, der nahm. Und sie war nicht gut darin, loszulassen. Die Kontrolle abzugeben. Sich führen zu lassen. Und sei es nur körperlich.


    Seiana unterdrückte ein Seufzen und nickte. „Ja. Zeig mir das Zimmer.“ Sie versuchte sich an einem Lächeln, aber diesmal misslang es ihr, hatte sie das Gefühl. Aber Caius sah ohnehin schon wieder weg von ihr, öffnete die Tür, und Seiana folgte ihm aus seinem Zimmer hinaus, quer durch das Haus, bis hin zur Südseite, wo das Gästezimmer war, in dem sie schlafen würde.

    War sie prüde? Vermutlich war sie das. Seiana selbst konnte das überhaupt nicht einschätzen. Sie hatte einfach keine Erfahrung, und das ganze Thema machte sie daher nervös. Es war ja nicht so, dass sie sich noch nie Gedanken darüber gemacht hätte, wie es wäre, auf… nun ja… diese Art mit einem Mann zusammen zu sein. Vor allem seit sie mit Caius verlobt war. Aber vor der Hochzeit kam das doch ohnehin nicht in Frage, nicht für sie, als Frau. Hätte es irgendeinen Weg gegeben, wie sie Erfahrungen hätte sammeln können, ohne dabei ihre Ehre zu verlieren, sie hätte es vermutlich getan, schon allein, weil sie es hasste, sich so hilflos und unsicher und aufgeschmissen und – wenn sie ganz ehrlich zu sich war – ängstlich zu fühlen. Aber das war die eine, einzige Sache, in der sie nur auf die eine, einzige Art Erfahrung sammeln konnte. Und sie war eine ehrbare Frau. Wenn sie schon sonst kein Leben führte, auf das ihre Mutter stolz wäre, dann würde sie wenigstens in dieser Hinsicht tun, was von ihr erwartet wurde.


    Dass bei dem Bildchen, auf das Caius gezeigt hatte, noch ein Mann anwesend war, musste ihr wohl entgangen sein zuvor. Aber selbst wenn sie es gemerkt hätte, hätte sie auch nicht gewusst, was sie hätte sagen sollen. Er wollte so etwas ausprobieren. Würde sie da mitmachen? Nicht jetzt, aber wenn sie verheiratet waren? Wie weit reichten ihre Pflichten als Ehefrau denn, was solche Sachen betraf? Seiana fühlte sich auf einmal schrecklich unsicher, und die Panik, die sie vor der Hochzeit hatte, wuchs für einen winzigen Augenblick ins Unermessliche. Sie wünschte sich, es wäre einfach schon vorbei, sie hätte es hinter sich, und könnte vielleicht sogar darüber lachen, weil sie vorher so nervös gewesen war wegen einer Feier, einem Datum, einem… neuen Leben. Sie sehnte sich nach etwas Sicherheit, sehnte sich danach, sich ein wenig, ein klein wenig nur, fallen lassen zu können, einmal loslassen zu können. Widerstandslos ließ sie sich von Caius an ihn ziehen und sah ihm in die Augen, und bei seinen Worten fühlte sie sich noch etwas hilfloser. So wie er es sagte, klang es danach, als sei es etwas schlechtes, dass sie Wert auf Anstand legte. Wert auf Traditionen. Wert darauf, dass sie als ehrbare Frau in die Ehe ging. So wie er es sagte, klang es fast… fast… nach einem Vorwurf. Oder machte sie sich diesen Vorwurf nur selbst?


    Und doch, seine Worte, sein Angebot, das Caius wohl am liebsten sofort in die Tat umgesetzt hätte, hätte sie ihn gelassen, ließ etwas in ihrem Magen flattern, etwas, dass sich anders anfühlte als die Nervosität, die gemeinsam mit dem ganzen anderen Schwung an Gefühlen der Sparte Unsicherheit und weiteres dort herumschwirrten und ihr das Atmen und das Leben schwer machten; etwas, dass sich, wenn sie ehrlich zu sich selbst war und sich genug Freiraum gab, sich ein wenig näher damit zu beschäftigen, bei weitem nicht unangenehm anfühlte. Als Caius sich zu ihr neigte und sie küsste, verharrte sie reglos, ließ zu, dass ihre Lippen sich trafen, und erwiderte den Kuss für einen Moment. Das war gefahrlos, immerhin war das hier nicht das erste Mal, dass sie sich küssten. Aber sie wurde nicht los, was er gesagt hatte, und sie wollte nicht, dass er einen falschen Eindruck bekam. Oder den Kuss als Einverständnis, als Einladung, gar als Aufforderung verstand. Seiana löste ihre Lippen von den seinen, lehnte sich etwas zurück und legte ihm sacht eine Hand auf die Brust. „Caius…“ Sie presste die Lippen aufeinander und fixierte ihren Blick einige Momente lang irgendwo neben ihrer Hand, bevor sie wieder aufsah. „Ich… ich weiß nicht. Ich weiß nicht, ob ich experimentierfreudig bin. Aber… können wir nicht einfach warten? Ich meine, was ist so schlimm daran, bis zur Hochzeit ist es doch nicht mehr weit…“ Sie bemühte sich, ihrer Stimme einen festen Klang zu geben, aber sie hörte sich nicht halb so sicher an, wie sie es gerne hätte, und verriet weit mehr von ihrer Hilflosigkeit – und ihrer Nervosität, ihrer Angst – als sie wollte. Wie konnte sie sich fallen lassen, wenn sie diejenige sein musste, die immer nein zu sagen hatte?

    Seiana sah hoch, und erst jetzt fiel ihr ein, dass das, was für sie gerade eben noch eine willkommene Ablenkung von trüben Gedanken gewesen war, für Caius etwas ganz anderes war. „Ehm“, machte sie, etwas verlegen, und wich seinem Blick aus. Dann wanderte ihre Augenbraue wieder nach oben, als Caius nun grinste, beiseite trat und auf eine der Kritzeleien zeigte. „Ah… würdest du gern, ja?“ Sie besah sich das Bildchen genauer, und ihr Mund öffnete sich etwas bei zugleich leicht gerunzelter Stirn, während sie sich bemühte, die Situation irgendwie einschätzen zu können. „Da du keine Frau bist, dürfte das problematisch werden“, meinte sie dann, was wohl ein recht lahmer Konter war – vor allem im Vergleich zu dem, was sie Augenblicke zuvor bei Caenis abgezogen hatte. Aber das war ein Gebiet, auf dem Seiana nun mal völlig unerfahren war – und unsicher.

    [Blockierte Grafik: http://img210.imageshack.us/img210/4457/crios.jpg~Crios~


    Crios war erleichtert, dass Axilla ein paar Schlucke trank und sie zumindest auch vorerst bei sich behielt. Der Schlafmohnextrakt würde ihr helfen, würde die Schmerzen lindern, auch wenn es noch ein wenig dauern konnte, bis sich die volle Wirkung in ihrem Körper entfaltete. Aber eine erste Erleichterung würde sie schon bald spüren können. Und das erleichterte auch Crios. Das vage, angenehme Gefühl wurde aber sofort wieder beiseite gewischt, als er Axillas Reaktion auf seine nächste Ankündigung sah. Er presste die Lippen aufeinander und sah kurz zu der anderen Iunia, die inzwischen dafür gesorgt hatte, dass das Bett wieder etwas sauberer war, und die bereits dazu angesetzt hatte zu tun, was er ihr gesagt hatte. Er nickte nur zu ihren Worten, fügte aber selbst nichts mehr hinzu. Es gab nichts hinzuzufügen, und es würde nicht besser oder angenehmer werden, je länger er wartete. Vielleicht vernebelte der Mohn bereits Axillas Sinne ein wenig, aber warten bis er volle Wirkung gezeigt hatte, konnte Crios auch nicht, nicht bei dem Maß an Blut, dass die Iunia schon verloren hatte. Also räusperte er sich nur kurz, drückte einmal kurz Axillas Hand und schob dann die blutbefleckte Tunika hoch, um das vorbereitete Zäpfchen einzuführen, so dass die Kräuter ihre Wirkung tun konnten. Anschließend richtete er sich auf und sah kurz zu Serrana, bevor er Axilla musterte. „Kannst du mich hören, Axilla? Wie fühlst du dich gerade, zeigt der Trank Wirkung?“ Dann sah er wieder zu Serrana, und jetzt fiel ihm auf, wie mitgenommen sie wirkte. „Sie sollte gewaschen werden und eine frische Schlaftunika bekommen. Und ich brauche heißes Wasser, dann mache ich ihr einen Kräuteraufguss.“ Ein Blick wanderte zu den anwesenden Sklaven, während er kurz zögerte. Dann fügte er hinzu: „Du siehst nicht gut aus. Wenn du möchtest, kann ich dir auch etwas machen.“ Und den beiden Sklaven auch, sofern sie das wollten. Zumindest Leander sah fast noch fertiger aus als Serrana.




    Seianas Grinsen wurde noch ein wenig breiter, als Caius ihr den Feldherrn vorführte, wie er den Arm bewegen konnte, und bei seinem nächsten Kommentar musste sie dann leise lachen. Früher wäre es das gewesen. So wie Caius nur einen winzigen Augenblick zuvor gewirkt hatte, hatte dieses früher noch Auswirkungen bis heute. Sie betrachtete weiter das Zimmer, nahm das Regal war, das voller Spielzeug stand, das Bett, die Vase mit den frischen Blumen, die sicher auf Caenis’ Anordnung hereingebracht worden waren. Das Zimmer hatte eine heimelige Atmosphäre, schien aus einer heilen Welt zu stammen, und für einen winzigen Moment spürte Seiana einen Stich, der sich verdächtig nach der Nadel des Neids anfühlte. Caius hat keine Ahnung, was für ein Glück er hat, dachte sie etwas wehmütig.


    Dann bewegte eben jener sich plötzlich, stellte den Feldherrn weg und ging zum Tisch, an den er sich lehnte. Was dazu führte, dass ihr Blick auf den Tisch gelenkt wurde. Und auf die Schreibfläche. Caius’ Hintern war nicht annähernd breit genug, um die Bildchen zu verbergen, die sich über den gesamten Tisch ausbreiteten. „Wie?“ fragte sie, abgelenkt, kam mit schräggelegtem Kopf ein wenig näher und versuchte an ihm vorbei einen vernünftigen Blick auf die kleinen Bildchen zu erhaschen, die langsam einen Sinn für sie zu ergeben begannen. Ihre Augenbrauen wanderten ein Stückchen in die Höhe, ihre linke noch ein wenig mehr als ihre rechte. „Äh, nein. Nicht allzu viele.“ Für einen Moment war sie ein wenig abwesend. Ein paar Spielsachen hatte sie natürlich gehabt, aber ihre Mutter hatte Wert auf anderes gelegt. Unter anderem darauf, dass sie nicht verwöhnt war, oder meinte Dinge seien stets im Überfluss vorhanden. Mehr darauf, dass sie sich zurückhielt, und dass sie sich verdiente, was sie bekam. Seianas Blick fokussierte sich wieder auf die Bildchen, die nun eine willkommene Ablenkung darstellten. „Das…“ Sie stand nun bei Caius am Schreibtisch und fuhr mit den Fingern über die Fläche. „… ist interessant.“

    Hatte Seiana sich zuvor noch gewünscht, Caius würde ein wenig mehr in die Bresche für sie springen und ein paar der Fragen abfangen, war sie in diesem Augenblick froh, dass er sich zurückhielt. Es war leichter, sich direkt mit Caenis auseinander zu setzen und etwas auszuhandeln, womit sie beide – aber in erster Linie sie, Seiana – leben konnte, ohne Caius’ Zwischenkommentare. Die sie dann womöglich noch ausbügeln musste oder komplett nach hinten losgingen. Und sie war doch recht zufrieden mit dem Waffenstillstand, den sie erreicht hatten – allerdings war sie tatsächlich ein wenig müde, und sie hatte ganz sicher nicht den Nerv, jetzt schon in die Planungen einzusteigen. Denn dass Caenis eine Menge Ideen haben würde, von denen ein nicht kleiner Anteil nicht auf große Zustimmung bei ihr oder Caius stoßen würde, dafür musste sie keine Seherin sein oder ein Orakel befragen, um das zu wissen. Oder Caenis’ nächsten Kommentar hören. Seiana lächelte sie an. „Nein, das ist selbstverständlich. Verzeih mir bitte meine Unhöflichkeit. Aber ich denke, wir haben noch viel Zeit um alles zu besprechen.“ Wenn es nach ihr ging: massenhaft Zeit. Aber dass das nur ein Wunschtraum war – und nur der ihre, nicht der von Caenis und auch nicht der von Caius –, war Seiana klar.


    Sie erhob sich und sah kurz zu dem Sklaven hinüber, der sie zu ihrem Zimmer bringen sollte, als Caius das Wort ergriff. Seiana sah überrascht zu ihm hinunter. Sie, sie beide, hätten sein altes Zimmer? Das konnte nicht sein Ernst sein. Sie öffnete gerade den Mund, um etwas zu sagen, als Caenis ihr schon zuvor kam, und diesmal hatte Seiana keinerlei Einwände – im Gegenteil, sie war erleichtert. Sie hatte schon befürchtet, wieder eine der Diskussionen mit ihm führen zu müssen, die sich ohnehin im Kreis drehten, weil keiner von ihnen nachgab. Willst du nicht doch reiten? Willst du nicht lockerer sein? Willst du nicht doch vor der Hochzeit mit mir ins Bett? In ihren Gedanken war Caius’ Stimme nicht mehr seine Stimme, sondern klang piepsig und schnell und quengelig. Sie hoffte wirklich, dass er mit diesem Thema nicht doch noch anfing, sondern es jetzt auf sich beruhen ließ, nachdem Caenis ein Machtwort gesprochen hatte. Allerdings, auch das konnte sie sehen: Caius gefiel es keineswegs.


    Sie lächelte den beiden noch zu, beschloss aber für sich, dass es besser war nichts mehr zu sagen außer einem „Bis später!“, dann folgte sie Caius einfach. Sein Zimmer war… irgendwie… süß. Das Zimmer eines Jungen. Man konnte sehen, dass hier schon länger niemand mehr gewohnt hatte, und dass dieser Jemand, wann immer er zuletzt tatsächlich hier gewohnt, nicht nur geschlafen hatte, kein Erwachsener gewesen war. Ein leichtes Lächeln umspielte ihre Mundwinkel, das stärker wurde, als Caius sich etwas stürzte. „Servus Virgilius Latro?“ fragte sie nach, und dann, mit einem Grinsen: „Ist das Konkurrenz für mich?“

    Seiana nickte in Erwiderung auf Quartos Worte. Die Anreise durften sie nicht unterschätzen, weder aus Tarraco noch aus Alexandria, wo Caius vielleicht den ein oder anderen Freund hatte, den er einladen wollte – und die Gäste sollten im Idealfall auch ein wenig Zeit haben, sich in Rom zu akklimatisieren. Und dann machte Caius den Mund auf. Und Seianas Kopf fuhr herum, zu ihm, und sie starrte ihn an. Er hatte sich schon Gedanken über einen Termin gemacht? Hatte sogar schon einen ausgesucht? Irgendwie schürte das wieder die Panik in ihrem Inneren, ließ sie heiß auflodern, aber sie kämpfte dagegen an, unterdrückte sie gut es ging. Sie wollten ja im Frühjahr heiraten, das hatten sie gesagt, darauf hatten sie sich geeinigt, und der genannte Termin war im Frühjahr. Seiana hatte trotzdem das Gefühl, als ob sie kurz davor stand zu hyperventilieren. Noch mehr, als Caius weitersprach. Noch früher wollte er heiraten. Was für ein Glück, dass der März für eine Hochzeit nicht in Frage kam.


    Nach einem kurzen Augenblick, als sie das Gefühl hatte, sich tatsächlich wieder unter Kontrolle zu haben, versuchte Seiana sich an einem, wenn auch etwas oberflächlichem Lächeln, recht erfolgreich, wie sie meinte. „Ja“, antwortete sie leichthin, so leichthin, wie es ihr möglich war. „Der Termin klingt gut. Lass uns den festhalten.“ Auch wenn ihr nicht wirklich danach war, aber festlegen mussten sie sich ja doch früher oder später. Bei der Gelegenheit fiel ihr noch etwas anderes ein, worüber sie unbedingt mit Caius reden musste. Es konnte nicht so weiter gehen mit ihrer Familie…

    Seiana hätte am liebsten die Augen wahlweise verdreht oder geschlossen, als Caius zuerst gar nichts zu begreifen schien – und dann ein bisschen zu plötzlich. Und ein bisschen zu begeistert. Sie unterdrückte sowohl den Impuls, irgendetwas mit ihren Augen zu tun, als auch jenen zu seufzen, und behielt stattdessen Caenis im Blick, die zwar eindeutig misstrauisch dreinschaute, aber nichts weiter dazu sagte, und bevor sie es sich womöglich noch anders überlegen konnte, läutete Seiana schon die nächste Runde ein. Urplötzlich, nur durch eine kleine Bemerkung über ein paar Geschenke angefacht, war aus diesem ersten Zusammentreffen ein Kriegsschauplatz geworden. Und Seiana hatte nicht vor, auch nur eine Schlacht verloren zu geben. Kompromisse, ja, Waffenstillstand, auch ja – aber eine Niederlage? Niemals. Darunter würde sie den Rest ihres Lebens zu leiden haben. Und es war ja Leben, um das es ging, ihres und das von Caius, aber der hatte im Augenblick nicht viel zu melden. Seiana handelte ja auch nur in seinem besten Interesse. Und als schien er das zu spüren, hielt er auch seine Klappe. Ebenso wie Calvaster. Und zumindest letzterer wusste vermutlich aus jahrelanger Erfahrung, dass er sich jetzt nur in Schusslinie begeben hätte, hätte er etwas gesagt.


    Das allerdings bemerkte Seiana nur am Rande. Ihre Konzentration war auf Caenis gerichtet, die in diesem Augenblick den Terminvorschlag abwog. Seiana war sich bewusst darüber, dass das ein kritischer Moment war. Bestand ihre zukünftige Schwiegermutter auf übermorgen, war das Ganze gelaufen, dann würde sie wohl auf gar keinen Vorschlag eingehen, sondern an ihrer Vorstellung der Feier festhalten, und dann hatten sie ein Problem. Das Schweigen zog sich für Seiana beinahe unerträglich in die Länge, aber reell verging wohl nur ein Augenblick, bis Caenis antwortete – und im Grunde zustimmte, wenn auch mit einer kleinen Einschränkung. Aber damit konnte Seiana leben. „Anfang nächster Woche klingt gut“, lächelte sie und verbarg gekonnt ihre Erleichterung. Keine Schwäche zeigen, war die Devise, schon allein, weil gleich das nächste Thema auf den Tisch kam: die Anzahl der Eingeladenen. Wieder zog sich das Schweigen, diesmal noch länger, und diesmal auch in der Wirklichkeit, nicht nur in Seianas Vorstellung. Ihre innere Spannung stieg, und sie bemerkte nicht, dass Caenis in diesem Moment nicht nur an die Besucherzahl dachte – sondern auch eine erste Einschätzung darüber traf, wie geeignet Seiana war für Caius. Hätte sie auch nur das Geringste davon geahnt, wäre ihre Strategie, ihr Schlachtplan, wohl in sich zusammengeklappt wie ein Kartenhaus, weil sie dann wieder nervös geworden wäre. Aber sie merkte es nicht, und so wartete sie nur ab, ein wenig nervös sicherlich auch, aber in erster Linie gespannt. „Dreißig…“ Jetzt war sie es, die nachdachte und Caenis mit gemischten Gefühlen musterte. Dreißig. Das war mehr, immer noch weit mehr, als sie gedacht oder sich gewünscht hätte. Andererseits waren Dreißig die Hälfte der Obergrenze dessen, was Caenis zuvor gesagt hatte – und Seiana vermutete, dass die genannte Sechzig nicht wirklich die Obergrenze gewesen wäre, hätte sie von vornherein zugestimmt. Und das erste Angebot war eben immer nur das: ein Angebot. Sie hätte nicht wirklich damit rechnen dürfen, hatte es im Grunde auch nicht, dass Caenis das widerspruchslos annahm. Die beiden Frauen maßen sich gegenseitig mit Blicken, und schließlich nickte Seiana. „Dreißig. In Ordnung.“ Aber keiner mehr, das schwang so deutlich in ihrem Tonfall mit, als hätte sie es laut gesagt. „Um die genauen Planungen können wir uns ja dann diese Woche kümmern.“ Mit einem Lächeln lehnte sie sich zurück und nippte an ihrem Wein, während sie Caius einen Blick zuwarf und anschließend Calvaster, um deren Reaktionen einschätzen zu können. „ Wäre es in Ordnung, wenn ich mich ein wenig zurückziehe? Ich bin offen gestanden ein wenig müde von der Reise hierher, und ich würde auch gerne bald auspacken.“

    Es dauerte nicht lang, bis Aelia Vespa auftauchte, die sie heute Abend hier eingeladen hatte. Seiana ließ den Männern den Vortritt und hielt sich zurück, grüßte erst, als Quarto sie vorstellte. „Salve, Aelia. Es freut mich, dich kennen zu lernen.“ Gleich darauf tauchte ihr Mann auf, der Prudentier, den Caius ihr auch vorstellte – aber da war noch ein Mann, recht jung noch, den bisher keiner mit einem Blick zu würdigen schien, der aber weder von Kleidung noch vom Auftreten her ein Sklave sein konnte. Seiana musterte ihn kurz, während sie es Caius gleichtat und zunächst Quarto den Vortritt ließ bei der Begrüßung des Prudentiers, und verzog dann kurz ihre Lippen zu einem höflichen Lächeln als Begrüßung. Obwohl sie Caius gern gefragt hätte, wer der dritte unter ihren Gastgebern war, schwieg sie stattdessen und beschloss zunächst abzuwarten, während sie innerlich hoffte, dass dieser Abend nicht allzu langweilig werden würde. Hätte Caius mehr ein Auge, oder besser ein Ohr, für so etwas, hätte sie vorab gefragt, welcher Typ Frau Vespa war. Für was sie sich interessierte. Damit sie, Seiana, sich wenigstens ein bisschen auf das einstellen konnte, was sie erwartete an diesem Abend. Aber sie war sich nicht immer so ganz sicher, inwiefern sie in dieser Hinsicht Caius’ Einschätzung Glauben schenken konnte. Manchmal hatte sie den Eindruck, dass er auch immer noch glaubte, sie ginge gern einkaufen.

    [Blockierte Grafik: http://img210.imageshack.us/img210/4457/crios.jpg~Crios~


    Was auch immer Crios erwartet hätte, welche Ängste er innerlich auch durchstand, das hätte er trotz allem dann doch nicht erwartet. Beschimpfungen, oh ja. Eine Faust im Magen? Nein. Der Schlag kam viel zu schnell für ihn, als dass er irgendetwas hätte tun können, und mit einem erstickten Laut taumelte er einen Schritt zurück und krümmte sich vornüber, als sich die Faust punktgenau in seinen Magen grub. Für einen Augenblick sah Crios funkelnde Sterne vor den Augen, während es Schimpfwörter nur so hagelte. Die Worte brauchten, bis sie in sein Bewusstsein vordrangen, brauchten ein wenig länger als normalerweise, aber es hätte ohnehin keinen Unterschied gemacht, weil der andere ihn wohl kaum zu Wort hätte kommen lassen. Und als er dann aber kapierte, was gesagt wurde, dauerte es noch mal ein bisschen, bis wirklich alle Teilchen an ihren Platz fielen, so dass es wirklich, also wirklich, einen Sinn machte. Vor allem anderen hieß das, was der andere sagte, nein, brüllte: die Iunia war noch nicht tot. Sonst würde er nicht darüber lamentieren, dass ihr jemand nur weh getan hatte. Und schon gar nicht mit Prügel drohen, wenn er das noch mal tat. Dann allerdings rüttelte sich das Bild wieder ein wenig durcheinander, und als die Teilchen zum Ruhen kamen, sah es noch einmal ein wenig anders aus. Axilla war nicht tot, das blieb auch weiterhin so. Aber warum war er jetzt auf einmal der, der ihr weh getan hatte? Gut, er war es ja, er hatte ihr den Trank gegeben, aber er hatte ihr dabei doch nichts vorgemacht, und vor allem: sie hatte ihn doch unbedingt gewollt.


    „Moment mal“, keuchte er erneut, als der Namenlose dann mit der schlimmsten Beleidigung aufwartete. Die anderen gingen ja noch, aber das letzte griff ihn als Arzt an, und das machte Crios wütend – war das doch das einzige, was er tatsächlich ernst nahm, was ihm wirklich etwas bedeutete, was seinem Leben einen Sinn gab. „Was heißt hier impudicus? Ich bin Arzt, ich hab ihr geholfen! Was hältst du von mir?“ Er dachte nicht mehr allzu sehr nach, aber immerhin noch genug, um nun nicht mehr über Axilla zu sagen, als vielleicht gut war. Sie hatte nicht gewollt, dass etwas bekannt wurde von ihrer Schwangerschaft, und daran würde er sich halten, wenigstens solange der andere nicht deutlich machte, dass er Bescheid wusste. Dass der Besucher einen knappen Kopf größer war als er, interessierte ihn im Augenblick hingegen weniger. „Was fällt dir überhaupt ein, hier reinzukommen, mit Beleidigungen um dich zu werfen und Rabatz zu machen? Wer bist du?“