Grau scheint ihr der Tag zu sein, ein helles, leeres Grau, inhaltslos und leicht, aber leicht auf eine Art, die schwer ist – ein Grau, in dem man sich selbst verliert, ein großes, verschlingendes Nichts. In diese Art von Grau scheint ihr der Tag getüncht zu sein. Was faszinierend ist angesichts der Tatsache, dass der Himmel ein zartes Blau trägt… oder auch wieder nicht, ist das Blau doch so zart, dass es beinahe durchscheinend wirkt. So durchscheinend, dass man die Leere, das Nichts dahinter erahnen kann. So durchscheinend, wie sie sich fühlt.
Leise waren Seianas Schritte, die sie zur Ara lenkten, beinahe lautlos. Sie hatte vorbereitet, was nötig war, hatte es schon in der vergangenen Woche vorbereitet gehabt, aber es schien bisher nicht der passende Zeitpunkt gewesen zu sein. Immer war etwas zu tun gewesen… Seiana wusste, tief in ihrem Herzen, dass es nicht daran lag, dass sie zu viel zu tun hatte, dass sie ihr Opfer aufschob. Es hatte ganz andere Gründe. Es hatte dieselben Gründe, aus denen ihr Schritt auch jetzt langsam und zögerlich war.
So viel geschieht in letzter Zeit. Viel zu viel. Sie fühlt sich, als sei sie nicht mehr in der Lage Schritt zu halten, als wüchse ihr alles über ihren Kopf. Altes, Vergangenes, längst hinter sich gelassen Geglaubtes bricht wieder über ihr herein. So gut ist sie darin, zu verbergen und zu verdrängen… Und doch sind da die Momente, in denen sie dazu nicht in der Lage ist. Momente, in denen sich offenbart, was ihrem Inneren zugrunde liegt. Der Bodensatz der Seele. Alte Narben, alte Wunden, nie vollständig verheilt. Wie können Wunden heilen, wenn nie die Zeit, der Raum zum Heilen gelassen wurde? Wie kann Raum zum Heilen gelassen, geschaffen werden, wenn die Konfrontation mit dem Schmerz so viel schlimmer ist als die Flucht… So lange die Balance zu halten ist, so lange es einen nicht einholt, ist es einfacher, zu fliehen. Aber irgendwann holt es einen ein. Wie eine Lawine, so unaufhaltsam. Irgendwann holt einen alles ein.
Langsam und zögerlich trat sie vor die Ara. Das Kohlebecken glühte vor sich hin, tauchte ihre Umgebung in ein sanftes Licht. Seiana stellte den Korb ab, den sie dabei hatte, und holte Salz, Brot und Wein hervor, verteilte sie mit Bewegungen, die nur deshalb ruhig waren, weil sie sich jahrelang in Kontrolle geübt hatte. Bereitete sie vor und opferte sie schließlich.
So durchscheinend fühlt sie sich… Und es sind diese grauen Tage, in denen sie realisiert, dass sie sich nie Zeit zum Trauern genommen hat. Oh, sie hat getrauert. Sie hat getrauert. Aber sie hat sich… nie Zeit dafür genommen. Raum gelassen. Hat Trauer und Verlust und Schmerz nur so weit zugelassen, wie unumgänglich war, um nicht zu zerbrechen. Aber es rächt sich, irgendwann. Es holt einen ein. Es holt sie ein. Und alles scheint plötzlich in Frage gestellt. Ein ganzes Leben auf dem Prüfstand. Ein ganzes Leben vor Gericht, vor einem Richter mit kalten, unbarmherzigen Augen.
Seiana kam einfach nicht umhin, sich zu fragen, ob es richtig war, was sie tat. Wie sie ihr Leben lebte. Sie entzündete ein Räucherstäbchen und dachte an ihre Mutter, zum ersten Mal seit langer Zeit bewusst, ohne dass von außen ein entsprechender Auslöser gegeben war. Sie hatte sie geliebt. Aber sie hatte immer damit leben müssen, dass sie – in ihren eigenen Augen wenigstens – nie an erster Stelle gestanden hatte. Das dritte Kind von vieren. Ein Mädchen. Das noch dazu bei weitem nicht dem Bild eines braven Mädchens entsprach, wie sie es hätte sollen, das zu wild, zu unbändig, zu stolz gewesen war. Das die Erwartungen der Mutter nicht erfüllt hatte. Und dann war ihre Mutter gestorben, gestorben, bevor sich daran etwas hatte ändern können. Was ihr blieb, war das schmerzhafte Gefühl, nie genug gewesen zu sein. Genauso wie das schmerzhafte Gefühl, dem Herzen ihrer Mutter nie so nahe gewesen zu sein wie ihre Geschwister.
Man glaubt immer, so viel Zeit zu haben. Zeit ist etwas, das unendlich ist. Und obschon man um die Endlichkeit dessen, was in dieser Welt existiert, weiß, scheint Zeit doch auch für einen selbst unendlich zu sein. Im Übermaß vorhanden. Erst, wenn es zu spät ist, erkannt man seinen Trugschluss.
Seiana vermisste ihre Mutter – sie vermisste die Stärke, die sie immer ausgestrahlt hatte, die Ruhe und Sicherheit. Sie vermisste es, dass sie – so wenig sie auch ihren Erwartungen entsprochen haben mochte – mit ihr immer jemanden gehabt hatte, der… da gewesen war. Und allein dieses Bewusstsein, das Wissen, dass jemand da war, selbst wenn alle Stricke rissen, vorbehaltlos, hatte eine Sicherheit bedeutet, deren Fehlen ihr nun umso schmerzhafter bewusst wurde, da sie es in den letzten Jahren so völlig ignoriert hatte. So lang war ihr Tod schon her, und doch tat es in manchen Momenten noch so weh, als wäre es erst gestern geschehen. Sie fehlte ihr. Sie fehlte ihr so sehr.