Zwei Wege sinds. Sie führen keinen hin.
Doch manchmal, in Gedanken, läßt der eine
dich weitergehn. Es ist, als gingst du fehl…
Was zögerst du ganz wie zum ersten Mal
erwartungsvoll auf diesem Ulmenplatz,
der feucht und dunkel ist und niebetreten?
Und was verlockt dich für ein Gegensatz,
etwas zu suchen in den sonnigen Beeten,
als wärs der Name eines Rosenstocks?
Was stehst du oft? Was hören deine Ohren?
Und warum siehst du schließlich, wie verloren,
die Falter flimmern um den hohen Phlox.
In einem fremden Park – Rainer Maria Rilke
Es war Nachmittag, als Seiana sich auf den Weg gemacht hatte zum Palast. Die Wachen ließen sie inzwischen anstandslos durch, weil bekannt war, dass sie Caius’ Verlobte war. Über eine Woche war es nun her, dass sie sich das letzte Mal gesehen hatten… Und sie wusste nicht, was sie davon zu halten hatte. In Alexandria hatten sie sich fast jeden Tag gesehen. Und wenn es nur kurz am Abend war, auf einen Becher Wein… Und hier, in Rom? Seiana wusste nicht, was sich geändert hatte. Sicher, sie wohnten jetzt nicht so nah beieinander, und Rom war einfach anders als Alexandria, aber sie hatte nie, niemals, geglaubt, dass das so einen Einfluss hätte haben können auf sie. Sie wusste nur zu gut, was Caius störte, er war ja niemand, der ein Blatt vor den Mund nahm. Nur, war es denn so schlimm, zu warten bis sie verheiratet waren? Nicht nur was… das Bett anging, sondern ganz allgemein? Konnte er nicht begreifen, dass es einfach ein Unterschied war, ob sie zuhause war und sich benehmen konnte, wie sie wollte, weil jeder, der es bemerkte, sich nicht daran störte – oder irgendwo unterwegs, in der Öffentlichkeit oder bei Menschen, die eben keine Familie oder enge Freunde waren? Nein, das schien er nicht zu begreifen. Und Seiana war offenbar niemand, die ihm das so sagen konnte, dass es ihm klar wurde. Sie sagte es einmal, vielleicht zweimal, aber wenn es dann nicht deutlich war, dann ließ sie es, sondern zog nur ihre Konsequenzen. In diesem Fall hatte sie noch mehr von Caius’ Avancen, welcher Art auch immer, abgeblockt als sie es davor schon getan hatte. Caius wiederum war ihr vermehrt aus dem Weg gegangen, so schien es ihr. Wann hatten sie sich eigentlich das letzte Mal allein gesehen – mit dem einzigen Anlass, sich eben zu treffen, Zeit miteinander zu verbringen? Sie schien sich nicht mehr daran erinnern zu können. Die letzten Wochen schienen voll gewesen zu sein mit Terminen bei irgendwelchen Menschen, die sie kaum kannte, aber sie beide, allein?
Seiana unterdrückte ein Seufzen, als ein Sklave sie zu Caius’ Zimmer brachte. Ihre Reaktion auf Caius’ zunehmend merkwürdiges Verhalten war gewesen, dass sie sich in Arbeit stürzte. Arbeit, Arbeit, und wieder Arbeit. Sie hatte sich für zwei Kurse an der Schola eingetragen, der Musikkurs einer Lehrmeisterin des Museions, und darüber hinaus studierte sie dort nun Wirtschaft. Ihre Geschäfte liefen gut, aber bisher hatte sie keine gesicherte Grundlage an Wissen, worauf sie ihre Entscheidungen basieren konnte – sie hatte sich selbst einiges angelesen und angelernt, aber das war etwas anderes, fand sie, als sich an der Schola damit zu beschäftigen, wo sie es professionell lernte. Und es konnte ganz sicher nicht schaden, ihren Geschäften nicht und ihr nicht. Nein, sie hatte ein feines Gespür für Stimmungen, dafür, wenn etwas nicht in Ordnung war, und etwas war nicht in Ordnung zwischen Caius und ihr – nur konnte sie nicht sagen was. Sie meinte, dass es ihre Schuld war, ihre Schuld sein musste. Was sie bei den Pompeiern gesehen hatte, blendete sie, eher unbewusst, aus – sie redete sich ein, dass daran nichts Ungewöhnliches gewesen wäre. Lag es an ihrem Verhalten? Oder war auch ein Grund, dass Faustus sich immer noch gegen diese Bindung sperrte? Das war ihr eigentlicher Grund, warum sie hier war – es konnte so nicht weiter gehen mit ihrer Familie, Caius musste einfach endlich vorbei kommen und mit ihnen reden, ganz normal, nicht auf irgendeinem Sandplatz, wo er wohl mit dem nächsten ihrer Verwandten prügeln würde. Sie hätte eigentlich schon vor Tagen kommen können, kommen müssen, um das endlich in Gang zu bringen, aber sie hatte es aufgeschoben. Sie war eigentlich niemand, der eine Konfrontation scheute, aber wenn sie nicht wusste, woran sie war… wenn sie einfach nur ein ungutes Gefühl hatte, ohne es wirklich zuordnen zu können, ohne zu wissen, woran es lag und was sie dagegen tun konnte… dann vermied sie eine Konfrontation lieber. Sie war gerne vorbereitet, hatte es gern, wenn sie Chancen und Risiken einschätzen konnte. Sie hatte es gern, wenn sie wusste, was sie sagen sollte. Und bei Caius wusste sie im Augenblick nichts davon. Sie fühlte sich merkwürdig unsicher, so unsicher, wie sie sich in seiner Gegenwart, was ihn betraf, schon lang nicht mehr gefühlt hatte.
Inzwischen hatten der Sklave und sie Caius’ Cubiculum erreicht, er klopfte und ließ sie eintreten, was sie auch tat. Etwas verwundert bemerkte sie, wie sauber sein Zimmer zu sein schien. In Alexandria war das selten so ordentlich gewesen, erinnerte sie sich. „Hey“, sagte sie zu ihm, und dann sagte sie erst mal nichts mehr, weil sie nicht wusste, was sie sagen sollte.