Seianas Lächeln, dass sie trotz der merkwürdigen Stimmung noch gehalten hatte, erstarrte zusehends, je länger Livianus sprach. Sie sah ihren Onkel an, ohne seinem Blick auszuweichen, obwohl sie am liebsten weggesehen hätte, gleich schon als es hieß, er habe keinen Brief bekommen. Dann jedoch, als er sagte er hätte bereits von der Verlobung erfahren, aber nicht aus eben jenem Brief oder gar von Meridius, sondern von Aelius Quarto, schloss sie tatsächlich für einen Moment die Augen, und auch ihre Lippen pressten sich aufeinander. Das war das Schlimmste, was hätte passieren können. Dass er nicht von ihr, nicht einmal von einem Familienmitglied von ihrer Verlobung erfuhr, sondern von jemand Außenstehendem. Sie wusste nicht, was sie darauf sagen sollte, aber ihr Glück war, dass sie noch nichts darauf sagen musste – denn ihr Onkel war noch lange nicht fertig. Seiana gab das immerhin die Gelegenheit, zunächst in Ruhe ihre Gedanken zu sammeln, hätte sie doch jetzt wohl erst einmal herumgestottert. Pech daran war, dass Livianus ihr nur noch mehr gab zum Verdauen. Als nächstes sprach er nämlich von Gefühlen, von Liebe – und sie begann sich zu fragen, was für einen Eindruck sie eigentlich auf die Menschen um sich herum machte. Faustus hatte auch schon davon geredet, hatte sogar gemeint, dass die Liebe ihr wohl die Vernunft geraubt hätte. Wirkte sie tatsächlich so? Wirkte sie wie jemand, der sich Hals über Kopf verliebt hatte? Sie hatte war diese Verlobung überlegt eingegangen, hatte sich bewusst dafür entschieden, und das aus verschiedenen Gründen, warum begriff das keiner? Natürlich spielte es eine Rolle, dass sie Caius mochte, dass sie ihn sehr mochte – bei den Göttern, sie hatte vor ihn zu heiraten, ihr Leben mit ihm zu verbringen, ihr ganzes, wenn die Götter ihr wohlgesonnen waren, da war es ihr doch wohl vergönnt einen Mann zu wählen, den sie auch mochte. Mit dem sie sich auch tatsächlich vorstellen konnte, ein Leben zu verbringen. Für Faustus mochte das vielleicht kein Argument sein, dass Caius sie zum Lachen brachte, aber für sie war es eins, ein äußerst wichtiges sogar. Aber politische Überlegungen hatten dabei genauso eine Rolle gespielt. Sie wäre Caius niemals nach Ägypten nachgereist, wäre er kein Mitglied einer Familie, zu der eine Verbindung auch der ihren einen Vorteil brachte. Sie könnte ihn noch so gern haben, sie hätte seinen Antrag niemals angenommen, käme er nicht aus einer Familie, die der ihren würdig war. Was also hatte alle Welt mit ‚Liebe’ und damit, dass ‚die jungen Leute’ vor lauter ‚Gefühlen’ nicht mehr ‚klar denken’ könnten, angeblich?
Und dann sprach Livianus den Punkt an, der auch Faustus am meisten zu schaffen machte. Respekt, Anerkennung, Ehre. Sie musste mit Caius reden, das wusste, sie musste sie an einen Tisch holen und dazu bringen, miteinander zu reden – ihren Verlobten, ihren Bruder, ihren Onkel. Wenn von den Männern das keiner fertig brachte, musste sie eben dafür sorgen, andernfalls würde diese Verlobung in die Brüche gehen, das sah sie schon kommen. Wenn Männer nur nicht so furchtbar stur wären in ihren Ansichten und Denkweisen… Und dann, bevor sie etwas erwidern konnte, gab auch Faustus seinen Kommentar ab. Und Seiana starrte ihn an, mehr perplex und vor allem ungläubig im ersten Moment als vorwurfsvoll. Sie hatten gerade darüber gesprochen? Gerade eben?!? „Wie bitte?“ entfuhr es ihr, bevor sie sich beherrschen konnte. Dann presste sie erneut die Lippen aufeinander. Spielte es denn eine Rolle, ob Faustus hinter ihrem Rücken zu ihrem Onkel gegangen war? Irgendwie schienen sie doch alle alles hinter ihrem Rücken tun zu wollen. Caius hatte es ja auch nicht für nötig gehalten, sie noch mal in Kenntnis darüber zu setzen, wann er sich nun mit ihrem Bruder treffen wollte, und der hatte ihr nichts darüber gesagt, ob er schon eine Einladung oder eine Anfrage von ihrem Verlobten bekommen hatte. Seiana atmete leise, aber tief ein. Es brachte nichts, wenn sie jetzt die Beherrschung verlor, aber gerade fiel es ihr doch zugegebenermaßen schwer, ruhig zu bleiben. Am liebsten wäre sie aufgestanden und gegangen, wenn sie schon nicht mit dem herausplatzen konnte, was ihr auf der Zunge lag, aber nichts davon kam in Frage. Sie konnte sich Faustus gegenüber gehen lassen, aber nicht wenn noch jemand anderes anwesend war. Also tat sie das, was sie in den ganzen letzten Jahren so meisterhaft gelernt hatte: sie beherrschte sich. „Um eines mal klar zu stellen“, und das hoffentlich ein für alle mal, „bei dieser Verlobung handelt es sich, zumindest für meinen Teil, durchaus um eine beabsichtigte politische Verbindung“, begann sie, und ihre Stimme klang kühl. Sie hatte es satt, dass alle Welt dachte, sie als Frau sei nicht dazu in der Lage, in diesen Bahnen zu denken und würde sich stattdessen nur von ihren Gefühlen leiten lassen. Wenn überhaupt war doch Faustus derjenige, der zu laut hier geschrieen hatte, als die Götter in der Sparte Theatralik, Gefühle und weiteres die Begabungen verteilt hatten, aber doch nicht sie. Nein, sie war da eher noch einen Schritt zurückgegangen, zumindest schien sie nicht in der Lage zu sein, das zu empfinden, wovon Faustus und alle anderen sprachen, wenn sie Dinge wie verliebt sein erwähnten. „Nach unserem ersten Aufeinandertreffen hätte ich nicht versucht, Caius Aelius Archias näher kennen zu lernen, würde er nicht diesen Familiennamen tragen.“ Sie hoffte, das war deutlich. Sie hätte ihn umgekehrt auch niemals näher kennen lernen wollen, hätte sie ihn nicht auf Anhieb sympathisch gefunden, das stimmte auch – aber dass er für sie als Mann in Frage gekommen war, das hatte seine Ursache in beiden Tatsachen, dass sie ihn mochte genauso wie dass er Aelier war. „Was den… ganzen… Verlauf betrifft, ich weiß, dass einiges schief gelaufen ist, mehr als nur ein verloren gegangener Brief. Ich war längere Zeit in Alexandria und konnte die Familie nicht so einbinden, wie es angemessen und richtig gewesen wäre. Das habe ich zu verantworten, und dafür entschuldige ich mich. Aber Caius ist bei Meridius vorstellig gewesen, ich bin mit Meridius’ Einverständnis nach Alexandria gereist, und als Meridius dort war, mit seinem Schiff, habe ich ihn an Bord besucht und mit ihm noch einmal über die Verlobung gesprochen, und er war nicht nur einverstanden, er schien äußerst positiv gestimmt zu sein.“ Dass Livianus in dieser Zeit in Parthien verschollen gewesen war, kam noch erschwerend hinzu, aber das wollte Seiana nicht erwähnen, auch wenn dieser Fakt zum Teil mitverantwortlich für die Misere jetzt, zumindest dass Livianus nicht von Anfang an eingebunden gewesen war. Genauso wenig wie sie erwähnte, dass sie nichts dafür konnte, dass Meridius und Livianus offenbar nicht mehr gesprochen hatten über die Familie und die Entwicklungen, bevor Meridius sich nach Tarraco zurückgezogen hatte. Auch das war mitverantwortlich, aber nun gut, vielleicht war das die Lektion, die sie aus dem Ganzen zu lernen hatte – dass sie besser daran tat, sich in Zukunft um alles, aber auch wirklich alles, selbst zu kümmern, wenn sie wollte dass es erledigt wurde.
Sie hatte zu beiden gesprochen, aber dennoch mehr ihren Onkel angesehen als ihren Bruder. Jetzt jedoch warf sie Faustus wieder einen deutlichen Seitenblick zu. Sie hatte bisher noch nicht Stellung genommen zu den Vorwürfen, die mehr oder weniger direkt Caius gemacht worden waren – und diese waren auf Faustus’ Mist gewachsen, jedenfalls klang alles danach. Das Problem war, dass sie hier nicht wusste, was sie darauf sagen sollte. Natürlich wusste sie, wovon Livianus sprach, was Faustus meinte, aber das war nun mal… Caius’ Art. Unkonventionell. Respektlos, wie Faustus und auch Livianus es sahen. Und auch wenn ihr das jetzt gewaltige Probleme bereitete, oder zumindest zu bereiten schien, war das doch einer der Gründe, warum sie ihn so mochte. „Er ist ebenfalls erst vor kurzem aus Alexandria zurückgekehrt, später als ich. Aber er hatte schriftlichen Kontakt mit Faustus“ – im Verlauf dessen Faustus ihm gedroht hatte, ihm irgendetwas zu brechen, und sie in einem separaten Brief gefragt hatte, ob sie schwanger sei. Aber das erwähnte sie besser nicht – „und er hat mir zugesichert, dass er sich mit dir treffen wollte.“ Jetzt sprach sie Faustus direkt an, und während sie ihn ansah, konnte sie nicht verhindern, dass sich in ihren Augen die Bitte um Unterstützung zu spiegeln begann. „Sollte er mich tatsächlich nicht in Ehren halten, werde ich mich zu wehren wissen“, meinte sie noch, etwas leiser, und auch dieser Satz war hauptsächlich an Faustus gerichtet. Es rührte sie ja irgendwie, dass er sich um sie sorgte, und auch wenn sie fand, dass es übertrieben war, wollte sie ihn doch wenigstens wissen lassen, dass sie das ernst nahm.