Witjon war am Boden zerstört. Drei Tage waren vergangen, seit Elfleda ihren letzten Atemzug getan hatte, und es war nur schlimmer gekommen, was Witjon nicht mehr für möglich gehalten hatte. Nicht nur, dass Mogontiacum beinahe pleite war, weil irgendein Irrer die Kasse geplündert hatte. Hadamar, dieser schwachsinnige Dorftrottel, war gleichsam in die Legion eingetreten, um Witjon damit den metaphorischen Todesstoß zu versetzen, indem er ihm zeigte wie sämtliche Handlungsgewalt Witjons Fingern vorwarnungslos entglitt. Nicht gleich war dem Sippenführer der Kinder Wolfriks im ganzen Umfang klar gewesen, wie folgenschwer Elfledas Tod sein würde. Doch spätestens das Erscheinen des mattiakischen Boten Liutbert hatte ihm vor Augen geführt, wie wichtig eigentlich diese Frau gewesen war, die seiner Sippe eine machtvolle Verbindung ermöglicht hatte, was sich nicht zuletzt durch nicht unerheblich verstärkte Handelsbeziehungen zu jenem romfreundlichen Stamm äußerst positiv für die Duccii ausgewirkt hatte. Und das war nur der kaufmännische Aspekt dieser Heirat gewesen.
Elfledas Wichtigkeit verriet nicht zuletzt auch ein Blick in die Trauergemeinde, die sich an diesem unseligen Tag versammelt hatte, um der Toten das letzte Geleit zu geben. Die Elite Mogontiacums hatte sich zu einem beträchtlichen Teil zusammengefunden, was Witjon vor Stolz gerührt zur Kenntnis nahm. Es war an diesem Tag sehr schwer für ihn, noch immer das Bild vom starken Sippenführer aufrecht zu erhalten, auch wenn es jetzt nötiger denn je anmutete. Damals, bei Landos Bestattung, war es ihm so gerade eben gelungen eine unbewegte Miene zu wahren. So wollte Witjon es auch jetzt halten. Doch schon zu Beginn der Prozession waren seine Augen feucht und seine Kehle rau und trocken und er wagte nicht auch nur ein Wort zu sagen, um nicht irgendeine Gefühlsregung offenbaren zu müssen. An seiner Seite gingen Naha und Landulf, die Landos und Elfledas Nachkommen und Witjons Nichte und sein Neffe; und Audaod, Witjons eigener Sohn. Für sie alle war Vergänglichkeit alltäglich. Und doch war es unerwartet gekommen, wie die Mutter und Tante dahingerafft worden war, insbesondere zu einem so ungewohnt frühen Zeitpunkt des Jahres.
Vor der Familie schritten die Bahrenträger voran, unter ihnen der junge Sönke, der sich auch Marius nannte. Witjon betrachtete ihn eine zeitlang schweren Herzens. Der junge Mann war einer der vielen Muntlinge, die Witjon verpflichtet waren. Und auch er hatte es nicht leicht, stellte einen weiteren Problemfall für Witjon dar, das es bald einmal zu lösen galt. Dass Hadamar - völlig unerwartet - vor Sönke Soldat geworden war, ließ Witjon schließen, dass es mit Sönkes dahingehendem Wunsch auch nicht allzu ernst gemeint gewesen sein konnte. Er würde mit dem Burschen ein ernstes Wörtchen zu reden haben. Bald. Irgendwann.
So drifteten seine Gedanken mal mehr, mal weniger trübe von hie nach da, bis die Prozession endlich die Hügelgräber erreicht hatte. Noch immer klangen ihm die Klagelieder in den Ohren nach, drückten ihm aufs Herz und machten ihm das Atmen schwer.
Der Weise fragte die Wächterin des Tranks,
Ob von den Asen und ihren Geschicken
Unten im Hause der Hel sie wüßten
Anfang und Dauer und endlichen Tod.
Ja, so wollte Witjon auch fragen. Doch weise war er definitiv nicht. Und den Fädenspinnerinnen war sein Wohl ja ohnehin gleichgültig. Denn war ihm einmal das Glück beschieden gewesen, so nahmen die Nornen ihm jenes bald darauf wieder, rissen es ihm förmlich aus den Händen. Sei es in Form seiner jungen Braut, die sein größter Segen gewesen war, sei es in Form des Vetters, der ihm einer der wichtigsten, wenn nicht der wichtigste Gefährte gewesen war, sei es in Form von Elfleda, der wunderschönen, pflichtbewussten, liebevollen Hausherrin, die ihm seit Landos Tod mehr denn je die Stütze darstellte, die ihn vom Absturz bewahrt hatte. Die Nornen machten ihn im wahrsten Sinne des Wortes todeinsam. So betete er täglich und gab regelmäßig Opfergaben, auf dass die unbarmherzigen Drei ihm nicht auch noch Audaod - seinen einzigen Sohn - fortrissen.
Während der folgenden Rede des Goden musste Witjon etliche Male schwer schlucken, um seine Tränen einhalten zu können. Er stand mit der ganzen Familie in der vordersten Reihe und war somit für alle Anwesenden sichtbar. Wenn er ausgerechnet jetzt zusammenbrach, war es um den Ruf der Sippe dahin. Die Söhne Wolfriks durften nicht schwach wirken, auch wenn gerade eins ihrer stärksten Mitglieder, das auch noch eine Frau gewesen war, zu Grabe getragen wurde. Witjon vermied es Landulf oder Naha anzusehen, nicht einmal einen Seitenblick erhielten sie in diesen Augenblicken von ihm. Besonders Naha hatte schon immer eine gewisse Abneigung gegen ihn gepflegt, die ihn auch jetzt davon abhielt, in irgendeiner Weise Blickkontakt zu suchen. Er starrte einfach mit glasigem Blick geradeaus und versuchte einen ungewissen Punkt irgendwo im Rücken des Goden zu fixieren.
Zaudern bedeutet den Tod und das Ende hallten schließlich die letzten Worte der Totenrede nach, als der Gode bereits zu Witjon und Landulf herangetreten war und ihnen die Fackeln in die Hand drückte. Das tat Thorger mit ausgewiesenem Nachdruck und umso fügsamer nahm Witjon die Flamme entgegen, um mit halbem Ohr den weiteren Worten des Goden zu lauschen. Irgendwo schweifte sein Verstand einmal mehr ab und machte sich selbständig, während die Beschwörungen wie in weiter Ferne klangen. Vor Witjons Augen tanzte der Schein der Fackel auf und ab und mit einem Mal wurde ihm seltsam schwarz vor Augen. Ein Schauer durchfuhr ihn und für einen schreckenerregenden Sekundenbruchteil fürchtete er, einen Anfall erleiden zu müssen und sich auf dem kalten Boden wiederzufinden. Doch seine weichen Knie knickten nicht ein, sein Geist gab nicht nach und Witjon blieb an seinem Platz, beinahe unbewegt blieb er stehen. Und bemerkte, dass der Gode ihn in abrupt aufgetretener Stille anstarrte. Wodan hilf, jetzt war es so weit! Donar gib mir Kraft! schrie Witjons Verstand, als er sich der Herausforderung gegenüber sah, den ersten Schritt auf den Scheiterhaufen zu zu tun. Witjon hatte furchtbare Angst vor dem, was die Endgültigkeit der Verbrennung bedeutete. Er fürchtete sich davor, so sehr sogar, dass er in schwachen Momenten der letzten Tage bereits über schändliche Flucht nachgedacht hatte.
Endlich regte Witjon sich, mehr reflexartig denn bewusst. Er warf einen Seitenblick auf Landulf, nickte ihm im Versuch einer mutmachenden Geste zu und setzte dann einen Fuß vor den anderen. Erst langsam, dann zielstrebig, so dass es nicht so wirkte als haste Landulf ihm hinterher, sondern in einer gleichzeitig wirkenden Bewegung. Den Verstand schlussendlich gänzlich ausgeschaltet handelte Witjon aus Erfahrung heraus, denn bestattet hatte er bereits güngend geliebte Menschen. Und bald brannte die alles verzehrende Flamme und fraß sich durch den Holzstapel in die Höhe. Witjon konnte nicht anders, er musste einen letzten Blick auf Elfleda werfen. Und es zeriss ihm das Herz, wie er sie von Krankheit entstellt da liegen sah. Stumm trauerte er, unfähig eine Regung zu zeigen in Zwiespalt über das Demonstrieren von Stärke und das Zulassen von Schwäche.
Und während das Feuer knackte und knisterte und sich langsam der beißende Gestank verbrannten Fleisches einstellte, verhöhnten die Nornen den Rich der Söhne Wolfriks in seinem Leid.