Die Decke schien immer näher zu kommen, wie ein lebendiges Wesen aus blauer Schwärze, das nach ihr griff und sie erdrücken wollte. Axilla lag auf ihrem Bett und starrte nach oben zu der weiß gekalkten Fläche, die ohne Licht so dunkel und bedrohlich wirkte. Sie hörte ihren eigenen Atem, aber es kam ihr vor, als wär es der Atem des ganzen Raumes. Wie ein großes, lauerndes Tier wartete der ganze Palast darauf, dass sie die Augen schloss, um sie dann mit der ganzen Gewalt der Räumlichkeiten zu ersticken.
Normalerweise war es nicht so schlimm für Axilla. Zwar fühlte sie sich unwohl, aber nicht so wie heute. Sie konnte nicht schlafen. Das, was Vala ihr gesagt hatte, bekam sie nicht mehr aus dem Kopf. Die ersten tage hatte sie es noch abgetan und ignoriert, weil es einfach unmöglich war. Archias liebte sie. Er würde ihr nicht weh tun. Aber seit nunmehr zwei Tagen schlich sich eine Frage in ihre Gedanken, die immer lauter wurde, wie das Herannahen einer gewaltigen Armee mit zehntausend Schwertern. Und jedes dieser Schwerter war ein kleiner Zweifel. War sie sich sicher? Was wenn doch? Woher wollte sie wissen, dass er damit nichts zu tun hatte?
Axilla wälzte sich auf die Seite und umschlang fest ihr Kissen. Die Decke lag ihr nur leicht um die Hüften, ihr Rücken lag frei. Sie fröstelte, aber nicht, weil ihr kalt war. Ihr Blick glitt über das Kissen hinweg zur Tür, wie so oft in dieser Nacht. Vom Mond nur schwach beschienen sah sie den Riegel an der Tür, der zugezogen war, wie überhaupt in den letzten Nächten. Sie war versucht, nochmal aufzustehen und zu prüfen, ob er denn auch wirklich schloss, wie schon zweimal heute Nacht, aber sie blieb noch liegen.
Das ist doch verrückt, ging es ihr durch den Kopf, und sie zwang sich, wieder auf den Rücken zu liegen. Sie starrte wieder hoch zur Decke. Archias würde das nicht tun. Archias würde niemanden ermorden lassen.
Bist du sicher?
Wieder zur Seite gedreht, diesmal zur anderen, das Kissen im Rücken. Nein, sie war nicht sicher. Sie dachte an die Unterhaltungen, die sie gehabt hatten, nach der missglückten Abtreibung. Wie er gemeint hatte, er hätte Crios eine Abreibung verpasst und würde wieder hin, wenn der Arzt sie nicht in Ruhe ließe. Und dann, als sie das Kind verloren hatte, wie er dem Arzt an den Kragen gegangen war. Und der hatte ja gar nichts dafür gekonnt.
Aber das war doch völlig verrückt. Sie drehte sich wieder auf den Rücken und starrte zur Decke. Selbst wenn er eifersüchtig war und da Beschützerinstinkt entwickelt hatte, ohne sich selbst die Finger dabei schmutzig zu machen, warum sollte er Leander umbringen? Leander hatte niemanden bedroht, und er hatte nichts getan. Sie hätte Leander befehlen können, mit ihr ins Bett zu gehen, und es hätte wohl katastrophal geendet. Leander war durch Frauen nicht zu erregen, da hätte sich Axilla nackt an ihm reiben können und es wäre nichts passiert. Deshalb war er ja ihr Leibsklave gewesen, weil sie ihm absolut vertrauen konnte. Er war ein Mann gewesen, ohne männliche Ansprüche an sie zu stellen. Es war perfekt gewesen. Warum also hätte Archias ihn aus dem Weg schaffen sollen. Nein, das ergab keinen Sinn.
Und was, wenn doch?
Axilla drehte sich wieder in Richtung Tür. Das vermaledeite Kissen lag nun im Weg und wurde mit einigem Boxen in Form gebracht, so dass es nicht störte. War der Riegel wirklich zu? Axilla bekam dieses ungute Kribbeln in der Magengegend, wenn man sich unsicher fühlte und nicht wusste, ob man eine Sache wirklich gemacht oder doch geträumt hatte. Mit bleiernen Bewegungen kämpfte sie sich aus dem Bett und tappste im Dunkeln hinüber zur Tür. Jede Bewegung schien unendlich schwerfällig, und wo sie im Liegen eben noch hellwach gewesen war, fühlte sie sich jetzt, als würde sie im Laufen schlafen. Sie erreichte die Tür und ruckte einmal am Riegel. Die Tür war verschlossen, der Riegel fest vorgeschoben. Sie konnte sich nicht öffnen. Hundemüde torkelte sie zurück und krabbelte wieder in ihr Bett. Die Decke wehrte sich irgendwie und verhedderte sich bei ihren Füßen, aber nach einem kleinen Kampf war auch das Problem gelöst und Axilla lag da und schloss die Augen. Sie war ja so müde.
Und sie konnte ja sowas von nicht schlafen!
Ungehalten über sich selbst stöhnte sie einmal resignierend. “Warum sollte er Leander aus dem Weg schaffen wollen?“ Das ergab doch keinen Sinn. Leander war homosexuell. Archias wusste... nein, er wusste das nicht. Axillas Augen öffneten sich und sie starrte auf einen dunklen Fleck irgendwo an ihrer Wand, wo eigentlich das Bild einer Nymphe prangte. Jetzt im Dunklen war es nicht zu sehen.
Aber Archias wusste gar nicht, dass Leander nur Männer gemocht hatte. Sie hatten nie darüber gesprochen. Warum auch? Axilla war es nie wichtig gewesen, und Leander war gestorben, ehe sie verheiratet gewesen waren.
Axilla lag da und hörte zu, wie ihr Herz raste. Konnte das der Grund sein? Dachte Archias wirklich, dass sie und Leander...? Nein, das war absurd! Das war vollkommen absurd! Absolut und vollkommen ausgeschlossen! Ein unwilliges Schnauben herrschte durch den Raum, als sie sich auf den Bauch drehte und das Kissen sich über den Kopf zog. Es war absurd, und sie sollte dringend schlafen.
Bist du sicher?“
Axilla hätte heulen mögen vor Verzweiflung. Noch andere Sachen kamen ihr in den Sinn. Die immer wiederkehrenden Diskussionen über Vala, dass dieser sie habe umbringen wollen. Dass der Überfall eben kein Zufall war. Aber woher hätte Archias denn wissen sollen, dass das kein normaler Überfall war, sondern da jemand seine Hände im Spiel hatte? Woher denn?
Und Vala... der hatte nie etwas getan, außer mit ihr bei dieser Hochzeit zu kommen, und dafür hatte Archias ihm gleich eine Nachspeise über den Kopf gelehrt. Und damals hatte er ja noch nicht einmal irgendeinen Anspruch an Axilla gehabt und hatte sich in aller Öffentlichkeit lächerlich gemacht. Und dann noch die Sache mit der Einladung, die Vala ihr erzählt hatte. Sie hatte das Papier selbst in Händen gehalten. Sie hatte selber das Siegel gesehen, und die gefälschte Unterschrift von Quarto. Sie glaubte Vala, was passiert war. Woher hätte er sonst das aelische Siegel haben sollen für diesen Brief? Warum hätte er ihr das erzählen, warum sie warnen sollen? Vala war ein Freund, der nie auch nur irgendwas getan hatte, um ihre Ehre zu gefährden.
Ganz im Gegensatz zu Archias, der mit ihr geschlafen hatte, obwohl er mit einer anderen verlobt war. Der sie nachts bei sich hatte übernachten lassen nach Urgulanias Tod, und sie nicht heimgebracht hatte, wie es schicklich gewesen wäre. Auch da war er noch mit Seiana verlobt gewesen.
Axilla drehte sich auf den Rücken. Sie war ja selber nicht unschuldig daran, aber sie war noch keine zwanzig, und Archias schon bald vierzig. Und ein Mann! Er hätte daran denken müssen und sie nicht darin bestärken sollen, diese unglückselige Affäre fortzuführen. So hatte doch der Eindruck entstehen müssen, sie sie seine Geliebte. Wenn er sie nicht geheiratet hätte... ihr Ruf wäre ruiniert gewesen. Axilla wurde schlecht, wenn sie daran dachte, wie naiv sie gewesen war. Sie hätte mehr daran denken müssen. Sie hätte sich von ihren Gefühlen nicht so überwältigen lassen dürfen, dann wäre das alles nie passiert.
Eine Hand wanderte an Axillas Stirn, während sie da auf dem Rücken lag, und stützte sich ab, den Ellbogen in der Luft. Der leichte Druck auf ihre Stirn tat ihr gut, als würde er den Druck im inneren ihres Schädels mindern.
"..denk einmal genauer drüber nach. Aelius Archias reagiert schon übermäßig eifersüchtig, als er noch mit der Decima verlobt war, und ich NUR in deiner Begleitung auf einer Hochzeit war. Ihm war der Skandal darum vollkommen egal, auf der Hochzeit im Hause einer der ältesten und wichtigsten Gentes Roms. Dann heiratet er dich, und fortan ist jeder Kontakt mit mir verboten. Und dann wird Leander auf offener Straße rein zufällig gemeuchelt. Daraufhin pflastert er dich mit IHM treu ergebenen Leibwächtern zu..."
Valas Worte hallten in ihrem Schädel, als wäre der eine große, leere Halle, und jeder Laut verursachte ein Echo wie ein Hammerschlag in ihr. Ihr Schädel schien bersten zu wollen. Die Zweite Hand gesellte sich zur ersten, übte leichten Druck auf ihre Stirn aus, auf diese Stelle direkt über ihren Augen.
War das der Grund gewesen? Damit er ihr seine Leibwächter aufdrängen konnte? Damit sie sich nicht vernünftig gegen diese Entscheidung wehren konnte? Er hatte erst davon abgelassen, als sie sich ihm über Wochen hinweg verweigert hatte und sich so weit von ihm entfremdet hatte, dass ihm keine andere Wahl mehr geblieben war. Er hätte sie sonst verloren. Das wusste er auch.
Und nun erschien auch die Drohung mit der Scheidung in einem anderen Licht. Hatte er das gemacht, damit sie gefügiger war? Damit sie auf ihn hörte wegen Vala, der an dem Tag mal wieder Streitthema gewesen war? Von dem er immernoch wollte, dass Axilla annahm, er habe Leander getötet? War das der Grund gewesen?
Ein Schluchzen ging durch Axillas Körper, und kurz löste sich die ganze Anspannung in einem kleinen Heulkrampf. Sie wusste es doch nicht! War das wirklcih wahr? Hatte Vala recht? Warum sollte er sie vor ihrem Mann warnen wollen? Warum sollte er das erfinden? Er wollte ja nichts von ihr! Gar nichts! Er hatte ihr nie irgendwelche Avancen gemacht, sie nie um etwas gebeten oder sie zu etwas genötigt. Im Gegenteil, jeder Gefallen, den sie ihm tat, musste sie vor ihm noch rechtfertigen. Warum also sollte er in diesem Punkt sie anlügen?
Axilla drehte sich auf den Bauch, schnappte das Kissen, biss vor Verzweiflung hinein, während ihr Körper durchgeschüttelt wurde. Die Beine zog sie an, so gut sie konnte. Es tat so sehr weh. Was, wenn es stimmte? Was dann?
Es dauerte eine Weile, ehe ihr Atem wieder ruhig ging. Mittlerweile wurde der Himmel draußen schon bleiern grau und hellte auf, doch noch war es Nacht. Sie hatte nicht mitbekommen, sollte sie doch einmal eingenickt sein und ein wenig geschlafen haben.
Sie musste Archias irgendwie darauf ansprechen. Das Thema darauf bringen. Sie brauchte Gewissheit. Sie konnte so nicht weiterleben. Nicht hier. Das zerriss sie. Sie musste wissen, ob er das tatsächlich getan hatte. Sie wollte ihn nicht verurteilen. Er liebte sie doch! Das wusste sie. Aber... war sie sich sicher?