Damit war für Axilla alles geklärt. Sie sah noch einmal zu ihrer Cousine hinüber, als müsse sie erst bei dieser Kraft schöpfen. Noch immer war sie aufgeregt, und der beißende Qualm, der von den Kohlebecken herzog, kratzte in der Kehle und an den Augen. Die Sonne ging gerade unter, so dass das fahle Licht des Abends langsam in schwärzere Dunkelheit hinüberglitt, grotesk erhellt von den züngelnden Flammen um sie herum. Schatten fingen an, wie lebendige Wesen am Boden zu tanzen. Ein unheimlicher Platz, und Axilla konnte sich der Macht der Angst nicht gänzlich erwehren. Nur Mut, kleines Eichhörnchen, gab sie sich selbst einen kleinen Ruck und nickte dann dem Aedituus zu.
“Gut, dann... wollen wir mal.“ Es klang zwar noch nicht ganz überzeugt, aber es war zumindest eine Ansage.
Axilla schritt also in Richtung der Flötenspieler hinüber, direkt mittig vor den Tempel. In ihrem Rücken stand nun der Ochse, auf sein Schicksal wartend. Axilla sah noch einmal hoch zu den marmornen Säulen des Tempels, die im Feuer der Kohlebecken mit tanzenden Schatten überzogen waren. Die letzte Chance, das alles doch abzubrechen. Sie sah hoch, und höher in den graublauen Winterhimmel, den kein Stern erhellte. Sie kam sich so klein und unbedeutend vor, und ihr war so unendlich schlecht. Sie holte noch einmal Luft, ähnlich einem zum Tode Verurteilen, und schloss die Augen. Als sie sie wieder öffnete, straffte sich ihre Gestalt und schien zum ersten Mal an diesem Abend ruhig und gefasst. Sie sah zu den tibicines hinüber und gab ihnen einen kleinen Wink mit der Hand. Sofort spielten sie mit ihren Flöten die alten Melodien, die die Geräusche der Straße übertönten und dem Opferherren so helfen sollten, die Konzentration zu behalten.
Ganz langsam ging Axilla vorwärts, zum Tempel. Direkt hinter ihr fühlte sie Serrana, aber sie drehte sich nicht mehr nach ihr um. Dem Orpheus gleich hieß es jetzt, nicht mehr zurückzublicken, und so sah sie die kleine Reihe mit Opferhelfern nicht, die ihr zu dem Becken mit dem noch immer kalten Wasser folgten.
Sie tauchte die Hände in die eiskalte Flüssigkeit und wusch sich – jetzt bereits zum dritten Mal an in Vorbereitung zu diesem Opfer – die Hände. Langsam und Bedächtig waren die Bewegungen, auch wenn die Hände leicht zitterten, als sie sie wieder aus dem Wasser nahm und leicht abtropfen ließ. Mit klammen Fingern ging es weiter, hinein in den Tempel.
Hier drinnen war es noch etwas dunkler als draußen, aber das Licht reichte, um alles zu sehen. Mit langsamen Schritten ging es vorwärts zur Statue des unterirdischen Gottes. In den meisten Tempeln waren diese Bildnisse übermannsgroß und dadurch furchteinflößend, doch diese hier war nicht viel größer als Axilla selbst. Allerdings machte sie das nicht weniger furchteinflößend. Dis saß auf seinem Thron, die schwefelige Krone auf dem Haupt, ein phallusartiges Szepter in der Hand. Der Blick der Statue allein zwang jedem Betrachter Respekt ab, und ergeben senkte Axilla den Kopf vor dem Stein.
Der Altar war direkt vor ihr, und einen Moment starrte Axilla wie ein hypnotisiertes Kaninchen einfach nur in die Öffnung zu ihren nackten Füßen. Alles war bereit, sie musste nur anfangen. Anfangen...
“Dis Pater...“ Ihre Stimme schnitt laut in die unheimliche Schwärze. Auch wenn die Flötenspieler die Stille vertrieben, Axilla meinte, die hohen Töne würden gar nicht bis zum Altar vordringen. Als wäre eine Aura aus Gefühllosigkeit um die schreckliche Statue herum, die alles, was lebendig war, aufzusaugen schien. “Reicher Vater. Sieh, was ich dir bringe. Ich entzünde dir Weihrauch aus Syria, und hoffe, er erfreut dich.“
Axilla ließ sich von Serrana den Beutel mit den feinen Harzkugeln reichen, die sie großzügig in die Feuerschale kippte. Sofort qualmte es kräftig, grauweißer Rauch waberte den Altar hinunter und erfüllte den Raum mit seinem süßlich-scharfem Duft, vermischte sich mit den scharfen Kräutern zu einer Melange der beißenden Gerüche. Es kratzte in der Kehle und brannte in den Augen, aber Axilla zuckte nicht.
“Möge er die Opfergaben reinigen, wie du, Februus, der Reinigende für uns Sterbliche bist.
Herr über den dritten Teil der Welt, der Erde und von allem, das in ihr ist. Nimm meine bescheidenen Gaben. Sie sollen dir gehören und nur dir. Ich bringe dir Öl, gepresst aus Oliven und gefiltert, bis es klar ist.“ Axilla streckte die Hand aus, damit ihr Serrana die Amphore mit dem Öl reichen konnte. Das Feuer schimmerte auf der klaren Flüssigkeit, als Axilla es langsam und beständig in die Mulde zu ihren Füßen goss. “Nimm diese Gabe von deiner Dienerin, Iunia Axilla. Ich habe es sorgfältig ausgesucht in der Hoffnung, es möge dir gefallen.“
Axilla reichte die Amphore zurück und ließ sich das nächste Stück angeben. Es waren kleine Silbermünzen, nicht viele, aber in mühevoller Kleinarbeit zu hohem Glanz poliert. Axilla legte sie vorsichtig auf den foculus, eine nach der anderen, und sprach dabei beständi, langsam und deutlich weiter.
“Dir, oh Reicher, Herr über alle Juwelen und Silberminen, bringe ich feines Silber. Genommen aus der Erde, die dir Untertan ist, soll es dir wieder gegeben werden, auf dass du auch weiterhin deinen Reichtum mit uns Sterblichen teilst.“
Als nächstes folgte der Honig. Klebrig und schwer träufelte Axilla ihn in die Mulde. “Orcus, Furienherr, Hüter der Toten, der du uns die Süße des Lebens genießen lässt, der du den Frühling, Proserpina, liebst, Gnädiger, Gerechter, dir bringe ich süßen Honig. Er soll dir gehören, und nur dir.“ Die klebrige Wabe in der tönernen Schale stellte Axilla auch vorsichtig auf den Altar, denn auch diese sollte dem Gott gehören.
“Und schließlich, Pluto, Herr von allem, was nach dem Tod kommt, bringe ich dir mulsum. Es soll dir gehören, und nur dir.“
Axilla goss das schwere, süße Honig-Wein-Gemisch in die Öffnung. Es spülte die Reste des Honigs, die langsam hinuntersickerten, mit sich schnell hinab in das dunkle Loch und verschwand in der Schwärze der Erde. Axilla gab schweigend die Amphore zurück an Serrana, und sah diese einmal zögerlich an. Sie hatte noch immer Angst, geradezu Ehrfurcht, und das war in ihrem Blick deutlich zu sehen. Aber so sehr sie auch wünschte, jetzt einfach fliehen zu können, so wenig konnte sie es. Mit leicht zitternden Händen drehte sich Axilla wieder der Statue zu, erhob die Hände, wie zu einer Bitte.
“Oh großer Gott, der du uns Menschen schon seit dem goldenen Zeitalter kennst, der du uns begleitest jeden Tag unseres Lebens und der du uns empfängst, wenn wir sterben. Reicher Vater, Dis Pater, ich weiß, ich habe dir nicht so oft geopfert, wie ich hätte sollen. Ich weiß, ich habe dir nicht so oft gedacht, wie ich hätte sollen. Ich weiß, dass ich viele Fehler habe, über die du einst richten wirst. Und dennoch bitte ich dich nicht für mich, sondern für Urgulania, meine Cousine, die schändlich ermordet wurde auf den Straßen Alexandrias. Ich bitte dich, nimm sie gnädig auf. Sieh über ihre Fehler hinweg, und sieh statt dessen, was in meinem Herzen für sie ist und wie mein Herz sie sieht. Sie war eine gute Frau, eine große Lehrerin, die im Respekt für die Götter ihre Ämter versehen hat. Heiße sie in Elysio willkommen, wo immer Frühling und Sonnenschein ist.“
Axilla senkte den Blick wieder vor der großen Statue, die sie niederzustarren schien. Ihre Zunge war schwer und der Kopf schwirrte ihr von den Dämpfen hier herinnen. Die ganze Last ihres Lebens schien sie niederdrücken zu wollen, und sie wurde sich immer gewahrer, wie klein sie doch im Vergleich zu dem Gott war.
“Pluto, ich weiß, ich bin nicht mehr als eine Fliege. Du, der du die Unendlichkeit zwischen den Sternen bist, für dich ist mein Leben nicht mehr als ein Wimpernschlag. Was bedeutet dir da das Leben einer Sterblichen? Und doch bitte ich dich, nein, ich flehe dich an.“
Axilla ließ sich auf die Knie nieder vor dem Altar, die Hände noch immer zu dem Gott leicht erhoben, und jetzt flüsterte sie, was so tief in ihrem Herzen lag. So leise wie möglich brachte sie ihre eigentliche Bitte hervor, damit niemand außer dem Gott die Worte hörte.
[size=6]“Dis Pater, strafe den Mann, der Schuld trägt an Urgulanias Tod. Ich flehe dich an, schick die Furien zu Appius Terentius Cyprianus. Lass meinen Fluch wahr werden. Schicke ihm Verderben. Schicke ihm Nemesis. Lass meinen Wunsch wahr werden, großer Gott, Unendlicher. Einen schönen Stier habe ich für dich, draußen vor dem Tempel. Er wird dir gehören, wie ich es versprochen habe. Aber ich flehe dich an, erhöre mein Gebet!“[/size]
Axilla blieb eine Weile auf den Knien vor der Statue des Gottes und schwieg. In ihren Gedanken herrschte kalte Leere, und sie hoffte, dass dies ein Zeichen des Gottes war, dass er anwesend war und zusah, so wie der Stein auf sie herabblickte. Axilla wusste nicht, wie lange sie so verharrte, aber schließlich stand sie auf und wandte sich, wie der Priester es vorhin noch gesagt hatte, demonstrativ nach Rechts, um das Voropfer abzuschließen.