Nach der ganzen Aufregung hatte Axilla sich seltsam gefühlt. Das Bad mit Serrana hatte gut getan, hatte sie aufgewärmt und abgelenkt. Aber als sie dann so alleine in ihrem Zimmer war und die Gedanken Zeit gehabt hatten, so laut und beständig gegen die Innenseite ihrer Stirn zu hämmern, hatte sie Kopfweh bekommen. Die ganze Situation mit Silanus war etwas, auf das sie nicht vorbereitet gewesen war, und deshalb war sie vollkommen durcheinander.
Eine ganze Weile hatte sie versucht, einzuschlafen, sich in ihrem Bett herumgewälzt, aber es wollte sich kein Schlaf einstellen. Immer wieder kamen die lauten Gedanken zurück, die vorwürfe, die Gewissensbisse, und sie hatte kein Auge zugetan. Noch dazu war ihr immernoch von der Seefahrt fürchterlich schlecht, so dass sich erst recht kein Auge zumachen ließ. Andauernd hatte sie das Gefühl, das Zimmer würde sich drehen.
Axilla hatte am Fenster gestanden und in den Garten hinuntergeschaut. Es sah so friedlich und ruhig da unten alles aus, so um den alten, knorrigen Baum herum. Er erinnerte ein ganz klein wenig an den aus Tarraco, wenn auch nicht ganz. Der hier war kleiner und jünger, aber bestimmt konnte man auch auf ihn gut hinaufklettern. Axilla merkte, wie sehr sie solche Bäume eigentlich vermisst hatte. In Ägypten gab es fast nur Palmen, und auf die konnte man nicht klettern.
Ein tollkühner Plan machte sich in ihr breit. Es war verrückt, und sie wusste es, und es war ganz sicher weder angemessen noch erwachsen. Aber es war richtig, es fühlte sich richtig an. Zuhause hatte sie sich immer auf ihren Baum geflüchtet, wenn ihr alles zuviel geworden war, da war sie einfach nur wie ein Eichhörnchen gewesen und hatte sich eine Weile treiben lassen. Und ihr Herz vermisste diesen Zustand.
Kurzerhand schlich sich Axilla im Dunkeln nach unten, um niemanden zu wecken, und ging hinaus in den Garten. Das Gras unter ihren nackten Füßen war kalt, aber es störte sie nicht. Ebensowenig wie die ansonsten auch sehr frische Nacht. Sie zitterte und fror zwar, aber das war nebensächlich. Mit ein paar Schritten war der Baum auch schon erreicht. Sie streichelte über die Rinde, die sich rau und knarzig anfühlte, etwas klebrig vom Harz. Ein gutes Gefühl. Sie blickte hinauf in das Geäst, suchte kurz nach dem geeigneten Platz, und als sie ihn gefunden hatte, kletterte sie behände nach oben. Die raue Rinde rapste ein wenig ihre Handflächen auf, aber es störte sie nicht, auch nicht an ihren Füßen. Dass ihre lange Tunika – oder besser gesagt, Serranas Tunika, die sie sich geliehen hatte – dreckig werden würde, störte genausowenig. Schnell war die angestrebte Astgabel erreicht und Axilla setzte sich still hinein. Ein wenig wackelig war es schon hier oben, aber die Äste waren stabil und stark. Sie lehnte sich gegen den stamm und schuate eine Weile einfach hinauf in die Sterne. Über ihr stand Cassiopeia, und wie bereits auf der Reise hierher zeichnete sie einmal das große W nach, und fuhr dann mit ihrem Finger über den Himmel zu dem Punkt, an dem der Norden lag. Zufrieden ließ sie sich zurücksinken und schloss die Augen.
Ja, hier war sie frei, hier musste sie nicht nachdenken. Hier war sie mit dem Geist des alten Baumes vereint, der sich nichts aus dieser kurzlebigen Menschheit machte, die um ihn herumschlich. Hier war sie nur ein Eichhörnchen unter vielen, die zu Besuch kamen.
Bis ein Lichtschein in den Garten kam, und Schritte. Still blieb Axilla im Baum sitzen, unsichtbar für den Besucher da unten, und lauschte. Vielleicht ging er ja gleich wieder weg, und sie konnte sich wieder ins Haus schleichen, ohne dass ihr kleiner Ausflug auffiel? Aber die Schritte kamen näher, und schließlich setzte sich jemand auf die Stienbank fast direkt unter ihr. Axillas Herz schlug schneller, weil sie sich ertappt fühlte. Sie blieb still liegen und lauschte, ob der Besucher nicht doch weggehen würde.
Nach etwa einer viertel Stunde wurde es langsam kalt, so reglos und still dazusitzen und sich nicht zu bewegen, kein Geräusch zu machen, um ja nicht aufzufallen. Sie bekam Gänsehaut am ganzen Körper. Vorsichtig riskierte sie einen Blick. Bitte lass es nicht Silanus sein... Und sie hatte Glück. Es war ihr neuer Verwandter – glaubte sie zumindest, aus diesem Winkel sah sie nicht viel außer seiner Schädeldecke mit den Haaren.
Sie sah noch einmal hoch zu den Sternen und überlegte, was sie machen könnte. Sie konnte natürlich warten, bis er doch wegging, aber es wurde so langsam wirklich, wirklich kalt hier oben. Sie haderte mit sich selbst, sah noch einmal nach unten, und schnaufte schließlich sich ihrem Schicksal ergebend durch.
“Salve, Brutus“, meinte sie leise nach unten und hoffte, ihr neuer Verwandter fiel vor Schreck nicht gleich von der Steinbank.