Beiträge von Iunia Axilla

    Er würde es sich durch den Kopf gehen lassen. Prima, vielleicht kam Axilla so ja doch noch ins Castellum. Sie wollte sowieso schon immer mal eines sehen, und solange sie hier nicht wirklich etwas zu tun hatte, war ihr dann doch nur langweilig. Sie konnte sich zwar nicht vorstellen, dass Urgulania wirklich bei irgendetwas Hilfe gebrauchen könnte, aber sie konnte ja mal fragen, bis sich etwas „richtiges“ ergab. Besser, als herumzusitzen und sich zu langweilen.


    Na, vielleicht wär ich dann doch gar kein so schlechter Soldat. Müsste mir nur noch eine Rüstung passen.“ Allein die Vorstellung war komisch. Sie hatte zwar wie jedes Kind schon mal neugierig das Gladius des Vaters in der Hand gehabt, aber als ob sie auch nur ansatzweise wüsste, wie sie es zu gebrauchen hatte. Ihre ganze Waffenkenntnis beschränkte sich auf den einfachen Grundsatz, dass das spitze Ende in den Feind gehörte. „Wobei sich jede Amazone wahrscheinlich dennoch totlachen würde bei meinem Anblick.


    Eigentlich war alles gesagt, was Axilla hatte sagen wollen. Sie hatte alle Antworten erhalten und konnte sich nun endlich hier wie zuhause zu fühlen beginnen. Aber sie wollte noch nicht wirklich gehen. Irgendwie empfand sie Silanus’ Gesellschaft als äußerst angenehm. Also suchte sie einen Grund, noch ein wenig zu bleiben.
    Ich hoffe, ich habe dich jetzt nicht zu sehr von der Arbeit abgehalten. Als Ausgleich könnte ich dir ja gleich ein wenig helfen, was hältst du davon?

    Axilla gab ein Seufzen von sich, wie man es sonst nur bei Erinnerung an einen schönen Traum zu tun pflegt. Vermisste sie ihre Heimat? Ja und nein. Das Land, die Erde unter ihren Füßen, die war hier bestimmt nicht schlechter als in Hispania. Der Ausblick hier war grandios, und auch sonst gab es viel zu bestaunen in Alexandria, dessen Tarraco sich nicht rühmen konnte. Aber die Menschen, die sie geliebt hatte, vermisste sie. Ihre Freunde vermisste sie, das vertraute Gefühl vermisste sie. Ihre Verwandten gaben sich zwar alle Mühe, ihr möglichst schnell dieses Gefühl wiederzugeben, aber einige Dinge konnte eben doch nur eine Mutter vermitteln, andere eben doch nur ein Vater, und wieder andere eben nur die beste Freundin.
    Ich vermisse die unbeschwerte Zeit als Kind. Und meine Freunde, ich kenne hier noch niemanden. Nunja, bis auf einen netten, hungrigen Postbeamten, heißt das.“ Den letzten Satz fügte sie nach einer kleinen Pause mit einem Zwinkern und einem sehr breiten Grinsen hinzu.


    Beim Thema Wein musste sie den Kopf schütteln. Das fiel gleich so energisch aus, dass ihre Haare ganz wild nach vorne flogen, und sie sie mit der Hand erstmal wieder zurückbändigen musste. Männer hatten es da um soviel einfacher mit ihren kurzen Haaren. Am liebsten würde sie sich Axilla auch kurz scheren. Wobei andererseits hieß es, schönes Haar sei für Männer anziehend. Vielleicht doch besser das lange Haar.
    Nein, nicht, dass ich wüsste. Aber ist vielleicht auch besser so. Mir steigt Wein immer so schnell zu Kopf, und dann plappere ich noch mehr, als sowieso schon.
    Und ja, ich wohne hier bei meinem Vetter, Lucius Iunius Silanus. Er ist hier bei der Legion.
    “ Seinen Rang ließ sie aus, sie wollte nicht angeben. Vor allem, da sie für seinen Rang ja auch gar nichts selber getan hatte, und sich mit fremden Federn zu schmücken war nicht ihre Art. „Und kein Wunder, dass du noch keine Iunia getroffen hast. Wir sind ein rares Pflänzchen, wie man so schön sagt.
    Nun knurrte auch ihr Magen. „Keine Sorge, ich bin keine fleischfressende Pflanze. Zumindest keine männerfressende.

    Auf das „Tu dir keinen Zwang an“ schaute Axilla ihr Gegenüber erstmal nur verdutzt an. Sie war es so gewohnt, dass alle wegen ihrem losen Mundwerk entsetzt die Hände über dem Kopf zusammenschlugen, dass dieser offene Konter eine ungewohnte Abwechslung darstellte. Spontan beschloss sie, diesen Mann zu mögen. Der war nicht so in moralische Vorstellungen verhaftet, so dass sie sich gleich freier fühlte. Wenn er das schon leicht hinnahm, dann brauchte sie sich nicht viel Gedanken um ihre flapsige Ausdrucksweise machen.
    Bei seinem Namen zögerte sie kurz. Irgendwas sagte er ihr, da war doch neulich erst… nein, oder? Ein Verwandter des Kaisers würde doch sicher nicht in Ägyptus beim Cursus Publucus sitzen. Und wenn doch, hatte er sicher was angestellt.
    Aber Axilla hatte schon beschlossen, Archias zu mögen, da ließ sie sich von dieser „Kleinigkeit“ nicht davon abbringen. „Und ich bin Iunia Axilla. Freut mich, dich kennen zu lernen, Aelius Archias.
    Ihr eigener Familienname war auch nicht unbedingt mit Ruhm bekleckert. Was auch immer ihren entfernten Verwandten damals dazu bewogen haben mochte, sich gegen Iulius Caesar zu verschwören, er hatte damit der Gens keinen sehr großen Dienst erwiesen. Das war zwar schon lange gerächt, und in der Zwischenzeit hatte es auch einige Iunier gegeben, die Großes für das Reich geleistet hatten. Aber irgendwie schien es Axilla, als würde diese Tat noch in Tausend Jahren für Gesprächsstoff sorgen.


    Bevor ein unangenehmes Schweigen aufkam, plapperte sie also fröhlich weiter.
    Und Hispania ist wunderschön. Das sagt wahrscheinlich jeder von seiner Heimat, aber da ist es wirklich so. Der Iberus macht das Land sehr fruchtbar, überall blüht und wächst es. Wenn man nach Süden schaut, sieht man das Meer, und schaut man nach Nordwesten, sieht man die Berge. Kaum zu glauben, dass die Karthager da wirklich mit Elefanten drübermarschiert sind.
    Dass Hannibals größere Leistung war, die Alpen zu überqueren und nicht die Pyrenäen, war in dem Fall Axilla egal. Ihre Geographiekenntnisse waren ohnehin nicht so besonders, und ein Gebirge war für sie wie jedes andere.
    Und die Ägypter betrinken sich den ganzen Sommer über? Ich glaube, mein Vetter fände es nicht sehr spaßig, wenn ich es ihnen gleich täte.

    Der Aufforderung kam Axilla gerne nach. Sie machte es sich auf dem Stuhl bequem, erinnerte sich dann aber an ihren Unterricht zum richtigen Sitzen und setzte sich damenhaft gerade hin. Zumindest solange sie daran dachte, denn während sie zuhörte und dann antwortete, sank sie wieder bequemer zur Stuhllehne zurück.
    Nein, nicht aus Roma. Da war ich in meinem ganzen Leben noch nie. Auch wenn das nur 16 Jahre sind.
    Ich komme aus Hispania, genauer gesagt der Gegend um Tarraco. Ich bin erst seit ungefähr einer Woche hier, aber so ein Wetter wie heute hab ich noch nicht erlebt. Und du meinst, das wird so die nächsten Wochen bleiben? Wie halten die Ägypter das nur aus? Ich würd’ mich ja jetzt schon am liebsten auszie… ähm nur noch im Schatten bleiben.

    Axilla suchte nach etwas, mit dem sie den Mann schnell von ihrem beinahe verpatzten Satz ablenken könnte. Aber leider war sie immer genau in den Momenten, wo sie ein schlagfertiges Argument oder eine Ausrede brauchte, grundsätzlich sprachlos. Normalerweise war sie ja doch sehr verplappert, aber in solchen Momenten schienen alle Worte wie aus ihrem Kopf geblasen. Also dauerte es einen kurzen Moment, bis sie etwas gefunden hatte.
    Und du bist auch noch nicht so lange hier? Kommst du aus Rom?

    Heiß ist gar kein Ausdruck. Ist es hier in Ägyptus immer so?
    Axilla trat näher, bis sie schließlich direkt vor seinem Tisch war. Mussten ja nicht alle Schreiberlinge ihre blöden Fragen gleich mitbekommen. Ihr Blick fiel auf das belegte Brötchen, in das der Mann grade reinbeißen wollte.
    Oh, stör ich dich gerade beim Essen? Das tut mir leid. Wenn du grade Pause machen wolltest, ich kann auch warten. Ich wollte mich eigentlich nur vor der Sonne flüchten und ein bisschen was fragen.
    Sie hätte sich aber auch denken können, dass Mittags jeder normale Mensch etwas aß und nicht wie sie durch die Stadt taperte. Apropos, sie hatte auch noch nichts gegessen. Das sollte sie gleich mal nachholen, ehe ihr Bauch hier noch zu knurren anfing. Das Brötchen duftete wirklich köstlich, sie könnte es dem Mann nicht verdenken, wenn er erst essen wollte.

    Nachdem Axilla schon sehr früh aufgestanden war, hatte sie beschlossen, sich heute die Stadt anzusehen. Leider ließ es sich nicht vermeiden, dass ein Sklave sie begleiten musste. Immerhin war sie eine junge Dame, und der Maiordomus war da mindestens genauso nachgiebig, wie jeder Axillas Verwandten gewesen wäre. Also war sie mit einem Sklaven im Schlepp aufgebrochen und hatte die Stadt auf eigene Faust erkundet.
    Gegen Mittag aber – Axilla war gerade auf der Agora unterwegs – wurde es in der Stadt beinahe unerträglich heiß. Axilla war zwar einiges gewöhnt, aber diese stechende Sonne war doch ein wenig viel für ihren Geschmack.
    Sie suchte nach einem schattigen Plätzchen, zu dem sie gehen konnte, ohne etwas zu bezahlen. Da stach ihr der Cursus Publicus ins Auge. Ein Gebäude mit römischer Aufschrift in einer Stadt, wo alles andere griechisch zu sein schien, fiel schon mal auf. Und ihr fiel auch gleich wieder ein, dass sie ja Iason noch schreiben wollte. Wo blieb überhaupt sein Brief? Oh, wobei, er war ja auch erst eine Woche wieder weg, der war bestimmt noch nichtmal wieder in Hispania angekommen. Wie lang brauchte so ein Brief überhaupt?
    Nun, das konnte sie ja gleich alles Fragen. Und sie wäre aus dieser vermaledeiten Sonne heraus. Also begab sie sich in Richtung des Gebäudes. Langsam natürlich, für schnelle Schritte war es eindeutig zu warm.


    Drinnen angekommen war der Schatten fast wie eine willkommene, kühle Umarmung. Axilla entfuhr ein leiser Seufzer, als hätte sie einen Ausblick aufs Elysium soeben erhalten. Mit einem Lächeln sah sie sich im Raum um. Viel los war ja nicht gerade, aber das war ihr auch recht. So musste sie nicht warten.
    Salve“, begrüßte sie den Mann, der hier offenbar zuständig war.

    Wie erwartet wurde sie nicht gleich wegen lästerlichen Bemerkungen gegenüber den Göttern zum Beten geschickt. Im Gegenteil schien Silanus eher erleichtert, dass sie noch ein anderes Thema zur Sprache gebracht hatte.
    Bei seinen letzten Worten zog sie einen leichten Schmollmund, der sich aber gleich wieder in ein Lächeln verwandelte.


    Schade, sonst hätte ich zur Not auch bei dir helfen können. Also, wenn du nicht sowieso schon einen Scriba hast?


    Sie blickte kurz zu den ganzen Papieren auf dem Schreibtisch hier. Ein wenig Unterstützung hier und da wäre für ihn bestimmt nicht schlecht. Und Axilla hatte da so eine kleine Schwäche für Männer in Rüstungen. Vielleicht war es wirklich besser, wenn sie nicht ins Castellum ihn besuchen kam.


    Aber wahrscheinlich hast du Recht. Meine Lehrer meinten immer, dass mir von den Göttern wenig Ernsthaftigkeit gegeben sei, dafür im gleichen Zuge aber ein offenes Herz. Wäre ich ein Mann, würde ich wahrscheinlich einen fürchterlichen Soldaten abgeben.
    Bei dem Gedanken musste sie lachen. Sie konnte sich schon vorstellen, wie sie einen Vorgesetzten mit dämlichen Fragen zur Verzweiflung treiben würde.

    Sein Kompliment zauberte wieder einen sanften Rotschimmer auf ihre Wangen, und sie lächelte ihm schüchtern zu. Zuhause hatte sie nicht oft Komplimente erhalten, da sie meistens nur daheim war. Alle Männer dort kannten sie schon, seit sie Laufen gelernt hatte, und das machte sie nicht unbedingt objektiv. Aber von einem jungen Mann, auch wenn er schon zehn Jahre älter und verwandt mit ihr war, für schön gehalten zu werden, war neu. Es war schön und gab Axilla sichtlich Auftrieb.


    Beim Thema Religion wurde er aber komisch. Es schien ihm unangenehm, und es verstärkte ihren Eindruck, dass ihre Verwandten nicht die religiösesten waren. Sie wagte einfach einen Vorstoß, um es auszuloten. Mehr als sie tadeln konnte Silanus nicht. Er würde sie schon nicht gleich zu den Vestalinnen stecken.
    Nun, eigentlich mache ich mir ja nicht so viel aus Religion. Mutter war zwar sehr gläubig, aber alle Opfer haben im Endeffekt auch nichts bewirkt. Und Iuno…“ Axilla ließ ihre Stimme zu einem fast verschwörerischen Flüstern sinken „… wirkt ohnehin immer so altbacken und wenig spaßig.


    Bevor sie wirklich noch Ärger bekam, wechselte sie schnell das Thema.
    Und bei dir im Castellum, wie ist es da?

    Schade, dass Silanus wieder etwas Abstand zwischen sie brachte. Axilla hatte dieses vertraute, innige der Berührung sehr genossen. Jetzt wieder einzeln zu stehen fühlte sich beinahe etwas kalt an. Aber sie konnte ja nicht mit ihrem Vetter kuscheln, immerhin waren sie beide verwandt, und was mochte ein vorbeikommender Besucher dann denken?
    Axilla ließ sich aber nichts anmerken, sondern behielt ihr fröhliches Lächeln bei. „Oh, es ist sehr schön. Und vor allem so groß, ich wusste gar nicht, dass du dir ein so großes Haus leisten kannst. Und von meinem Zimmer aus kann man das Meer sehen. So aus der Ferne ist das ein wirklich sehr schöner Anblick.
    Dass sie es aus der Nähe nicht mochte, vor allem von Bord eines Schiffes aus, ließ sie aus. Dass sie so schlimm seekrank wurde, konnte ja keiner vorher ahnen.
    Aber ich glaube, ich mache der Köchin Sorgen, oder sie will mich mästen. Immer, wenn ich auch nur in ihrer Nähe vorbei gehe, will sie mir irgendwas zu essen mitgeben. Bin ich wirklich so mager?
    Sie sah an sich selbst hinunter und fuhr mit der Hand über ihren Bauch. Sie hatte zwar in letzter Zeit abgenommen, aber noch war doch alles in Ordnung? Sie fand sich nicht zu dünn.
    Achja, ich habe meine Lares zum Ara gebracht und sie dazugestellt, und ein bischen Wein geopfert, und frische Blumen für Iuno.
    Axilla hatte keine Ahnung, wie Silanus es so mit der Religion hielt. Ihr Eindruck vom Ara ließ nicht unbedingt auf große Religiosität schließen, aber besser, sie fragte mal nach.

    Axilla ließ ihren Frohsinn durch dieses „vielleicht“ nicht dämpfen. Sie strahlte übers ganze Gesicht und war jetzt schon ganz aufgeregt, obwohl noch gar nichts arrangiert war. Allein die Vorstellung, wieder eine richtige Aufgabe zu haben, erfüllte sie mit einem Gefühl der tiefen Zufriedenheit.
    Ich bin mir sicher, du findest etwas. Wer könnte dir schon etwas abschlagen? Von einem fröhlichen Menschen lässt sich doch gern jeder anstecken.
    Auch wenn er sehr erwachsen geklungen hatte, sein Lachen war ansteckend, und Axilla lachte mit.

    So wie er seufzte machte sich Axilla schon auf einen Vortrag über weibliche Tugenden gefasst. Iason hatte auch immer genau so geseufzt, wenn er sie beim Klettern auf dem Baum im Garten erwischt hatte. Und danach kam dann immer ein stundenlanger Vortrag darüber, was Mädchen machten und was Mädchen nicht machten und dass Mädchen eben keine Jungen waren.
    Also stellte sie sich schon seelisch und moralisch auf ein „nein“ ein, als ihr Vetter dann überraschend doch zustimmte.


    Das heißt „ja“? Ich darf? Wirklich? Danke!“ Und bei dem letzten Wort fiel Axilla Silanus um den Hals und drückte ihn an sich. Dann ging sie sogar noch auf die Zehenspitzen, um ihm einen kleinen Kuss auf die Wange zu geben. Sie hatte sich so sehr auf eine Absage eingestellt, dass die Freude über seine Erlaubnis einfach überwältigend war. In diesem Moment hätte sie ihn auch richtig geküsst, wenn er das als Dank gewollt hätte, sie war einfach nur glücklich, glücklich, glücklich.
    Ich verspreche dir, ich werde mich anstrengen. Du wirst nie Klagen über mich hören, versprochen.

    Ich möchte ja auch nicht den ganzen Tag auf dem Feld schuften oder so was. Aber ich fühle mich hier so nutzlos.
    Weißt du, zuhause hab ich mich um Mutter gekümmert und den ganzen Schreibkram erledigt und geschaut, dass alle Sklaven ihre Arbeit machen und die Schulden so gut es ging in Grenzen gehalten. Und hier… ich hab einfach nichts zu tun. Urgulania macht das mit dem Haushalt so souverän und alles funktioniert. Aber mir fehlt das irgendwie ein wenig, Papiere zu sortieren und Schreiben aufzusetzen, und sich danach schön mit einem Buch in den Garten zu setzen und Gedichte zu lesen. Das war dann immer eine Belohnung. Wenn ich jetzt ein Gedicht lese, komm ich mir dabei vor, als hätte ich es gar nicht verdient, so faul rumzusitzen.

    Sie hoffte, er verstand das. Normalerweise waren Mädchen ja eher zuhause und warteten sittsam und tugendhaft darauf, verheiratet zu werden und dann möglichst viele männliche Nachkommen zu gebären. So zumindest war Axillas Eindruck, wie sie hätte sein sollen. Aber sie war mehr wie ein Junge, musste sich mit anderen messen, ihre geistigen Grenzen austesten, am besten in Arbeit versinken, um sich dann hindurch zu kämpfen und die eine Stunde dann in vollem Triumph zu genießen, wenn man alles geschafft hatte.
    Ich weiß auch nicht so genau, vielleicht braucht ja irgendjemand einen Scriba oder so, für ein paar Stunden am Tag.

    So wie er sie anlächelte, musste Axilla einfach zurücklächeln. Gut, dass er nicht so ernst war, Silanus schien recht offen und zugänglich. Axilla war froh, dass dies nun geregelt war, jetzt konnte sie sich dann wirklich wie zuhause zu fühlen beginnen.
    Ach, ich bin ganz froh, dass du noch nicht so alt bist. Die meisten alten Menschen, die ich kenne, haben jedes Gefühl für Spaß verloren. Und dabei lach ich doch so gern.
    Ja, bestimmt konnte sie mit Silanus auch mal etwas unternehmen, das Spaß machte. Nicht immer nur lernen und sittsam dasitzen und so tun, als würde einen der Klatsch der Nachbarn wirklich interessieren.
    Oh, da fällt mir aber noch etwas anderes ein. Ich wollte dich eigentlich fragen, ob du mir vielleicht helfen kannst. Ich würde gerne irgendwas Sinnvolles tun. Wenn ich die ganze Zeit nur hier im Haus sitze, fällt mir noch die Decke auf den Kopf.

    Er hatte also keine Kinder? „ Ah, gut. Also, ich meine, nicht gut. Ähm, ich meine, ein so stattlicher Mann wie du könnte sicher… ähm, nein, ich meine natürlich nicht dass… also doch, natürlich aber…nicht so…ich…
    Ja, was eigentlich? Axilla hätte vielleicht erst ihren Verstand und hinterher ihr Mundwerk einschalten sollen, denn so wurden ihre Wangen nur immer roter und ihr Reden immer konfuser.
    Ich geh am besten in die Küche und wasch mir den Mund gleich mal mit Seife aus. Man merkt, die rhetorische Grundausbildung hatte bei mir vollen Erfolg.


    Gut, dass die Sache mit dem Vormund ein anderes Thema noch hergab. Das vorherige Thema verlief so ganz und gar nicht nach Axillas Vorstellung. Und dabei wollte sie ihren Vetter doch beeindrucken, wie stark und selbstständig sie war. Und stattdessen hatte sie ihn nass geweint und angeflirtet und sich alles in allem eben wie eine 16jährige benommen.
    Nun, du könntest mein Vormund doch sein? Ich meine, wenn du nicht befürchtest, dass ich und mein Mundwerk dich noch in Schwierigkeiten bringen.

    Du hast Kinder?
    Axilla war überrascht. Sie dachte, Silanus sei nicht einmal verheiratet – obwohl das, wie sie wusste, nicht unbedingt Voraussetzung zum Kinderkriegen war. Und normalerweise hätten sie oder ihre Mutter doch sicher einen Brief oder ähnliche Nachricht gekriegt, wenn es Verwandtschaftszuwachs gab.
    Nunja, er war 26, er sah für ihre Begriffe sehr gut aus, warum sollte er keine Kinder haben? Aber wo waren die dann? Sie hatte im Haus in den ganzen tagen kein Kind und auch keine dazugehörige Mutter entdecken können. Vielleicht hatte sie ihn auch nur falsch verstanden mit den Großcousinen.

    Silanus war so nett, am liebsten hätte sie ihn wieder umarmt, oder ihn sogar geküsst. Natürlich schwesterlich auf die Wange. Aber da beherrschte sie sich nun doch. Ein paar Manieren waren ihr trotz allem doch beigebracht worden.
    Ja, Urgulania hat mir mein Zimmer herrichten lassen und mich begrüßt bei der Ankunft. Sie ist meine Cousine? Sie ist so…. alt.
    Das war nicht böse gemeint, aber in ihrer Familie waren nun schon so viele so jung gestorben, dass es doch verwunderlich war, jemanden so altes zu treffen. Und noch verwunderlicher, wenn dieser dann gar keine Großtante oder so was war, sondern eine Cousine.
    Dankbar nahm sie das Tuch entgegen und fuhr sich damit sanft einmal um die Augen.


    Und damit waren sie auch schon beim Thema Alter angelangt. Sie und Silanus hatten sich wirklich sehr lange nicht mehr gesehen. Damals musste sie noch ein richtiges Kind gewesen sein.
    Ich bin sechzehn.
    War das nur Neugier oder wollte er auf etwas hinaus? Er hatte sie vorhin gemustert, das war Axilla aufgefallen. Plötzlich schossen ihr Iasons Worte vom Hafen wieder durch den Kopf, dass sie ihrem Cousin mit ihrem Charme noch den Kopf verdrehen würde. Allein bei dem Gedanken daran wurde sie ein wenig rot.
    Nein, nein, das stimmte bestimmt nicht. So hatte Silanus nun auch wieder nicht geguckt. Dämliche graeculi und ihre Worte.
    Und du?
    Nur schnell weiterreden und sich nichts anmerken lassen.

    Zunächst sträubte sich Axilla etwas gegen die neuerliche Umarmung. Sie wusste, wenn er sie so umarmte, konnte sie ihre Fassung nicht lange behalten, und sie wollte nicht weinen. Aber ihr Widerstand war schnell gebrochen. Sie schmiegte sich an ihn, hielt sich an ihm fest, als wäre er der einzige Bestandteil ihrer Welt, der nicht im Wanken begriffen war. Ihre Tränen flossen leise, nur begleitet von ein paar leisen Schluchzern, während sie ihren Kopf an die Kuhle zwischen Schulter und Hals schmiegte.
    Sie ließ seine tröstenden Worte auf sich wirken, verlor sich in seiner schützenden Umarmung und hasste sich dafür. Sie wollte ihn weiter festhalten, und hasste sich noch mehr dafür. Iason hatte stets versucht, ihr die Grundsätze Platons und Zenons beizubringen, dass der Verstand über die Materie erhaben sei, dass Gefühle nicht den Verstand diktieren sollten. Und sie stand da und weinte sich bei ihrem Vetter aus.
    Langsam versiegten die Tränen, aber sie blieb noch ein wenig in der Umarmung, ohne etwas zu sagen. Erst als ihr gewahr wurde, dass es ihrem Cousin vielleicht unangenehm sein konnte, so mit seiner Cousine zu „kuscheln“, löste sie sich langsam von ihm. Sie wischte sich die Tränen von den rosigen Wangen. Venus sei dank war Axilla damit gesegnet, beim Weinen nicht wie so manch anderes Mädchen aufzuquellen, sondern nur mit rosigen Wangen noch hübsch zu sein.
    Jetzt hab dich ganz nass gemacht. Und den schönen Stoff.
    Sie wischte mit ihrer Hand sanft die Feuchtigkeit an seinem Hals weg, wo noch ein paar ihrer salzigen Tränen klebten, und danach wischte sie sich sich noch einmal sicherheitshalber über ihre eigenen Wangen.
    Und dabei wollte ich doch gar nicht weinen.
    Sie schämte sich ein wenig. Aber weniger wegen der Tränen, sondern mehr, seine Umarmung so lange genossen zu haben.

    Ihr Lächeln wurde mit einem Mal sehr traurig, dann gequält, und verschwand schließlich ganz. Also war der Brief nicht angekommen. Ab und zu ging die Post schon mal verloren, vor allem bei so langen Strecken wie zwischen Hispania und Aeguptus. Und die Zeiten waren auch nicht unbedingt die ruhigsten.
    Nein, ich bin nicht ausgebüchst.
    Sie suchte einen Moment lang nach den richtigen Worten, versuchte die Haltung zu wahren. Eine einzelne Träne wurde von ihr beinahe zornig weggewischt, während sie anfing zu reden. Erst langsam, doch dann fast schon sprudelnd wie ein Wasserfall.
    Mutter ist gestorben. Du weißt vielleicht, sie war noch nie mit besonders robuster Gesundheit gesegnet. Nach Vaters Tod kam der Husten wieder, und wurde über die letzten beiden Jahre schlimmer. Zuletzt sehr viel schlimmer.
    Der Arzt hat ihr zwar ein Mittel verschrieben, aber von dem wurde sie ganz wirr. Deshalb hat sie es auch nicht immer genommen. Und jetzt vor zehn Wochen ist sie gestorben.
    Ich hab dir geschrieben, aber der Brief kam wohl nicht an. Ich hab dann den Hausstand aufgelöst. Die neuen Sklaven hab ich verkauft, um den Arzt und die Beerdigung zu bezahlen. Die Behandlung war sehr teuer, und wir hatten noch bei ein paar anderen Nachbarn Schulden. Die älteren Sklaven hab ich frei gelassen. Vater wollte einige schon vor zwei Jahren frei lassen, aber…
    Und Iason, also mein Lehrer, der hat mir dann noch geholfen, hierher zu kommen. Hat die Schiffsreise organisiert und so, als letzten Dienst, du weißt schon.

    Sie fühlte einen dicken Klos in ihrem Hals und verstummte. Sie wollte hier nicht in Silanus’ Officium losheulen wie ein kleines Kind. Sie wollte überhaupt nicht mehr weinen. Sie wollte… eigentlich wusste Axilla nicht genau, was sie wollte.

    Einen Herzschlag lang stand Axilla völlig perplex da. Sie hatte sich auf alles Mögliche eingestellt, aber nicht auf eine so herzliche Begrüßung. Aber dann zauberte sich ein Lächeln auf ihr Gesicht, das sogar ihre Augen hell strahlen ließ. Mit tippelnden Schritten kam sie seiner Aufforderung gerne nach und genoss das Gefühl, mal wieder herzlich umarmt zu werden. Am liebsten hätte sie ihn gar nicht los gelassen, aber das ging nicht.
    Sie strahlte noch immer, als sie sich von ihm löste. „Nach so einer herzlichen Begrüßung würde ich dir alles verzeihen, Silanus. Und ein Tribunus Augusticlavus kann ja nicht einfach alles stehen und liegen lassen, weil seine Cousine etwas schneller als üblich gereist ist.