Wie ein langer Wurm zog sich die marschierende Armee über den Weg. Malachi hatte sie am Morgen entdeckt, da die Straße hier in Richtung Süden leicht abfiel und somit einen weiten Blick auf die vor ihnen liegende Umgebung zuließ. Natürlich war es auf die Entfernung nicht mit absoluter Sicherheit zu sagen, dass Axilla mit ihrer Vermutung richtig lag, dass dies wirklich Palma war. Auf der anderen Seite: Welche Wahl hatte sie, außer es fest zu glauben und darauf zu hoffen, dass sie recht hatte? Sie wusste noch nicht einmal, wie der Mann aussah, so dass es auch nichts genutzt hätte, näher heran zu gehen. Und sollten diese Truppen zu Salinator gehören und sie nach Cornelius Palma bei ihnen fragen, war es gleichgültig, ob sie es dort oder hier oder sonstwo täte. Sie käme sicher auf ihrem Weg nicht weiter. Also musste es einfach Palma sein. Und Axilla musste Vorbereitungen treffen.
Sie ritten ein Stück den Weg entlang zurück, zu einem kleinen Wasserlauf, in dessen Nähe sie die Nacht verbracht hatten. Es war nicht viel mehr als eine kleine Tränke für wilde Tiere, kaum als Bach zu benennen, aber es musste genügen. Trotz der Kälte, die noch immer am frühen Morgen herrschte, zog Axilla sich aus und wusch sich, so gut sie konnte, schrubbte jedes bisschen blaugefrorener Haut, rieb mit dem Bimsstein jedes kleine Schüppchen ab, bis sie sicher war, dass jedes weitere bisschen eine blutige Wunde reißen würde, wusch ihre langen Haare so gründlich es ging in dem eisigen Wasser, bis sie völlig durchgefroren war. Aber es war gleichgültig.
Von Malachi ließ sie sich ihre Untertunika aus ihrem Bündel geben. Die feine weiße, die sie sich für diesen Moment aufgespart hatte. Die einzige, die noch rein und sauber und unbenutzt nach dieser Reise war. Viel zu dünn für diese Jahreszeit, zu dünn für diese Gegend. Aber das war nicht wichtig.
Ihre Haare waren vom Wind und vom Wasser zerknotet, es fühlte sich fast angefroren an. Mit einem einfachen Kamm aus Bein kämmte Axilla sich die langen Strähnen, ignorierte das Ziehen und Zupfen. Sie hatte nicht so viel Zeit. Und es war nicht wichtig, ob es schmerzte.
Schließlich trat sie barfuß an die Straße. Noch immer war die Straße leicht nass, immer wieder hatte es in den letzten Tagen geregnet. Der kalte Schlamm quoll zwischen ihren Zehen hindurch. Aber auch das war nicht wichtig.
Malachi wartete bei den beiden Pferden mit dem ganzen Gepäck. Axilla sah ihn eine Weile lang an. Vor diesem Schritt fürchtete sie sich. Überhaupt fürchtete sie sich vor allem, was gleich noch folgen würde. Und die schrecklichste Vorstellung davon war, es ganz allein tun zu müssen. Ungeschützt, ohne Hilfe, ohne Unterstützung von irgendjemandem. Aber es wäre unfair von ihr, Malachi noch weiter mit hinein zu ziehen, als sie es schon getan hatte. Und auch, wenn ihr Sklave das nicht wusste, Axilla war ihm so unendlich dankbar für alles, was er schon für sie getan hatte. Und für alles, was sie noch von ihm verlangen würde, unabhängig davon, was hier und heute weiter mit ihr geschehen würde.
“Malachi, gib mir die Rolle.“ Sie hielt ihm den ausgestreckten Arm entgegen, damit er ihr den Ledertornister reichen konnte. Ihren papiernen Schutzschild, hinter dem sie ihre Familie zu verschanzen gedachte. Ein dünnes Stückchen Pergament. Alles, was sie hatte.
Malachi reichte es ihr wie immer schweigend. Überhaupt hatten sie auf der ganzen Reise – in der ganzen zeit überhaupt, die Axilla ihn besaß! - kaum miteinander geredet. Im Grunde wusste Axilla nicht mehr von ihm, als seinen Namen. Seltsam, dass ich dennoch so viel auf seine Ehre setze.
Ihre Finger fuhren steif und kalt über das gehärtete Leder, trommelten kurz unsicher darauf, als sie den Tornister eng an den bibbernden Körper drückte.
“Und jetzt möchte ich, dass du meinen Beutel dort hinter den Stein legst, und dann die Pferde nimmst und mit ihnen wieder zurück nach Ostia reitest. Zu meinem Sohn und ihm dienst“ Axilla meinte fast, an den Worten vor Angst ersticken zu müssen. Sie hoffte, dass ihre Stimme fest klang und nicht so zittrig, wie sie sich fühlte.
“Dominus?“ fragte Malachi zum ersten Mal, seit sie ihn kannte, auf einen ihrer Befehle nach – und dennoch korrekt nach ihrer Weisung, sie nicht mehr Domina zu nennen. “Soll ich dir dein Pferd nicht hier lassen?“
Er hatte nachgefragt. Axilla hatte es nicht erwartet. Die Erkenntnis zauberte kurz ein Lächeln auf ihr Gesicht. Er hatte sich Sorgen um sie gemacht. “Nein, nimm es mit.“ Ich brauche es nicht mehr. Es war ein seltsames Gefühl der Ruhe, anzunehmen, dass man sterben würde. Axilla wollte hoffen, dass alles gut werden würde, wollte hoffen, dass sie ihre Familie retten konnte und alles sich zum guten wenden würde. Aber wenn sie ehrlich war, dann glaubte sie nicht daran, den heutigen Tag zu überleben. Aber zumindest zu kämpfen musste sie versuchen. Ein Soldat weicht nicht zurück.
Malachi nickte, sah sie noch einen Moment an – und stieg dann auf, führte ihren Befehl aus.
Und dann war sie allein. Der kalte Wind zerrte an ihrer Gestalt, zerzauste ihr offenes Haar, riss an der dünnen Tunika. Und das Heer rollte unablässig näher heran. Axilla konnte es auf der nächsten Hügelkuppe schon sehen. In nicht einmal einer Stunde wäre es hier.
Ihr Herz schlug schnell und hart vor Aufregung in ihrer Brust. Obwohl sie seit zwei Tagen eigentlich nichts nennenswertes gegessen hatte, war ihr übel. Ihre Gedanken rasten. Sie wollte noch etwas tun, wollte sich noch besser vorbereiten, aber sie wusste nicht, was sie noch tun konnte.
Vor ihr auf der matschigen erde lag ein scharfkantiger Stein. Ihr Blick fiel darauf und heftete sich daran fest. Die Gedanken rasten weiter, ebenso ihr Herz. Dem drang, etwas zu tun, folgend, hob sie den Stein auf und wendete ihren Blick zum Himmel.
“Ihr Götter, hört mich an. Ich habe nicht viel zu geben. Im Grunde hab ich nichts, was ich euch geben kann. Alles, was ich habe, werde ich jetzt aufs Spiel setzen, und wenn es vergebens ist...“ Axilla sprach den Gedanken nicht aus. Was wird die Nachwelt wohl von diesem Treffen sagen? “Darum weihe ich euch kein Tier. Keinen Reichtum. Nur das hier.“ Sie schnitt sich mit dem Stein in den rechten Handballen. Es war nicht sehr tief, aber sie hatte Angst gehabt, sich zu tief zu verletzen, und es tat auch so weh. Dennoch blutete es kaum, und sie musste mit den fingern leicht drücken, dass überhaupt Blut kam. “Lares“, begann sie, nach Süden gewandt, streckte den Arm aus und ließ einen Tropfen Blut zur Erde tropfen. “Schützt diesen Ort nach Süden... Osten... Norden... Westen...“ Jeweils rechts herum gedreht ließ sie einen Tropfen Blut mit ein bisschen Nachdruck auf ihren Handballen zu Boden tropfen. Beim letzten wollte schon kaum mehr einer kommen, der Schnitt hatte sich schon wieder geschlossen, brannte nur noch ein wenig. Axilla hatte das Gefühl, das Blut wäre auf der Haut direkt festgefroren. Ob es wohl heißen würde, eine Zauberin hätte auf Palma gewartet?
“Ianus, schließe die Schlösser der Himmel auf, damit alle sehen, was hier geschieht.“ Vielleicht auch eine Nymphe? Ein mythisches Wesen? “Mars, gib mir die Stärke, dass ich nicht kläglich oder jämmerlich wirke. Lass mich keine Schande über meine Ahnen bringen, indem ich furchtsam bin. Lass mich nicht zurückweichen. Ein Soldat weicht nicht zurück... Vielleicht auch nur eine Verrückte, ein irres, häßliches, altes Weib. Sie fühlte durch ihre Fußsohlen, wie die Erde leicht zitterte, als sich der Heerwurm langsam näher wälzte. Sie schloss die Augen und zwang sich, ruhig stehen zu bleiben, weiter zu flüstern. “Tellus, die du den Schmerz einer Mutter kennst, die von ihrem Kind getrennt ist, weihe diese Erde. Lass sie nicht an mir vorbeigehen. Hilf mir, meine Kinder zu schützen...“ Vielleicht auch gar nichts. Vielleicht war das hier zu unwichtig, um irgendwo aufzutauchen. Der Wind wehte den Geruch von Pferden, Rost, Leder und Schweiß heran. “Dis pater, halte deinen Blick auf mich, damit ich stark bleibe und keine Schande über meine Ahnen bringe. Lass mich aufrecht sterben, wenn es soweit kommt...“ Staub im Wind, nicht einmal ein Geist der Toten, wenngleich so bleich. Vergessen im Sand der Jahrhunderte... Axilla konnte jetzt die Stimmen schon hören, das erzittern der Straße unter den genagelten Sohlen und den Hufen fühlen. Ihre Finger klammerten sich enger um den Ledertornister. Der Druck auf ihren rechten Handballen ließ den leichten Schmerz in ihrer Hand wieder aufflammen, zeigte ihr, dass sie noch am Leben war, nicht träumte. “Isis, die du Schmerzen kennst, den Schmerz einer sorgenden Mutter, Isis, große Mutter, Isis, große Hüterin, wache über meine Kinder...“
Ein Schatten fiel auf sie, und Axilla öffnete ihre grünen Augen, blickte fest auf den Mann, der den Schatten warf. “Ich warte auf Appius Cornelius Palma.“ Sie sagte es fest, laut, und ohne zittern, und rührte sich dabei kein Stück, wie eine Marmorstatue, die jemand hier auf die Straße gestellt hatte und die sich dazu entschieden hatte, plötzlich etwas zu sagen.