“Oh, es fängt an!“ flötete es nur noch von der Kline neben Axilla, ehe der ganze Raum scheinbar in Ehrfurcht erstarrte und verstummte. So plötzlich, wie die Trommeln und Flöten verstummt waren, hatte die Stille etwas beinah greifbares, und die Nervosität bei Axilla wuchs zu echter Anspannung, als nun ein großer, bärtiger Mann hereinkam. Er hatte einen langen Stab, der mit Bändern und Weinblättern umrankt war, und an dessen Spitze sich ein auffällig großer Pinienzapfen befand, mit dem er bei jedem Schritt so aufdonnerte, dass es ein lautes, hallendes 'Klack' auf dem Marmorboden machte. Er hatte eine schneeweiße Toga an, und auf seinem Kopf einen Kranz aus Weinlaub. Ihre Nachbarin raunte ihr zu, dass dies der Gastgeber war, Aulus Laronius Pola, doch hätte Axilla auch gleich geglaubt, dass er nicht nur den Dionysos darstellte, sondern dieser höchstselbst war. Um ihn herum schlichen halb geduckt ein paar junge Knaben, die nur ein Ziegenfell um die Hüften trugen, und Mädchen, die bis auf ein paar Efeublätter hier und da gar nichts trugen.
“Fremde, die ihr hergekommen seid, Namenlose Geister und Schatten, die ihr umhergeirrt seid, weil ihr das Licht und das Lachen gesucht habt! Seid willkommen! Heute sollen wir gleiche unter gleichen sein, heute soll Freiheit unter uns herrschen. Gleich wollen wir sein den Satyrn und Nymphen, gleich dem unsterblichen Gott, dem Freien Vater, dem Unbefangenen Kind, dem Jüngsten der Götter, Taurocranus, Gehörnter , Zweimalgeborener! IHM zu Ehren wollen wir feiern mit seinem Wein, IHM, aus dessen Asche das Menschengeschlecht geboren, IHM, der uns Freude und Gesang, Spiel und Leichtigkeit schenkt! Heute wollen wir alle Freunde sein, Gleiche unter Gleichen, freie Menschen!“
Eine Ziege wurde von den Mädchen hereingeführt, reich geschmückt mit bunten Bändern, die Hufe und die Hörner vergoldet. Die Jungen hingegen trugen einen ebenso reich geschmückten und besonders großen Phallos herein, schritten mit dem übergroßen Gemächt, welches das Zeichen von Bacchus war, einmal rechtsherum durchs Tablinum, vorbei an allen Gästen, so dass jeder das Kultbild sehen konnte, und stellten es schließlich auf einen Sockel vor Gastgeber und Ziege.
“Großer Gott der Freude und der Feste, Herr des Weines. Segne uns mit deinen Gaben, mach unsere Herzen leicht und beschwingt. Vor dir kann kein Mensch bestehen, keiner kann sich dir wiedersetzen. Schenke uns den Rausch! Schenke und Verlangen! Schenke uns Vergnügen!“
Trommeln setzten ein, nur leise, ein ständiges Vibrato im Hintergrund. Latonius tauschte Thyrsus gegen Opfermesser und Weinbecher, goss den Wein der Ziege über den Kopf, den Hals, den Rücken, weihte sie dem Gott des Weines. Die Mädchen hielten das Tier fester, als er sich schließlich zu der Ziege herunterbeugte und ihr mit einem tiefen Schnitt die Kehle aufschnitt, so dass das Blut kräftig aufspritzte, nur unzureichend von einer Opferschale aufgefangen. Ein kurzes Zittern ging noch durch den Ziegenkörper, dann brach das Tier endgültig zusammen. Ein weiterer Schnitt folgte, und die blutige Leber spiegelte im Licht der Fackeln, die den Raum erhellten. Ihr Gastgeber hielt sie hoch über seinen Kopf, so dass das Blut an seinen Händen herunterlief und auf sein weißes Gewand tropfte und auch auf den Boden. “LITATIO!“ brüllte er geradezu bis in die hintersten Winkel des Raumes, und erster Jubel kam wie ein Echo zurück zu ihm.
Axilla merkte, dass sie den Atem angehalten hatte, und lächelte jetzt aus keinem besonderen Grund, vornehmlich aus Erleichterung über den guten Ausgang des Opfers (wenngleich wohl nichts anderes zu erwarten gewesen war). Sie wollte gerade dazu ansetzen, einen Schluck Wein zu trinken, als ihre Nachbarin sie mit einem leisen “Noch nicht“ abhielt. Und als Axilla wieder aufsah, merkte sie, dass der Ritus mit dem erfolgreichen Opfer wohl noch nicht vorbei war.
Der Opferherr war verschwunden, ebenso die Ziege. Nur ihr Blut war noch stellenweise am Boden, doch war es kaum zu sehen. Auf dem Platz, rund um den noch immer aufgestellten Phallos, herrschte rege Bewegung. Die Satyrn und die Nymphen hatten angefangen, zu tanzen, mit teils fließenden, teils abgehackten Bewegungen. Die Flöten setzten wieder ein, eindringlicher, schriller, und die Trommeln wurden lauter. Dazu kamen nun auch Zimbeln, die mit ihrem metallischen Scheppern der Situation eine Anspannung gab, ähnlich dem ersten Aufeinandertreffen wütender Schwerter.
Ein besonders schöner junger Mann in Ziegenfell schnappte sich eine der Nymphen, zog sie näher zu sich heran. Und beide tanzten, wiegten ihre Oberkörper vor und zurück, enger, vertrauter. Seine Hand streichelte über ihren Körper, ihre über den seinen, immer noch enger, bis man zwischen beide Körper keine Feder mehr bekommen hätte. Beide sanken langsam nieder, noch immer in der steten Bewegung ihrer Oberkörper vor und zurückwiegend mit dem Rhythmus der Trommeln, auf die Knie, und immer vor und zurück, wie im Wind wiegendes Gras. Er zog sie immer dichter an sich, immer in derselben Bewegung, bis schließlich das Auge nicht mehr unterscheiden konnte, wo der Tanz aufhörte und etwas anderes anfing. Aber dass es nicht mehr länger nur ein Tanz war, je lauter das Trommeln, je heftiger die Cimbeln wurden, umso weniger ließ das Tun einen anderen Schluss zu. Noch dazu, als die Nymphe in lustvollem Stöhnen aufseufzte, den Kopf in den Nacken warf, noch immer gefangen in der immer impulsiver werdenden Bewegung. Axilla merkte, dass ihr warm wurde. Sie wollte wegschauen, aber andererseits war sie wie gefangen von dem Anblick und konnte nicht. Sie fühlte, wie ihr Mund trocken wurde, ihr Atem langsamer und tiefer wurde. Und schließlich und für alle deutlich erreichte der Satyr zu einem crescendo der Instrumente die höchste Ekstase und sank ermattet einfach nieder.
Um sie herum hörte Axilla den Ruf “PER BACCHO!“, und als sie die anderen trinken sah, murmelte sie ebenfalls die kleine Weihung an den Gott und trank einen Schluck Wein. Und in diesem Moment störte es sie nicht im Geringsten, dass dieser unverdünnt und mit exotischen Gewürzen und Honig versetzt war. Sie nahm einen tiefen Zug, und es schmeckte süßer als Ambrosia. Irgendwie fühlte sie sich beklommen und ertappt, sah verwirrt und doch erregt zu ihrer Nachbarin herüber. Sie hatte keine Ahnung, was jetzt kommen würde, wie es weitergehen würde. “Und jetzt?“ fragte sie daher vorsichtig.
“Jetzt... machst du was immer dir gefällt.“ Eine Sklavin kam mit Opiumpfeifen herbei. Axillas Nachbarin nahm lächelnd eine entgegen, Axilla lehnte mit einem Winken ab. Ihre eine Erfahrung mit Opium damals in Alexandria reichte ihr, das wollte sie hier keinesfalls wiederholen.
Sie sah sich um. Eigentlich hatte sie erwartet, dass nun alle übereinander herfallen würden wie die Karnickel, aber nichts dergleichen. Musik spielte wieder, sanfte, ruhige Klänge. Viele Leute tranken oder rauchten. Einige spielten ein Brettspiel wie mulina oder Alquerque. Nur ein Teil der Gäste war dazu übergegangen, sich zu Küssen, zu streicheln, oder auch... direkteren Tätigkeiten nachzugehen. “Entspann dich einfach“ kam es lachend von ihrer Seite, wo ihre Nachbarin aufgestanden war. “Ich geh jetzt erst einmal zu Petreius hinüber und will mal schauen, was er so zu meinem Vorschlag sagt. Wenn du magst, komm zu uns herüber.“ Sie hauchte Axilla noch einmal verführerisch den süßen Rauch des Opiums entgegen und schlenderte dann an ein paar der Nymphen und Satyrn, die es den ersten nachtaten, ruhig und gelassen vorbei.
Und Axilla lehnte sich mit einem sehr tiefen Durchatmen erst einmal in die Kissen ihrer Kline zurück.