Der Flavier neben ihr schloss die Augen, während Axilla rezitierte, und einen Moment mochte sie schon meinen, er sei eingeschlafen. Er sah so friedlich aus, wie er da saß, sich von der Sonne bescheinen ließ, und als sie ihn nach den Rhapsoden fragte, richtete er einen Blick auf sie, als ob sie gerade von Dingen jenseits dieser Welt redete. Er wiederholte das Wort mit traumschwerer Zunge und Axilla nickte einfach nur eifrig dazu, mit einem verlegenen Ausdruck auf dem Gesicht. Sie wusste nicht, was gerade in dem Flavier vorging, doch wirkte er, als würde er gerade in einem Traum wandeln und nur mühsam daraus aufwachen. Und Axilla kam sich ein wenig schuldig vor, dass sie ihn überhaupt aus jenem gerissen hatte. Träumen hatte etwas unschuldiges an sich, etwas befreites und freies, und Axilla sehnte sich sehr danach. So sehr, dass sie nicht einmal wusste, wie sie mit dem Flavier neben ihr umgehen sollte, der einen Moment lang diese vollkommene Geborgenheit von Morpheus Umarmung zu fühlen schien.
Und dann wachte er auf. Mit einem Ausruf, der Axilla kurz zusammenzucken ließ, und einem Kompliment. Sie besaß genug Scheu in diesem Moment, um damenhaft zu erröten. Man hatte ihre Worte schon vieles geheißen. Verwaschen, durcheinander, zu schnell, unzusammenhängend, unlogisch, verwirrend, unvollständig und unwichtig. Manchmal auch witzig und spritzig und bissig und flatterhaft. Aber adorabel war ganz sicher noch nie darunter. Selbst wenn irgendjemand in Axillas Umgebung so ein Wort benutzt hätte im täglichen Sprachgebrauch. Und dieses kleine Wort wurde auch gleich durch ein tiefsinnig und ein zeitlos verstärkt, so dass Axilla noch verlegener lächeln musste.
Sie hatte ja angeben wollen, das war ja Sinn und Zweck der Sache gewesen. Aber dass sie gleich so erfolgreich damit sein würde, das hatte sie jetzt wirklich nicht geglaubt. Und sie versuchte auch gleich, das ganze irgendwie vernünftig zu erklären. Sicher war es nur das schöne Frühlingswetter, und die Worte galten bei näherer Betrachtungsweise auch gar nicht ihr, sondern den Worten an sich. Homer, wenn man eine Person für das Kompliment benennen wollte. Nicht Axilla, die hier saß mit geröteten Wangen und einem schüchternen Lächeln, das sich nach dieser Erkenntnis aber nur allzu schnell wieder verflüchtigte. Warum auch sollte der Senator sie loben?
Seine Frage lenkte sie dann auch zum Glück wieder ab. Vor allem, da Axilla sich nicht sicher war, ob sie sie denn richtig verstand. Unterschiede kultureller Natur zwischen hier und Alexandria? Es war ja nicht so, als wäre sie ein Fundus an kulturellem Wissen, der nur darauf wartete, eben jenes preis zu geben. Im Grunde hatte sie von Theatern und Musik nur dann eine Ahnung, wenn es dasselbe auch in Buchform gab und sie die Möglichkeit gehabt hatte, eben jenes zu lesen. In einem Theaterstück war sie, soweit sie sich erinnern konnte, noch nie. Oder bei großen Aufführungen anderer, lyrischer Werke. Oder musischer.
“Naja, wie ich bereits gesagt habe, ich war in Alexandria eigentlich nicht im Theatrum, und auch hier in Rom eigentlich nicht.“ Einen Moment später fiel ihr ihre kleine Notlüge wieder ein, die sie natürlich bekräftigen musste. “Oh, außer das mit Flavia Nigrina, natürlich.“
Sie kaute auf ihrer Unterlippe auf der Suche nach einer adäquaten Antwort. Über das Theater konnte sie vielleicht nicht so viel erzählen, aber dafür über die vielen anderen Unterschiede umso mehr.
“Weißt du... das Leben in Alexandria ist anders. Also, alles, mein ich. Es ist so... ich....“ Sie suchte nach passenden Worten, kramte in ihrer Erinnerung nach einer Beschreibung. Dass sie ins Koine dabei wechselte, fiel ihr selbst gar nicht auf. “Ich wandelte im Traum und träumte doch nicht, trank mich satt an tausend Sonnenuntergängen und atmete die süße Schwere des Augenblicks an der Grenze der Schatten im Reich des zerrissenen Gottes.“ Sie wusste nicht mehr, aus welchem Buch sie das hatte, aber dass es nicht ihr selbst entsprang, war sie sich relativ sicher. Sie hatte im Museion hunderte von Schriften gelesen – oder zumindest damit angefangen und die meisten wieder aus Langeweile darüber wegbringen lassen – und auch von Nikolaos immer wieder das ein oder andere gehört im Vorbeigehen, wenn sie ihm irgendwas gebracht hatte oder geholt hatte, während er sich in seiner Funktion als Epistates mit jemandem unterhalten hatte... Vielleicht war es auch eine Mischung aus allem gehörten, das sie heillos durcheinander brachte, und dennoch beschrieben die Worte ihr Gefühl von Alexandria, das mit Logik nicht zu erklären war.
Sie sammelte sich wieder und sah Gracchus an, noch immer nach passenden Erklärungen suchen, die jemandem helfen mochten, zu verstehen, der nie dort gewesen war. “Weißt du, dort ist das Leben anders. Nicht besser oder schlechter, nur... anders. Ich glaube, das ist wegen Dionysos so.“ Normalerweise nannte man den Gott nicht so direkt beim Namen, nannte ihn eher Bacchus, den Lärmer, oder in Ehrfurcht Liber Pater. Aber Axilla hatte keine Angst vor ihm, nicht im Moment. Vermutlich wäre es klüger, immerhin war sie schnell betrunken und machte dann allerlei dumme Dinge – wie beispielsweise ihre Nebensitzerin auf einer Feier zu küssen – aber im Moment war Axilla ohnehin zu sehr damit beschäftigt, passende Worte zu finden, als dass sie auf solche Dinge wirklich hätte achten können. “Die Ägypter haben ihm den Namen Osiris gegeben, und dort herrscht er in der Unterwelt, weil er nach der Zerstückelung nicht wieder geboren wurde, sondern von Isis nur zusammengenäht. Und auch Alexander hat ihm ja ein Heiligtum in Alexandria errichten lassen.“ Sas Paneion war schließlich nicht nur dem Pan, sondern ebenfalls dem Dionysos gewidmet. “Man sagt ja, seine Mutter sei eine Mänade gewesen... naja, ich weiß es nicht, warum er es gemacht hat. Aber... Ägypten ist wirklich sein Reich. Es ist alles dort so viel... bunter, und freier, und gleichzeitig langsamer. Oder... nein, nicht langsamer, zeitloser. Ja, genau, das ist es! Zeitlos. Die Zeit fließt dort wie der Nil, steigt und fällt, vergeht und steht doch. Dort hat alles seine eigene Zeit irgendwie.“
Axilla war sich sicher, dass ihre jetzige Erzählung wieder mehr in Richtung 'verwirrend' denn in Richtung 'adorabel' ging, aber sie konnte es nicht vernünftiger beschreiben.
“Weißt du, als ich nach Alexandria kam, da hatte ich unheimlich viel Angst. Vor allem. Ich war allein und... ich wusste nicht, wohin, und ich konnte nur ionisch, und sonst eigentlich nichts. Aber als ich nach einem Jahr dann ging, um nach Rom zu kommen, da war ich Scriba eines der einflussreichsten Männer Alexandrias, ich kannte sämtliche Honorationen der Stadt, ich habe mehr Bücher gelesen, als ich dachte, dass es gibt, habe Sachen gelernt... Ich hab in einem Jahr sämtliche der großen griechischen Dialekte gelernt, Koine, Attisch, Dorisch... Gut, mein Dorisch ist miserabel, aber... und ich konnte sogar ein wenig demotisch, ein paar Brocken... keine Ahnung, was die in Syria sprechen, aber von da kam der Händler, von dem ich es aufgeschnappt habe. Und das war nicht merkwürdig, oder herausragend. Also, ich sage nicht, dass jeder das so kann, aber... es war einfach... einfach.“ Axilla hatte keine Ahnung, ob der Flavier ihr auch nur halbwegs folgen konnte. Sie war sich noch nicht einmal sicher, ob sie sich selber folgen konnte. “Die Zeit dort ist einfach anders. Es war nur ein Jahr, eigentlich, und doch war es ein ganzes Leben. Ich weiß nicht, ob das verständlich ist, aber...“
Naja, vielleicht kam sie besser auf hier zu sprechen, auf Rom. Das war mit harten Worten besser zu beschreiben. “Hier ist alles viel... klarer, und gerader. Hier träum ich nicht. Also, nicht so. Es ist viel geordneter, direkter. Aber auch gezwungener. Ich hab mir in Alexandria nie etwas dabei gedacht, wenn ich irgendwo hingegangen bin. Also jetzt nicht die gefährlichen Gegenden, das mein ich nicht. Aber... hier zählt es weit mehr, was man sagt und was man tut. Hier ist es einfach viel... geregelter.“
Axilla hatte nun keine Ahnung, ob sie seine Frage beantwortet hatte. Um ehrlich zu sein wusste sie nicht einmal mehr so genau, was er gefragt hatte. Trotzdem schaute sie ihn mit offenem und vielleicht ein wenig melancholischem Blick an und suchte in seinen Augen, ob er verstanden hatte, was sie versucht hatte, zu beschreiben. Wenn sie doch einfach all das, was in ihrem Herzen zu Ägypten war, einfach nehmen könnte und ihm geben, dann wäre das um so vieles einfacher!