'Oh' war beinahe genauso treffend wie 'deplorabel', wenngleich noch weitaus vielschichtiger. Es bedeutete, dass der Flavier wusste, von wem sie sprach, und mehr noch, wusste, warum genau dieser Umstand so deplorabel war. Wer wünschte sich schon einen Ehemann, der vom Verräterfelsen gesprungen war? Und mehr noch, wer wollte näher mit der Witwe eben jenes Mannes zu tun haben? Axilla hatte sich schon an die teils scheelen Blicke gewöhnt, die ihr dann und wann zugeworfen worden waren, an das Flüstern hinter vorgehaltenen Händen, an die übertriebene Freundlichkeit im Gespräch mit ihr, die sich in hurtiges Nuscheln verwandelte, sobald man sie außer Hörweite wähnte. Mittlerweile war es lange genug her, so dass es dringlichere Tagesthemen gab. Der Skandal von Nemi hatte auch sein Übriges dazu beigetragen, Archias Tat in den Hintergrund treten zu lassen. Wo man über Patrizier munkelte, die sich an der Göttin vergangen hatten, über Mord auf heiligem Boden, was war da ein einzelner Aelier, bei dem nicht gewiss war, was nun zu seinem Tod geführt hatte? Nur dann und wann gab es in letzter Zeit noch einen Blick oder eine Bemerkung. Die letzte wohl von Flavius Piso, dem sie deshalb ihren Standpunkt handfest klar gemacht hatte. Ein weiteres 'oh', sozusagen. Vor allem, wenn man bedachte, dass nun ein anderer flavischer Senator und Pontifex neben Axilla saß und keine Anstalten machte, aufzuspringen, sich zu entschuldigen, sie zu mustern oder zu verurteilen oder dergleichen.
Im Gegenteil: Nachdem er und sie sich einen peinlichen Moment angeschwiegen hatten, brach er erneut eine Lanze für Axilla und ging gänzlich in dem Thema des Theaters auf. Eine durch und durch angenehme Überraschung, wie Axilla zuerst mit vorsichtigem, dann immer freudigerem Lächeln feststellte. Sie hatte zwar von der Hälfte von dem, was er sprach, keine Ahnung, aber er schien das Thema wirklich zu genießen. Und somit – was umso erstaunlicher für die Iunia war – das Gespräch mit ihr.
“Ich wusste nicht, dass es mehrere solcher Stücke gibt. In Ägypten habe ich kein solches gesehen. Was aber nichts heißen muss, ich war in Alexandria nicht oft in einem Theatron oder Odeion. So richtig eigentlich nur beim Neujahrsfest und dem musischen Agon, aber da gab es ja kein richtiges Stück, das war mehr ein Wettstreit.“
Axilla merkte, wie ein wenig Druck von ihr abfiel. Der Flavier saß noch immer neben ihr und unterhielt sich mit ihr, obwohl er das von Archias sicher wusste. Und das von Piso wusste er offensichtlich nicht. Das Thema war, wenn auch auf einer Notlüge aufgebaut, dennoch leicht und angenehm. Die Sonne schien und kündete vom nahen Frühjahr. Es war einfach ein einzelner, leichter Moment, und Axilla hatte schon lange keinen mehr gehabt.
Zumindest kurz, bis Gracchus die Arena erwähnte und Axilla sich doch ein wenig ertappt fühlte. “Nunja, die hat auch ihre Glanzstunden. Ich meine, es geht ja nicht um das Blut und die Gewalt, sondern um den heldenhaften Kampf und den Mut und das Geschick, also all das, wovon die Dichter so gerne auch reden. Also, es sollte zumindest darum gehen.“ Ein bisschen was zur Ehrenrettung der Arenen und deren Besucher musste sie sagen, denn irgendwie gehörte Axilla ja selber dazu. Und sie fand sich ganz und gar nicht blutrünstig. Das Training im Ludus anzusehen gefiel ihr sogar besser als die richtigen Kämpfe in der Arena, da es dabei wirklich nur um die Technik des Kämpfens ging und nicht ums Blutvergießen. Naja, und große, gut durchtrainierte Männer in Rüstungen mit viel gezeigter Haut...
“Ähm, Thyestes den Tantaliden?“ Schnell ablenken war vielleicht besser, als das Thema zu vertiefen. Und Axilla kannte weder das eine noch das andere Stück. Aber wenn es um den Thyestes ging, den sie aus den Geschichten kannte, dann war es wohl definitiv keine leichte Kost. Eine Familie, dazu verflucht, miteinander Inzest zu betreiben, der Vater jeweils vom Sohn erschlagen oder umgekehrt, oder von Liebschaften der untreuen Frau oder dergleichen. Definitiv nichts für eine Komödie.
“Das Stück kenn ich gar nicht, aber es klingt... gewichtig.“ Es war schwer, nette Worte für 'Das erschlägt einen sicher' zu finden. Aber heute versuchte sich Axilla in allen Formen der Diplomatie. “Ich fand ja in der Odyssee sehr beeindruckend, wie Homer die Qualen seines Ahnen geschildert hat.
Auch den Tantalos sah ich, mit schweren Qualen belastet.
Mitten im Teiche stand er, den Kinn von der Welle bespület,
Lechzte hinab vor Durst, und konnte zum Trinken nicht kommen.
Denn so oft sich der Greis hinbückte, die Zunge zu kühlen;
Schwand das versiegende Wasser hinweg, und rings um die Füße
Zeigte sich schwarzer Sand, getrocknet vom feindlichen Dämon.
Fruchtbare Bäume neigten um seine Scheitel die Zweige,
Voll balsamischer Birnen, Granaten und grüner Oliven,
Oder voll süßer Feigen und rötlichgesprenkelter Äpfel.
Aber sobald sich der Greis aufreckte, der Früchte zu pflücken;
Wirbelte plötzlich der Sturm sie empor zu den schattigen Wolken. “
In feinstem Ionisch trug Axilla die Zeilen vor, wenn auch etwas leise und fast verlegen. Sie wollte ja angeben, aus keinem anderen Grund hatte sie diesen Bogen geschlagen und die Zeilen aus ihrem Gedächtnis gekramt. Und sie wusste, dass ihr Ionisch gut war, war es doch der erste griechische Dialekt, den sie gelernt hatte. Auch wenn den kaum einer Sprach, außer eben der griechische Sklave, der sie unterrichtet hatte. Und eben Homer.
Aber sie war sich nicht sicher, ob es nicht doch zu dick aufgetragen war. Sie wollte ja nicht nach Komplimenten fischen. Naja, vielleicht ein wenig, aber nicht sehr. Und sie hoffte, dass der Flavier ihren Gedankensprüngen noch folgen konnte. Leicht machte sie es ihm sicher nicht.
“Dann magst du also lieber Rhapsoden?“ meinte sie schnell, nachdem sie ihre eigene kleine Rhapsodie beendet hatte, ehe dadurch noch ein peinlicher Moment entstehen mochte.