Beiträge von Penelope Bantotakis

    “Und wann bitte habe ich behauptet, dass sie bei Griechen nicht funktioniert? Natürlich funktioniert ägyptische Medizin bei denen, und auch bei Römern und Nubiern und Thrakern und Dardanern und Parthern! Einiges funktioniert sogar bei Kühen und Schweinen!“
    Jetzt hatte Ánthimos es geschafft, Inhapy wirklich wütend zu machen, denn sie stand mitten auf der Straße in Rhakotis und fing an, lauthals auf ägyptisch zu zetern. Nicht, dass sie die erste Frau wäre, die das hier auf den Strassen tat, das passierte in der Tat so häufig, dass noch nicht einmal vorbeigehende Passanten auch nur mit der Wimper dabei zuckten. Aber für Inhapy war es doch etwas ungewöhnlich. Auch wenn sie ruppig und direkt war, war sie doch sonst nie wirklich laut.
    “Und ich bin sicher nicht hier, um mit dir darüber zu diskutieren, wie man wen wann behandeln sollte! Ich habe schon so viele Kinder auf die Welt gebracht, die nicht nur ägyptisch waren, dass ich schon gar nicht mehr zählen kann! Also unterstell mir ja nie wieder, ich würde da Unterschiede bei meinen Patientinnen machen, oder die einen besser oder schlechter behandeln als die anderen. Wenn du das wirklich glaubst…“
    Sie führte den Satz nicht zu Ende. Sie wollte Penelope bei der Entbindung helfen, und sie würde sich da von einem Mann nicht reinreden lassen. Die Kleine war ihr so ans Herz gewachsen, die würde sie nicht unerfahrenen Ärzten überlassen. Und wenn sie die Griechin entführen musste vor der Geburt.
    Freunde und Feinde gleich behandeln… Inhapy war mit diesem Satz klar, dass dieser Mann nie in einer Schlacht war. Denn dort behandelten auch Ärzte die Feinde nicht so wie ihre Freunde, sondern ließen sie blutend auf dem Feld liegen, bis die eigenen Truppen alle verarztet waren. Etwas anderes anzunehmen war vielleicht sehr nobel und edel, aber nicht Realität. Aber darüber würde Inhapy sicher nicht auch noch diskutieren. Sie hatte die Welt ja auch schließlich nicht gemacht, sie lebte nur darin.
    Wütend schüttelte sie den Kopf und wandte sich seitlich zu Ànthimos, so dass sie ihm nicht mehr direkt gegenüber stand. Das sah auch sicher lustig aus für Außenstehende, war sie doch bestimmt eine Königselle kleiner als er.
    “Wenn ich gedacht hätte, dass du nur ein Grieche wie alle anderen wärst, meinst du, ich hätte dann zugestimmt, dir etwas beizubringen?“
    Im Moment war Inhapy wütend auf sich selber, dass sie das getan hatte. Sie hätte es besser wissen müssen, auch wenn er Penelopes große Liebe war. Griechen behandelten die Ägypter doch fast immer von oben herab.

    Und da hatte er den Fehler begangen und ihr widersprochen. Inhapy blieb mitten im Gehen stehen und sah Ánthimos aus blitzenden Augen an. Es war ihr wahrlich nicht leicht gefallen, die Entscheidung zu treffen, ob und vor allem was sie ihm beibringen wollte. Sie kam sich dabei teilweise schon fast wie eine Verräterin an ihrem Volk vor. Und nun kam er an und spielte sich auf, nur weil Ägypter lieber ägyptische Medizin haben wollten, und Griechen lieber griechische?
    “Ich habe die Welt, wie sie ist, nicht gemacht. Wenn du ein Problem damit hast, dass die Griechen lieber ins Museion gehen als zu ägyptischen Heilern, dann klär das mit den Griechen. Wenn du ein Problem damit hast, dass Ägypter lieber ihre Heiler nehmen, als griechische Heiler, dann solltest du dir überlegen, was du denn von mir lernen willst. Ich dachte, du wolltest lernen, was die Herren im Museion eben nicht wissen, weil es nicht alles dort haarklein aufgelistet ist. Weil es nicht das neue Wissen ist, über das sie diskutieren können, sondern etwas, das seit ewigen Zeiten so gemacht wird.“
    Inhapy hielt nicht viel davon, irgendwelche Theorien auszudiskutieren, was sein könnte. Sie lernte viel lieber, wie man wirklich etwas tun konnte, um zu helfen, und dazu brauchte sie keine neuen Alternativen, wie etwas auch gemacht werden könnte. Solange ein Weg funktionierte, reichte es ihr, diesen zu kennen. Und dass die Griechen die Ägypter von oben herab behandelten, war sicher weder ihr Verdienst noch ihre Schuld. Und ändern konnte sie daran sicher auch nichts.
    “Ich bin Ägypterin, und für meinen Teil will ich ägyptische Medizin. Und ich dachte, diese interessiert dich auch, weil du nicht wie die anderen Griechen nur griechische Medizin haben willst. Wenn ich mich geirrt habe, solltest du jetzt gehen, denn dann kann ich dir nichts beibringen. Dann musst du ins Museion gehen.“

    “Was weißt du eigentlich über das Land, in dem du hier lebst? Ägypten ist alt, Ánthimos, fünf Tausend Jahre alt. Meinst du, die Ägypter saßen die ganze Zeit nur in der Wüste und haben Sandkörner gezählt? Wir hatten lange Zeit schon Medizin, ehe Alexander kam und zum Pharao wurde. Und auch lange, bevor die Römer kamen und Pharao wurden. Das meine ich mit alter Medizin. Nicht diese neumodischen Theorien, wie ein Körper funktioniert, und das, was die im Museion da so machen.
    Für Griechen ist das sicher gute und richtige Medizin, aber Ägypter brauchen da ägyptische Medizin.“

    Inhapy hatte sich ein wenig in Rage geredet und merkte das erst jetzt, also atmete sie einmal tief durch. Es war nicht die Schuld von Anthi, das wusste sie, also wollte sie es auch nicht bei ihm abladen. Zumindest nicht, solange er ihr nicht noch anfing, zu widersprechen.
    “Das Haus der Schlangen ist kein Tempel, aber es gehört dazu. Der Heiler dort ist Priester der Isis. Du hast doch keine Angst vor Schlangen? Dort gibt es wirklich welche.“

    Und so schnell hatte man noch ein großes Kind dazu. Penelope musste ein Lachen unterdrücken, als sie Anthi mit seinen vollen Hamsterbacken sah, aber ein sehr breites Grinsen ließ sich nicht unterdrücken. Noch dazu, wo das Mädchen gerade bekräftigte, wie schön sie Pelo fand. Sowas war sie gar nicht gewohnt, so dass sie einfach nur lächeln konnte.
    Doch dann kam das Gespräch auf das Bild, und Penelope beschloss, Ánthimos einen kleinen Tipp durch die Blume zu geben. Er sollte sich ja nicht verplappern und verraten, dass sie das Bild schon gesehen hatte. Die Kleine freute sich doch auf die Überraschung!
    “Ahja, da habt ihr zwei wohl ein Geheimnis?“ fing sie mit verschwörerischer Melodie in der Stimme an. Dabei zwinkerte sie dem Mädchen einmal kurz zu.
    “Mir wurde schon gesagt, dass mich gleich eine große Überraschung noch erwartet. Aber mir hat keiner etwas verraten, nicht einmal durch Bestechung.“
    Bevor das Mädchen glaubte, sie verschaukelte sie, lehnte sich Penelope zu Ánthimos herüber und gab ihm einen kleinen Kuss auf die Nasenspitze. “Kann ich dich denn bestechen, damit du es mir verrätst?“
    Das Bild hing in ihrem Zimmer, aber Anthi konnte es ja dann schnell holen – wenn er mal geschluckt hatte, ihr kleiner Hamster.

    Nachdem Ánthimos seine Tasche zu Inhapys Zufriedenheit gepackt hatte, waren sie hinaus auf die Straßen von Rhakotis getreten. Inhapy wusste genau, wo sie hin mussten, aber Ánthimos war der Weg wahrscheinlich unbekannt. Ebenso wie den meisten Griechen, die sich allesamt lieber im Museion behandeln ließen als hier unten im ägyptischen Viertel der Stadt.
    “Das Haus der Schlangen ist das, was wir hier unten haben, für die, die lieber die alte Medizin wollen. Schlangen sind heilige Tiere, von großer Heilkraft. Euer Äskulap hat doch auch eine Schlange dabei, nicht?“
    Inhapys Wissen um fremde Gottheiten war sehr beschränkt, und was nun eine römische und was eine griechische war, war ihr auch relativ egal. Sie war schon stolz, dass sie so etwas überhaupt wusste.
    Sie gingen also tiefer nach Rhakotis hinein, in Richtung Serapeion, aber nicht wirklich dorthin. Ihr Ziel war doch ein wenig abgelegener, um die Besucher des Tempels nicht gleich abzuschrecken, und es gehörte auch nicht so richtig dazu. Inhapy war ja so stolz auf sich, dass sie es geschafft hatte, dass sie mit Ánthimos kommen durfte. Und dabei war er nicht einmal Ägypter.

    “Ich denke, der Gott hat euch gerettet, eben weil ihr ihn immer so verehrt habt, und weil er noch großes mit euch vorhat. Ich denke nicht, dass er euch für undankbar hält, nur weil ihr ihn habt ein wenig warten lassen.“
    Ganz sanft zog sie an seinen Armen. Nicht stark genug, um ihn wirklich mit sich zum Tempeleingang zurückzuziehen, aber doch so bestimmt, dass er die Aufforderung verstand. Sie sollten wirklich hineingehen und dem Gott opfern. Bestimmt würde Poseidon sich über die Gaben freuen.

    “Ich bin Hebamme, Ánthimos, kein Priester im Haus der Lebenden. Ich habe gelernt, dass Schweinezähne am besten seien, und sie wirken gut. Wenn du etwas über diese Heilmittel wissen willst, musst du einen Heiler fragen.“
    Inhapy sah lächelnd zu ihrem Lehrling hinüber, als sie in einem halben Nebensatz anfügte:
    “Und damit du das heute noch kannst, solltest du vielleicht mal deine Tasche vernünftig packen, damit wir los können. Es war schon schwer genug, im Haus der Schlangen für so etwas vorgelassen zu werden, also beeil dich.“

    “Ich bezweifle, dass du wirklich weißt, wofür dieses Messer geschaffen wurde.“
    In einer Geste zwischen Liebe und Ehrfurcht strichen Inhapis schlanke Finger über den feinen Griff des Obsidianmessers. Das war eines der Mysterien, die nur mit der Geburt zu tun hatten und die Männer nicht zu wissen brauchten. Das nur durch das schwarze Glas der Wüste die Verbindung zwischen Kind und Nachgeburt getrennt werden durfte, nur so eine Nabelschnur zu durchschneiden richtig war, ohne das Leben des Kindes aufs Spiel zu setzen, das wusste kein Mann und würde auch keiner erfahren. Nicht von Inhapy, soviel stand fest.
    Bei den anderen Sachen war sie aber ein wenig auskunftsfreudiger.
    “Mäuse wurden aus dem Urschlamm des Nils geboren. Sie besitzen große Lebenskraft, und sie sind frei von allen Problemen der Verdauung. Das ist starke Medizin, Ánthimos, wenn die normalen Mittel versagen. Wenn ein kleines Kind von einer Cholik so geplagt wird, dass es droht, an Erbrechen und Durchfall zu sterben, dann gibt man ihm auch mal eine ganze Maus zu Essen. Die Schwänze sind hauptsächlich für schwere Darmkrankheiten, oder auch bei Würmern.
    Und der Schweinezahn funktioniert in etwa anders herum. Schweine haben sehr viel und sehr weichen Kot, weil sie die Nahrung so gut kauen. Wenn nun jemand Probleme hat, eine schwere Verstopfung, kann man einen Schweinezahn zermalen in die Medizin geben, das hilft, die Störung zu beheben.“

    Eigentlich hätte sie ihm lieber mehr über die Pflanzen beigebracht, denn diese Mittel waren Dinge, die sie selbst eigentlich gar nicht hätte wissen müssen. Aber im Laufe der Jahre hatte sie eben auch von anderen, richtigen Heilern das eine oder andere gelernt. Als Hebamme sah man sich ja doch auch öfter „alltäglichen“ Krankheiten gegenüber, wenn man eine Schwangere so begleitete und vorbereitete. Und so hatte sie sich jemanden gesucht, der mehr wusste als sie, und ihn auf ihre charmante Art gefragt. Und irgendwann wusste sie so etwas einfach, wie das ganze Wissen, was ihr ihre Großmutter beigebracht hatte.
    Dasselbe betraf einige der Instrumente.
    “Die hier haben mit der Geburt zu tun, das brauchst du nicht. Das hier ist eine Sonde. Damit kannst du eine Wunde auseinanderdrücken, falls du tief hineinblicken musst, weil dort noch etwas steckt.“
    Sie hob das bronzene Instrument hoch, an dessen Ende eine platte Scheibe war, die an eine Münze erinnerte. “Aber sowas macht man am besten zu zweit, wenn einer hält und ein anderer dann mit der Pinzette – das ist das lange Ding da – dann das, was feststeckt, rauszieht. Das geht einfacher.“

    Ach, manchmal war ihr Mann doch wie ein großes Kind. Liebevoll strich Penelope ihm mit den Daumen über die Handrücken und trat noch einen Schritt näher. Sie wusste gar nicht, wie sie ihm da die Angst nehmen sollte. Sie war sich sicher, dass Poseidon ihm deswegen nicht zürnte, aber wie sollte sie die richtigen Worte wählen?
    “Ach, Anthi. Poseidon ist ein Gott, und es ist doch recht, einen Gott zu fürchten. Vor allem einen so großen wie ihn mit so viel Macht. Ein Kind der Titanen.
    Ich denke nicht, dass er dich für undankbar halten wird. Denkst du Ares zürnt mir, weil ich ihn fürchte und das, was er bringt? Oder Serapeion, der Herr der Unterwelt? Es sind Götter, Anthimos, sie wissen um ihre Kraft. Ich denke nicht, dass sie den Sterblichen Undank unterstellen, wenn diese die wahre Größe ihrer Kraft gesehen haben und ehrfürchtig verharren. Ich glaube, er wird sich über das Opfer freuen und es annehmen, egal, ob du ihn nun fürchtest oder liebst. Er ist ein Gott, Anthi.“

    Penelope hatte sogar damals gelernt, dass einige Götter überhaupt keinen Wert darauf legten, ob man mit dem Herzen bei der Sache war, solange ihnen nur die richtige Menge zum richtigen Zeitpunkt geopfert wurde. Sie selbst opferte natürlich lieber den Gottheiten, die sie persönlich auch liebte. Aber das hieß nicht, dass sie die anderen schmähte.

    “Na, den musst du dir verdienen. Glaub ja nicht, du wärst jetzt schon fertig. Aber am besten lernt man den Beruf eines Heilers, indem man alles so macht wie ein Heiler. Und da gehört der Gurt dazu.“
    Inhapy setzte sich auf ihren Stuhl und machte eine ausladende Geste in Richtung ihres kleinen Kräutergartens am Fenster.
    “Jeder Heiler räumt seinen Beutel so ein, wie er es für richtig hält. So findest du das, was du brauchst, am schnellsten. Ich persönlich tue die Dinge, die ich häufig brauche, nahe zu den Instrumenten, und die, die ich weniger häufig brauche, weiter nach hinten. Du hast aber noch keine Instrumente, die gehören in die leeren Taschen da. Wie du deinen Beutel einräumst, bleibt dir überlassen. Aber bevor wir losgehen, solltest du ihn einräumen. Da drüben stehen die Sachen, auch getrocknetes Obst. Mit müssen für dich auf jeden Fall Holunderbeeren, Fenchel, Koriander, Zwiebel, Knoblauch, Feige, Dattel und Sellerie.
    Wenn du noch freien Platz hast, kannst du auch noch etwas anderes Mitnehmen, wenn es dir wichtig erscheint. Aber sei vorsichtig mit den Pflanzen. Und hast du dir meinen Beutel angesehen? Hast du dazu noch Fragen?“

    Normalerweise ließ Penelope ihn ja bei allen Dingen gewähren, wie er es für richtig hielt, aber bei dieser Sache trat sie Ánthimos in den Weg. Weglaufen war hier keine Lösung, das machte seine Schuldgefühle nur noch schlimmer, und er würde es aufschieben, bis der Gott ihm wirklich noch zürnte.
    “Ànthimos Bantotakis!“ Ihre Stimme hatte diesen Unterton, den Mütter ihren Kindern gegenüber manchmal anschlugen, vor allem, wenn sie dabei den vollen Namen zur Ansprache benutzten. Sie sah ihn kurz tadelnd an, bis er stand, und dann wurden Stimme und Gesichtsausdruck wieder milder.
    “Warum meinst du, hast du ihm Unrecht getan? Weil du ihn hast warten lassen?“
    Penelope griff nach seiner Hand und hielt sie ganz sanft, fühlte das Zittern und die Unsicherheit darin, und sah ihn einen Moment lang nur mitfühlend an.
    “Ich bin sicher, wenn du ihn dafür mit deinem Opfer auch um Verzeihung bittest, wird er es annehmen. Das Meer ist ewig, Ánthimos, und Poseidon ebenso. Wenn du heute ihn ehrst, wird er dir bestimmt nicht zürnen, dass du ihn hast warten lassen. Aber du solltest es nicht aufschieben und ihn ewig warten lassen, bis er dir doch zürnt.“

    “Mooomentchen, nicht so schnell. Man geht nicht einfach los und schaut, was da so kommt. Vorbereitung ist alles. Wenn einmal etwas Dringendes passiert, kannst du ja nicht erst heim laufen und deine Sachen holen. Daher fangen wir ganz vorne an.“
    Inhapy holte einen etwas seltsam geformten, alten, speckigen Lederbeutel hervor. Als sie ihn auf dem Tisch ausbreitete, sah man auch, was daran seltsam war: Es war eigentlich eher eine lange Schlaufe, die in sich gefaltet war, ähnlich den Beuteln der Steinmetze. Nur hier steckten nicht verschiedene Meißel, Hämmer und Pinsel, hier steckten fein säuberlich die Dinge, die Inhapy als Hebamme brauchte. Einige getrocknete Kräuter schauten auf flachgedrückten Beutelchen, die mit Lederschlaufen befestigt waren. Ein paar seltsam geformte, metallene Sonden waren zu sehen, ebenso wie ein scharfes Skalpell aus Eisen und – sehr sorgfältig verpackt und von allen Dingen als einziges mit Schriftzeichen verziert – ein Messer aus Obsidian.
    “Das ist meine Tasche, die ich mitnehme. Darin sind die Dinge, die ich am häufigsten bei Entbindungen brauche, und die wirksamsten Zauber, falls etwas schief geht. Das musst du dir immer merken: Je besser du dich vorbereitet hast, umso weniger kann dich überraschen.“
    Und jetzt umschmeichelte ein Lächeln urplötzlich Inhapys Lippen, als sie sich erneut umwandte und Ánthimos so einige Minuten mit ihrem Beutel allein ließ, damit er ihn genau inspizieren konnte. Es dauerte sicher drei Minuten, bis sie aus dem Nachbarraum zurückkam, mit einem eindeutig neuen Beutel gleicher Machart. Das Leder war noch rau, als wäre es erst frisch gegerbt worden, und matt. Es war nichts besonderes, nur ein einfacher Beutel, und doch strahlte Inhapy, als sie ihn vor Anthi hinlegte.
    “Und den bekommst du, wenn du ein richtiger Heiler bist. Aber solange kannst du ihn schon einmal leihen und vernünftig einräumen. Auch wenn du keine Hebamme bist.“
    Jetzt musste Inhapy leicht lachen. Sie hoffte, der erste Teil ihrer Überraschung spornte den Griechen an, noch besser zu lernen. Auch wenn es eigentlich nichts besonderes war, am Museion hatten sie sicherlich bessere Taschen. Aber für sie war das so etwas wie ein Zeichen, dass sie ihn als Heilerlehrling akzeptierte.
    “Und über diesen Griechen, der mir recht gibt, unterhalten wir uns gleich noch.“
    Hippokrates… der hatte sein Wissen doch aus dem Haus des Lebens gestohlen, nur davon berichtete natürlich kein Buch.

    Penelope bemerkte, wie ihr Mann unmittelbar vor dem Eingang zögerte. Liebevoll strich sie ihm einmal kurz über den Arm und blieb neben ihm stehen. So mutig und unbesonnen ihr Mann auch manchmal war, wenn es um seinen Sport ging, so furchtsam und ehrfurchtsvoll war er, wenn es um die Götter ging. Eigentlich war das ja eine sehr noble Eigenschaft von ihm, daher fiel es Pelo auch gar nicht ein, ihn irgendwie zu Tadeln. Sie wollte ihm nur ein wenig Mut machen, denn er hatte gewiss nichts getan, wofür er Strafe erwarten dürfte.
    “Der Pferdeherr freut sich sicher über die Opfer“, versuchte sie, ihm ein wenig Mut zuzusprechen. Anthi hatte nicht gespart, was das Opfer an Poseidon anging. Bestimmt würde der Gott es gnädig als Dank annehmen.

    Na endlich. Inhapy öffnete die Tür und begrüßte ihren Schützling wie üblich knapp, ehe sie ihn rasch hereinwinkte.
    “Gut, dass du da bist. Ich hab mit dir heute eine ganze Menge geplant. Ich hoffe, du bist nicht allzu zimperlich. Kranke sind mitunter nicht leicht zu handhaben, und hier in Rhakotis ist es anders als im Brucheion. Noch dazu diese ganzen Rhomäer, die durch die Straßen wie die Verrückten patroulllieren und alle irre damit machen.“
    Sie merkte, dass sie in ihrer Ungeduld gerade wohl wieder etwas barscher wurde. Also atmete sie einmal kurz durch und war wieder die Ruhe selbst – wenn auch immer noch mehr als nur „ein wenig bestimmend“.
    “Aber bevor wir losgehen: Weißt du alles vom letzten Mal noch? Sei ganz ehrlich, wenn dir etwas unklar ist, frag mich jetzt.“

    Von den Stäbchen bemerkte Penelope nichts, dafür saßen sie und Marcus zu weit auseinander, und ihre Aufmerksamkeit war ohnehin noch auf Urgulania gerichtet. Gleich zwei Pyrtanen als Schüler zu haben, das war eine Ehre, die Penelope sich vor vier Monaten noch nicht hätte träumen lassen. Aber dann hatte sie Ánthimos kennen gelernt, und seitdem verlief ihr Leben beinahe wie in einem Traum. Manchmal konnte sie ihr Glück noch gar nicht ganz glauben.
    “Es wäre mir eine große Freude, werte Urgulania. Soweit ich gehört habe, bist du Schülerin am Museion. Du kannst gerne, wenn deine Zeit es dir erlaubt, an meinen Räumlichkeiten vorbeikommen. Sie liegen in dem Gebäude neben der bibliotheke, fast am Rosengarten.“
    Bestimmt würde die Eutheniarche das finden, der Gymnasiarchos hatte es auch leicht gefunden.
    Penelope aber wandte sich dann auch den Eiern zu, von denen Ánthimos sich sogleich ein gewaltiges schnappte. Sie selbst nahm sich erst einmal nur ein kleines Hühnerei mit ein wenig Garum. Sie traute ihrem Magen gerade nicht so ganz und wollte allen Anwesenden und vor allem sich selbst die Peinlichkeit ersparen, sich übergeben zu müssen, oder mit Sodbrennen nur noch schmerzlich herumzusitzen. Da aß sie lieber noch etwas zurückhaltender als ohnehin schon. Sie hoffte, das würde ihr nicht als Unhöflichkeit ausgelegt, aber sie konnte sich schlecht erklären. Sie und Anthi waren immerhin noch nicht verheiratet, und da war eine Schwangerschaft nichts, was man an die große Glocke hängte.

    Drei tage zuvor hatte Ánthimos bescheid gegeben, dass er heute vorbeikommen wollte. Also hatte Inhapy sich mit ihren Kolleginnen soweit wie möglich abgesprochen, dass sie sich für ihn heute Zeit nehmen konnte. Sie war zwar beileibe kein Arzt, die heilige Priesterschaft der Isis war bestimmt nichts für sie, und das Haus des Lebens sah sie höchstens mal von Außen im Vorbeigehen. Die ägyptischen Ärzte waren für Inhapy wahre Gelehrte, besser als jeder Grieche im Museion. Und doch hatte sie schon so einiges aufgeschnappt und gelernt, so dass sie mehr konnte, als Frauen durch die Schwangerschaft zu begleiten und Kinder zu entbinden. Obwohl das auch eine sehr ehrbare und wichtige Aufgabe war.
    Aber für heute hatte sie dennoch etwas ganz besonderes für Ánthimos vorbereitet, und sie war ganz glücklich, dass es geklappt hatte. Daher wartete sie fast schon ungeduldig darauf, dass er kommen würde. Eigentlich hatte sie ja alle Geduld, die ein Mensch nur aufbringen konnte. Bei Wehen, die manchmal ganze tage dauerten, brauchte man das auch. Aber das hier war doch anders, sie bereitete so selten Überraschungen vor.
    Daher lief sie schon im Hauptraum des Hauses auf und ab, während sie auf Anthi wartete.

    Dass die Götter in anderen Ländern teils neue Namen annahmen, war auch Penelope bekannt. Dionysos soll bis nach Indien gegangen sein, jenes ferne Land, das sonst nur Alexander der Große erforscht hatte. Und dass Hermes hier dem Thot gleichgestellt war, war auch kein Geheimnis. Es waren Mächte, die die Welt zusammenhielten, die Namen, unter welchen man sie anrief, waren nicht ganz so bedeutend. Zumindest war das Penelopes eigene, kleine Meinung dazu, die sie aber niemals laut ausgesprochen hätte.
    “Natürlich sind auch die Götter ihrem Schicksal unterworfen, natürlich haben auch sie Schwächen, ebenso wie sie ihre Stärken haben. Aber ich würde nicht soweit gehen, zu sagen, sie seien nur verschiedene Teile eines großen Göttlichen. Selbst die Ägypter kennen zumindest zwei Prinzipien, das männliche und das weibliche. Wer mag schon sagen, dass dies ebenfalls nur zwei Teile eines Ganzen sind?
    Doch zurück zu meiner eigentlichen Frage: Selbst wenn wir erkennen könnten, dass dies Wahrheit ist und Ordnung, unumstößlich und unwiderlegbar, was nützte uns das? Verlangt Wissen nicht, dass man es anwendet? Oder ist es um seiner Selbst willen bereits erstrebenswert?“

    Penelope stellte diese Frage bewusst provokant. Sie lernte auch Dinge, die sie nicht anwenden konnte, oder deren Nützlichkeit nicht auf der Hand lag. Und doch hatte alles seinen Platz in ihrer Welt, und sie konnte sagen, wofür sie etwas lernte. Bei dieser Diskussion hier konnte sie das bislang noch nicht, und sie war doch recht praktisch veranlagt in manchen Dingen. Was nützte es, zu wissen, dass die Götter sich gegenseitig ergänzten, wenn man damit nichts tun konnte? Was nützte es, sich über die Existenz von Hühnern Gedanken zu machen, wenn einem der Magen knurrte? Was nützte es, zu sehen, dass ein Mann ein liebender Vater sein konnte, wenn er dennoch ein Mörder war? An all diesen Dingen konnte man durch bloßes Wissen nichts ändern, und erst die Tat machte einen Menschen wirklich zu einem edlen Wesen, oder eben nicht.

    Das Mädchen wollte gerade etwas fragen, aber es schien es entweder vergessen zu haben oder sich nicht richtig zu trauen. Penelope würde sie nicht drängen, vielleicht konnte sie ja nachher darauf noch einmal zurückkommen. So sah sie nur lächelnd zu Ánthimos hinüber, der offenbar so hin und weg von der Kleinen war, dass er noch nicht einmal gesehen hatte, dass das Brot ja schon aufgeschnitten war. Sie nahm also eine Scheibe zur Hand und beschmierte sie gleich mit ein wenig Honig. Eigentlich wollte sie ja gleich richtig kochen, ehe Timos auch noch heim kam, aber zunächst wollte sie diese hübsche kleine Szene nicht durch Geschäftigkeit stören. Ánthimos würde schon nicht umfallen, wenn er erst einmal nur ein Honigbrot aß und in einer Stunde dann vernünftig.
    Nachdem sie die Scheibe auf dem Holzteller vor ihm abgelegt hatte, schmierte sie noch eine Zweite und schnitt diese in drei Streifen. Die legte sie dann vor dem Mädchen hin. So war es wohl für sie leichter zu essen als mit der großen Scheibe – die aber dennoch schon fast restlos verputzt war. Aber auf jeden Fall war es so um einiges unklebriger. Und die Kleine sollte ruhig soviel essen, wie sie wollte. Penelope machte es richtiggehend Freude, sie ein wenig zu bemuttern.

    Bedächtig lauschte Penelope den Ausführungen. Sie hatte noch nie über einen Philosophos diskutiert, erst recht nicht über einen wie Platon. Einige Dinge konnte sie also gut nachvollziehen, andere wiederum nicht. Was Nikolaos mit dem Huhn, der Kuh und dem Apfel mit seinen eingeritzten Zeichen wollte, war ihr beispielsweise nicht schlüssig klar. Den folgenden Teil aber verstand sie. Zumindest inhaltlich konnte sie allem folgen. Durch ihr Leben in Rhakotis wusste sie nur zu genau, dass viele Menschen mehr als eine Seite hatten, und es in den nobelsten Menschen eine dunkle Seite gab, ebenso wie einige Menschen, die man nur als Verbrecher benennen mochte, eine sanfte Art manchmal hatten. Von daher war dies nichts, was sie völlig aus dem Konzept brachte. Es gab manchmal nicht nur schwarz und weiß, in einigen Fällen gab es wirklich grau. Allerdings hatte sie keine Ahnung, worauf Nikolaos nun hinaus wollte.
    Während der einsetzenden Pause, in der einige der anderen Zuhörer anfingen, mit dem Nachbarn zu murmeln und zu tuscheln, überlegte Penelope für sich allein, ob sie etwas sagen sollte. Sie hob sich nicht gerne aus der Masse heraus, zu viel schlechte Erfahrungen hatte sie gesammelt, wenn sie gesehen wurde. Unauffällig wie ein Mäuslein kam man in gefährlichen Gegenden besser durchs Leben. Aber auch sie hatte eine andere Seite, und die war Künstlerin. Und als Künstlerin war ihre Stimme klar und rein und gut hörbar, als sie sich an den Gymnasiarchos wandte.
    “Aber was heißt das nun, möchte ich dich fragen? Auch wenn wir sagen können, das kein Mensch von Grunde auf schlecht oder von Grunde auf gut ist, sondern stets mehrere Seiten in sich trägt, mehrere Ideen, was machen wir mit diesem Wissen? Muss der, der seinen Nachbarn erschlug, nicht dennoch gestraft werden, auch wenn er ein liebender Vater und Ehemann ist? Verlangen die Götter nicht dennoch Gerechtigkeit?“
    Penelope konnte bestimmt hunderte von Gedichten und Versen, die sich mit göttlichen Strafen an Sterblichen befassten, die auch nur eine oder vielleicht zwei Taten begangen hatten, die frevlerisch waren. Die ganzen guten taten waren auch da nicht relevant, obwohl sie sich nicht vorstellen konnte, dass ein Sisyphos so abgrundtief böse war, oder ein Poteus nur in böser Absicht gehandelt haben mochte. Und dennoch hatten beide ewig währende, grausame Strafen erhalten. Und niemand würde auf die Idee kommen und behaupten, die Götter hätten ihnen Unrecht getan.

    Die Kleine war ja wirklich goldig. Penelope setzte sich an den Tisch und rückte den Stuhl neben ihr so hin, dass das Mädchen gut daraufklettern und sich hinsetzen konnte, wenn sie wollte. Sie griff nach dem Brot und bestrich es mit etwas Honig, und reichte dann die Scheibe vorsichtig an das Mädchen weiter, damit sie sie Essen konnte. Erst danach machte sie sich ebenso eine Scheibe Brot und musste lächeln, als das Mädchen so erzählte.
    “Nein, wir haben keine Bienen, wir haben den Honig auf dem Markt gekauft. Von einem Händler, der Bienen hat.“
    Sie biss ein Stückchen von ihrem Honigbrot ab und kaute schnell, um dem Mädchen auch schon gleich auf die nächste Frage zu antworten, die natürlich gleich kam. Kinder fragten immer so herrlich viel. Penelope fand das unglaublich süß. Hoffentlich würde ihr Kind genauso werden, Penelope fand das so lebendig und einfach unglaublich niedlich. Sie konnte gar nicht verstehen, wie manche Menschen von so etwas genervt sein könnten.
    “Ja, ich kenne Re. Das allsehende Auge, nicht? Weißt du, meine Freundin ist Ägypterin, sie hat mir viel von Re erzählt.“
    Eigentlich hatte sie ihr viel mehr von anderen Gottheiten erzählt. Hauptsächlich von der Nilpferdartigen Thoeris, die die Frauen während der Schwangerschaft beschützen sollte. Penelope war zwar Griechin mit dem dementsprechenden Pantheon, allerdings wollte sie auch nicht den Zorn der ägyptischen Gottheiten auf sich ziehen und respektierte also ihre Existenz.
    Sie wollte gerade noch etwas sagen, als Anthi heim kam. Sofort kam er zu ihr und gab ihr einen Kuss auf die Wange, den sie auch leicht zurückgab und ihn mit einem liebevollen Lächeln bedachte. Da er die Kleine etwas gefragt hatte, schwieg sie lächelnd. Zuviele Stimmen durcheinander könnten das Kind sonst noch verwirren, und sie wollte ihr ja Gelegenheit geben, etwas zu sagen.