Beiträge von Penelope Bantotakis

    Eigentlich hielt Neferabu nicht so viel von der griechischen Medizin. Sie vergaß zu vieles, was ihm wichtig war, und hatte einige abstruse Ansichten, die seiner Meinung nach eher Thesen glichen als wahrem Wissen. Aber der Erfolg gab ihnen in bestimmten Bereichen recht, also war es wohl auch nicht allzu schlimm mit dem, was sie dort lehrten.
    “Du solltest auch sehen, ob du die alten, ägyptischen Werke nicht im Museion finden kannst. Dort gibt es viele Bücher mit Rezepten, aber ich fürchte, die meisten sind in der Zeichenschrift. Ich weiß also nicht, ob die dir weiterhelfen können, aber sie sind gewiss sehr lehrsam.“
    Die Griechen archivierten einfach gerne Wissen. Da gab es auch ein paar Ägyptische Abschriften in der gewaltigen Sammlung des Museion.
    “Solange du die beiden Methoden nicht zu vermischen versuchst, sollte das lernen nicht schaden. Lernen ist in seiner selbst nobel, das sollte keinen Schaden bringen. Wie weit bist du mit den Linsen?“
    Neferabu schaute in den Mörser und winkte einen der Sklaven heran, der vorsichtig ein Fläschchen mit Öl herbeibrachte. Davon träufelte er vorsichtig ein wenig über den Linsenbrei, ehe er es wieder sorgfältig verschloss und davonging. Danach kam er mit einem Tonkrug mit Essig wieder, den er etwas großzügiger daraufgab. Er verneigte sich und ließ die beiden wieder allein.

    “Das Waschen ist das wichtigste, dadurch hältst du deinen Körper rein. Auch sonstige Hygiene ist sehr wichtig. Deshalb sind ägyptische Heiler am ganzen Körper auch beispielsweise enthaart.“
    Und wenn Neferabu am ganzen Körper sagte, meinte er das auch so. Selbst seine Augenbrauen waren nur eine sehr dünne Linie, die mal wieder ausgerissen werden müsste.
    “Darüber hinaus ist es gut, wenn du dich in einen Raum mit viel Weihrauchdampf oder Myrrherauch kurz begibst. Bei den Behandlungen für solche Krankheiten kommst du das ohnehin, also mach dir darüber keine Gedanken. Wenn du dich gut ernährst und auf deine Sauberkeit achtest, solltest du dich nicht anstecken, und auch deine Frau und das Kind nicht.“
    Und dann zog Neferabu kurz eine einzelne Augenbraue nach oben, als er Ánthimos andere Frage zu beantworten versuchte.
    “Wir gleichen hier keine Säfte aus. Das machen die Heiler, die Hippokrates folgen. Unsere Medizin funktioniert ähnlich, aber auf anderen Grundlagen. Es gibt ein paar Überschneidungen, aber nicht viele. Wir versuchen, Zustände und Prinzipien auszugleichen, keine Säfte. Um ehrlich zu sein, habe ich noch nie einen Menschen gesehen, der von irgendeinem Saft außer Blut wirklich angefüllt gewesen wäre. Was nicht heißt, dass es nicht stimmen kann, was sie sagen, aber meine Erfahrung ist eine andere. Und ich behandele nach meinen Erfahrungen und dem überlieferten Wissen. Wenn du etwas über die Säfte lernen möchtest, musst du zum Museion gehen, davon weiß ich nicht genug. Ich kann dich nur lehren, wie wir behandeln. Das unterscheidet sich aber von der Saftlehre.“

    “Die meisten Schlangengifte wirken stark betäubend. Du musst wissen, so mächtig Schlangen auch sind, sie sind faule Tiere. Es ist für sie um einiges einfacher, ihre Beute zu fressen, wenn diese betäubt ist, denn manchmal braucht ihr Gift sehr lange, bis ihr Opfer wirklich tot ist. Und wenn sie sich verteidigen müssen, sind sie ebenfalls darauf angewiesen, dass ihr Gegner rasch außer Gefecht ist und sie nicht noch nach ihrem Biss erwischt. Denn Schlangen haben nur genug Gift in sich, um ein oder vielleicht zwei Mal zuzubeißen. Daher tun sie das sehr mit bedacht, da sie diese Waffe dann die nächsten Tage nicht einsetzen können.“
    Neferabu mochte die Tiere, sie waren so ruhig und besonnen, und solange man ihnen gegenüber keine Fehler machte und keine Aggressionen zeigte, waren sie weitaus ungefährlicher als so mancher Mensch. Aber ein Fehler ihnen gegenüber, und sie griffen einen an. Sie kannten keine Freundschaft. In vielerlei Hinsicht erinnerte ihn das doch an so manchen Mitbürger.
    “Der böse Atem ist eine Möglichkeit, wie wir krank werden können. Da gibt es verschiedene Ursachen. Die meisten kommen durch das Essen, dass man etwas falsches zu sich genommen hat oder ein Mangel entstanden ist. Dann gibt es Krankheiten, die durch Verletzungen kommen, wie Mückenstiche, Tierbisse und Verwundungen, die dann Eitern oder gar Wundbrand bilden. Oder auch Dreck, der in Wunden gerät. Dann gibt es die Krankheiten, die die Götter schicken und die nur sie auch wieder heilen können. Da kann ein Heiler dann auch nichts dagegen ausrichten. Manchmal hilft der heilsame Schlaf im Tempel, so dass der Betroffene träumt und von der Gottheit erfährt, wie er geheilt werden kann.
    Und dann gibt es den bösen Atem. Im Atem eines Menschen steckt sein Geist, daran glauben wir Ägypter. Und wenn nun der Geist von bösen, unsichtbaren Geistern verunreinigt wurde, wird man ebenfalls krank. Dann kann der eigene Atem auch einen anderen Menschen anstecken. Das sind tückische Krankheiten, wie beispielsweise das Gelbfieber. Da muss man dann die Luft um den Betroffenen auch säubern und behandeln, damit sich niemand ansteckt.“

    “Das ist nur das Alter, dagegen kann kein Heiler etwas ausrichten. Die Salbe enthält ein wenig Gift, das betäubt das Gelenk und zieht das Wasser heraus. In einer halben Stunde ist es wieder hergestellt. Solange können wir uns hier setzen und bei der Herstellung der Salben helfen.“
    Neferabu setzte sich bereits hin und sofort kam ein ganz junger Bursche, höchstens vierzehn Überschwemmungen alt, herbeigelaufen und brachte ihm einen Becher mit dünnem Bier. Als er Anthi sah, lief er noch einmal und brachte auch ihm einen Becher davon, den er auf den Tisch stellte.
    “Bei einer Salbe kommt es zum einen auf die richtige Dosierung an, zum anderen auf die richtige Körnung. Alles muss geschmeidig ineinander übergehen, sonst hast du überall Klümpchen und erzielst keine gleichmäßige Wirkung. Alle diene Zutaten sollen etwa die gleiche Größe hinterher haben, so dass sie sich gleichmäßig verteilen und nicht die großen Teile nach unten sinken und oben nur flüssiges Öl schwimmt.“
    Er winkte einen der Männer heran und fragte nach Mörser, Stößel und Linsen. Zwar könnten das auch die anderen hier machen, aber Anthimos sollte seinen ersten Patienten ruhig vollkommen behandeln und die Paste für die Bandagen selbst herstellen. Das war ein weitaus erhebenderes Gefühl als die meisten anderen Dinge.

    Nachdem Neferabu wieder stand und die Schmerzen in seinem Knie nachgelassen hatten, ging er mit Anthimos nach draußen und wusch sich ebenfalls gründlich die Hände in dem Essig-Wasser-Zwiebelgemisch, das hier in einem Eimer vor jeder zweiten Türe zu finden war.
    “Die Linsen sind zur Stärkung, das stimmt. Alle Hülsenfrüchte haben diese Eigenschaft, aber die Linsen haben noch einen anderen Effekt. Sie saugen sehr viel Wasser, auch wenn man sie mahlt und einen Brei daraus macht. So halten sie die Feuchtigkeit gut, mit der man sie begießt, und saugen im Trocknen den Schweiß von der Haut. Und gleichzeitig geben sie das Wasser an die trockene Haut gut weiter, so dass diese nicht mehr so sehr reißt.“
    Er ging langsam und bedächtig. Nicht, weil er das immer machte, in diesem Fall, um das Wasser, das sich in seinem Knie von Zeit zu Zeit sammelte, zu verbergen. Er würde sich das Gelenk mit einer Salbe einreiben, die die Feuchtigkeit herausziehen würde. Aber zunächst ging er mit Ánthimos den Gang weiter entlang.
    “Der Essig senkt das Fieber sehr gut. Auch desinfiziert er gleichzeitig den Schweiß und verhindert weitere Ausbreitung. Essig und Wein haben eine reinigende Wirkung auf das Blut, wenn sie in Maßen angewandt werden. Sich zu betrinken ist nicht förderlich für das Blut, und noch weniger für den Kopf. Aber im Feld verwendet man oft Wein und Essig, um Wunden zu waschen. Also wirkt er ebenfalls zweifach, einmal zur Eindämmung des Fiebers, und zur Eindämmung des bösen Atems.“
    Sie kamen schließlich bei einer Türe an, die der Heiler wieder öffnete. Diesmal traten sie in einen großen Raum, wo einige Männer – aufgrund der Schlichtheit der Kleidung mochte man annehmen, es waren Sklaven – scheinbar Essen zubereiteten. Aber wenn man genauer hinsah, sah man auch einzelne Pötte und Töpfchen, die mehr nach Salben aussahen denn nach etwas essbarem. Neferabu durchquerte den Raum mit Ànthimos bis zum hinteren Ende, wo er zielsicher in ein Regal griff und sich die Schmerzsalbe für sein Knie nahm. Er hatte noch vor, heute viel zu arbeiten, da störte ihn sein Bein.
    “Die Alraune hingegen ist eine magische Pflanze, und sie verstärkt die guten Geister, die durch den Weihrauch gerufen werden. Auch wirkt sie gegen Schmerzen und wird den Guten ruhiger schlafen lassen, und ist dabei nicht so aggressiv wie Schlangenextrakte, und nicht so unberechenbar und schwer wie Mohn.“
    Er stellte das Bein kurz auf eine Bank, zog sein Gewand über sein Knie und trug mit einem Holzspachtel eine dünne Schicht der Salbe auf sein Knie auf, ehe er den Pott wieder fein säuberlich wegräumte.

    Und zum ersten Mal schlich sich so etwas wie ein Lächeln auf das Gesicht des Heilers, als er Ánthimos zunickte. Selbsterkenntnis war der erste Schritt, und dieser fiel meistens nicht leicht. Immerhin wollte man helfen, wollte Lösungen finden, wollte etwas bewirken. Man wurde ja nicht deshalb Heiler, weil man dann besonders reich oder angesehen wurde. Man wurde Heiler, weil man in erster Linie kranken Menschen helfen wollte. Da den Schritt zu gehen und sich selbst zurück zu nehmen, geduldig zu sein und ruhig zu bleiben, das war etwas, woran viele Menschen scheiterten. Aber Ánthimos schien endlich anzufangen, zu lernen.
    “Du möchtest helfen, und das ist nobel. Daran ist an sich nichts falsches. Aber du musst dabei immer die nötige Zeit dir nehmen. Egal, wie eilig es scheint, und egal, wie sehr der Wunsch in dir brennt, zu helfen. Das ist schwer, ich weiß das.“
    Och immer ließen ganz leicht nach oben verrückte Mundwinkel so etwas wie ein Lächeln erahnen, als sich der Heiler seinem Patienten wieder zuwandte und endlich auch seine Meinung sagte zu dem, was Anthi diagnostiziert hatte.
    “Seine Zähne sind schlecht, er hat nicht gut gegessen. Seine Haut ist dünn und scheint rissig, sein Körper ist ausgetrocknet. Er hat Fieber und kalten Schweiß, was an seinen Kräften zehrt. Sein Puls ist schwach, er hat viel Kraft verloren. Seine Augen haben eine gelbe Farbe, und er ist nicht ansprechbar. Du hast gut die Symptome erkannt.
    Ich habe ihn noch weiter untersucht. Er hat keine Bisse von Tieren, weder von Schlangen, noch entzündete Mückenstiche. Die Krankheit ist in seinem Inneren, und auch von dort gekommen. Vielleicht sogar durch das Essen, oder weil er zu unausgewogen gegessen hat und damit anfällig war gegen bösen Atem.“

    Der Heiler legte noch einmal seine Hand auf die Stirn des alten Mannes, als kontrolliere er die Temperatur.
    “Der Mann hat Gelbfieber. Also wasch dir gleich die Hände, wenn wir hinausgehen. Wir müssen das Fieber senken und den Körper kräftigen. Das mit dem Wasser war also schon gar nicht schlecht, damit und mit Bandagen aus Essig, Linsenbrei und Alraune um Arme und Beine ziehen wir die Hitze aus seinem Körper. Und wir werden Weihrauch hier drinnen entzünden, um den bösen Atem zu bekämpfen, damit er entweicht und nicht zurückkehrt.“
    Neferabu erklärte die Wirkweisen der Bestandteile seiner Medizin nicht. Inhapy meinte, sie habe Ánthimos schon das beigebracht, und wenn nicht, würde er fragen. Die jungen Menschen fragten immer.
    “Und jetzt leih mir kurz deinen Arm zum Aufstehen, ich fürchte, ich bin älter, als mir lieb ist.“

    “Das Blut in unserem Körper ist wie das Wasser von Vater Nil. Ähnlich wie das Wasser des Nils über viele Kanäle fruchtbares Ackerland versorgt, mag wohl das schlagende Herz Luft und Blut, Schleim, Nahrung, Samen und Ausscheidungen in die peripheren Organe tragen.“
    Die Wortwahl allein schon verriet, dass Neferabu diesen Satz wohl häufiger schon gebraucht hatte und selbst auswendig gelernt hatte. In einer der Schriften, die später einmal als Papyrus Ebers bekannt werden sollten, war dem Herzen und seiner Bewegung ein ganzes Kapitel schließlich gewidmet.
    “Das Schlagen des Herzens kannst du in den Adern, die den Körper durchlaufen, fühlen. Du kannst auch mit dem Ohr an der Brust horchen, aber so geht es einfacher, und du fühlst auch die Stärke des Herzschlages.“
    Neferabu sah Ánthimos einmal kurz prüfend an, und sah wohl ein wenig den Missmut, der sich in den jungen Mann breitmachte.
    “Zu lernen ist ein langsamer Prozess. Man lernt nichts, wenn man sofort ganz ans Ende springt und die ganzen Schritte, die zur Erkenntnis führen, überspringt. Der Weg, den man geht, ist es, der einen guten Heiler von einem schlechten unterscheidet. Schnelle Entscheidungen kann jeder treffen, und die können dann richtig oder falsch sein. Um zu überlegen, und aufgrund dessen Entscheidungen zu treffen, braucht mehr Zeit. Wenn du lernen willst, wie man heilt, musst du lernen, wie man denkt und wie man sieht. Die meisten Menschen denken, sie können das schon. Aber das ist etwas, das man erst lernen muss. Also nimm dir die Zeit, die es benötigt, denn nur so wirst du lernen.“

    Die Jugend, immer so vorschnell, und immer gleich sämtliches Halbwissen verbrauchend. War er einst auch so gewesen, als er noch jung und unerfahren war? Neferabu schloss kurz die Augen, um seine Gedanken zu sammeln.
    “Hippokrates weiß nicht alles, und das, was er weiß, hat er aus den Büchern des Lebens übernommen. Gelbe Augen lassen nicht sofort auf gelbe Galle schließen. Man sollte sich mit seinem Urteil Zeit lassen, und es nicht vorschnell fällen, weil man eine Sache gesehen, gehört oder gelesen hat. Wissen verleitet dazu, Lösungen zu präsentieren, die nur halb fertig sind. Aber du solltest erst das ganze Bild gesehen haben, ehe du dir eine Lösung überlegst.“
    Der alte Heiler nahm die Hand seines Patienten in die seine. Der Alte zitterte, das konnte er fühlen, und Neferabu fühlte nach dem Puls.
    “Patienten sagen uns viele Dinge, wenn wir nur richtig hinsehen, ohne dass sie ein Wort darüber verlieren. Das Feld, aus dem sie kommen, ist für die Heilung ebenso wichtig wie die Krankheit selbst. Liegt die Ursache der Krankheit nämlich dort, nützt es nichts, nur die Symptome zu behandeln. Dann kehrt die Krankheit nach kurzer Zeit wieder.“
    Neferabu griff nach Ánthimos Hand und führte sie zum Handgelenk des alten Mannes. Seine Hand war zwar auch alt, aber noch immer ruhig und präzise. Er hoffte, das würde noch eine weile so bleiben. Aber sein Knie zeigte ihm schon, dass es wohl nicht mehr lange dauern würde, vielleicht noch zwei oder drei Jahre, dann würden seine Finger zittern, wenn er sie biegen wollte. Aber noch war es nicht so weit, und er führte Anthis Finger zielsicher zu der Stelle, wo man den schwachen Puls messen konnte.
    “Der Puls sagt uns auch vieles. Seiner ist schwach, aber regelmäßig. Sein Blut ist also geschwächt, aber nicht verdorben, und sein Herz ist noch nicht betroffen.“
    Im Gegensatz zu anderen Lehren der Medizin kannten die Ägypter sehr wohl die Tatsache, dass das Herz mehr als nur Sitz der Seele war, sondern auch dafür da war, das Blut in den Körper zu pumpen. Dass dieses Wissen verlorengehen könnte, nur weil einige Gelehrte daran nicht glaubten, das wusste Neferabu nicht. Und so nahm er auch an, dass Ànthimos diese Tatsache wohl bekannt war und dachte nicht weiter darüber nach.
    “Du musst mehr Geduld haben, Ánthimos, durch Eile macht man Fehler. Sorgfalt ist der Schlüssel zum Heilen, und wir haben Zeit. Also sag noch einmal, was du beobachtet hast und was du dabei denkst. Du hast doch mehr gesehen als das Gelbe der Augen, oder?“

    Keine Regung ließ erkennen, ob Neferabu mit dieser Antwort zufrieden war oder nicht. Er nickte nur leicht und winkte mit einer Hand Ánthimos zum Kopfende der Liege, wo er sich auf seine Knie niedergelassen hatte.
    “Der Patient ist nicht ansprechbar, also kann er uns nicht sagen, woher sein Leiden kommt und ob er Schmerzen hat. Das müssen wir als Heiler also auf andere Weise herausfinden.“
    Er nahm seine Hand hoch und führte sie zu den Augenlidern des alten Mannes, die er sanft anhob. Das Weiße der Augen hatte eine ungesunde, gelbliche Färbung angenommen, so dass es beinahe eitrig aussah.
    “Die Augen spiegeln uns sehr viele Dinge, deshalb lohnt sich ein Blick in sie immer. Sind sie matt, ist das ein Hinweis auf eine Schädigung am Gehirn, glänzen sie übermäßig, lässt das auf Fieber in den inneren Organen schließen. Hier ist das Weiße deutlich gelb verfärbt.“
    Er wartete, bis Ánthimos es auch sicher gesehen hatte, und ließ dann das Augenlid des Patienten los. Mit sicherer Hand öffnete er dem Mann den Mund. Der Atem roch süßlich, und der Mann hatte kaum noch Zähne im Mund. Und die, die er hatte, waren leicht braun eingefärbt.
    “Zähne verraten uns auch vieles. Wie gut man isst, wie abwechslungsreich man Essen kann. Menschen, die jeden Tag nur Brot essen, haben schlechte Zähne. Die, die auch Gemüse essen, haben seltener blutendes Zahnfleisch, und damit auch meistens mehr Zähne. Fleisch ist teuer, daher wird nicht jeder immer genügend davon essen. Aber es kräftigt ebenfalls das Zahnfleisch und stärkt damit den Zahn. Fisch gibt auch viel Kraft und stärkt die Knochen von innen. Das hält die Zähne davon ab, zu schnell zu faulen. Alten Menschen fallen zwar immer Zähne aus, egal wie gesund sie sich ernähren, aber man kann es verlangsamen. Und Frauen verlieren mehr Zähne als Männer, wenn sie viele Kinder bekommen.“
    Neferabu wartete auch hier wieder, bis Ánthimos den Mundraum in Augenschein nehmen konnte, und wandte ihm dann sein Gesicht zu.
    “Nachdem du das gesehen hast, was denkst du nun?“

    Der alte Mann glitt dahin, als würde er über weichen Sand laufen. Jede seiner Bewegungen war ruhig und fließend wie Wasser, als könne ihn nichts aus der Ruhe bringen. Die Jahre hier hatten ihn vieles sehen lassen. Er wusste, wenn seine Zeit gekommen war, würden die Götter ihn rufen, und sich mit diesem Wissen abfindend hatte er eine innere Ruhe gefunden, die sich durch gar nichts erschüttern ließ. Nicht einmal durch den kleinen Krawall, der von der Straße her drang, als wohl einige Leute am Haus vorbeiliefen und ein paar Stimmen sich erhoben. Sie riefen etwas von „verfluchten Römern“, aber auch das kümmerte Neferabu wenig.
    Er ging bis zu einem Zimmer, welches er öffnete, und in das er leise hinein ging. Drinnen lag ein Mann, so alt wie die Zeit selbst, mit Haut dünn wie Pergament. Offenbar schwitzte er, denn seine Haut glänzte. Er lag auf einer dicken Matte aus geflochtenem Stroh, und seine Kleidung verriet, dass er wohl aus der Gegend stammen musste. Neferabu kniete sich neben ihn hin und ächzte nur einmal ganz kurz, als er sein Gewicht auf sein Knie verlagern musste. Ganz spurlos ging die Zeit auch nicht an ihm vorbei, und in den Gelenken merkte er manchmal, dass er doch älter war, als er sich fühlte. Aber der liegende Mann war noch älter und schien ihn gar nicht zu bemerken.
    “Tritt her, Ánthimos, und sag mir, was du siehst“ forderte Neferabu den jungen Mann auf.

    Neferabu beäugte den Mann einmal skeptisch von oben bis unten. Für einen ordentlichen Priester war er zu kräftig, die mussten dünn sein. Aber Inhapy hatte ihn darum gebeten, ihm etwas beizubringen, und ihr konnte er schwerlich etwas abschlagen. Er schuldete ihr so einiges, wäre es anders, hätte er sich auch gar nicht darauf eingelassen. Und er sprach gutes ägyptisch, auch wenn er Grieche war. Etwas, das Neferabu durchaus honorierte.
    “Folge mir“, meinte er einfach schlicht in seiner ruhigen, dunklen Stimme, und wandte sich ohne ein weiteres Wort um. In würdevoller Geschwindigkeit schritt er durch den Innenhof.
    An einer Stelle blieb er stehen, wo ein großer Stein lag. Eine große, pechschwarze Schlange lag dort und sonnte sich. Als der Priester neben ihr stehen blieb, hob die Schlange den Kopf und zischte einmal leise. Er blickte nur einfach auf sie herunter, und begann dann zu erzählen, ohne auch nur irgendeine Regung zu zeigen.
    “Du solltest gar nicht hier draußen sein, kleine Schwester.
    Eine Kobra, sehr giftig, wenn sie dich beißt. Aber ein Tropfen ihres Giftes verrührt mit dem Fett eines kleinen Schafes und feinem Balsam, und die Salbe glättet jede noch so faltige Haut und nimmt jeden Schmerz von geschwollenen Gliedern. Giftiges und Gesundes liegen nahe beieinander, es kommt jeweils auf die richtige Menge an.“

    Er schritt weiter, durchquerte den Hof und öffnete eine Tür auf der anderen Seite, durch die er trat. Er sah sich nicht einmal um, ob Ánthimos ihm auch folgte. Es war seine Entscheidung, ob er lernen wollte oder nicht, Neferabu würde ihm die nicht abnehmen. Er konnte ihm nur zeigen, was ihm gezeigt wurde, nicht mehr.

    “Gut, dann lass uns hineingehen.“
    Innerlich lächelte Inhapy ein wenig. Bei ihrer Tochter hatte es wesentlich länger gedauert, bis das Mädchen sich getraut hatte, in dieses Haus zu gehen. Aber die war auch ein Kind, und Anthi ein erwachsener Mann. Nichts desto trotz war es ein kleiner Schritt in die richtige Richtung.
    Als wäre nichts weiter ging Inhapy in das Haus. Die Türe war offen, lediglich einige Schnüre mit Holzperlen daran versperrten die sicht ins Innere des doch recht einfachen Hauses.


    Das Haus hatte einen großen, lichten Innenhof, so dass es doch recht hell war. Im Hintergrund konnte man vereinzeltes Husten hören, allerdings sah man keine Kranken. Inhapy ging zielsicher in das kleine Megaron des Hauses und wartete dort. Sie würden sicher nicht lange warten müssen.


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    Neferabu war gewiss kein schöner Mann. Auch war er nie besonders erfolgreich gewesen. Und seine Eltern hatten nie verstanden, was genau ihn zu den schlangen trieb. Aber nun war er schon so viele Jahre hier im diesem Hause und kümmerte sich um die heiligen Tiere, dass er schon gar nicht mehr wusste, wie es früher war. Er hatte die fünfzig schon lange überschritten und war bestimmt seit seinem zwölften Lebensjahr bei der Priesterschaft der Isis gewesen, aber schon immer interessierte er sich mehr für die Tränke und vor allem die Schlangen als für den Tempeldienst. Also hatte man den Jungen auch recht bald hierher gesteckt, damit er hier alles lernen konnte, was er so sehr zu wissen wünschte.
    Und nun war er einer der Ältesten hier. So schnell verging die Zeit. Langsam lief er durch das Haus, schaute nach den Kranken, die hier in einigen Kammern schliefen, um so vielleicht eine göttliche Erleuchtung zu erhalten. Vielleicht fanden sie so den Grund für ihre Schmerzen heraus, Schlaf in einem heiligen Haus war oft sehr wirksam.
    Langsam ging er in den freien Innenhof des Hauses, und sah ein bekanntes Gesicht. Er lächelte nicht, denn Neferabu lächelte nie. Er kam nur langsam auf die kleine Hebamme mit ihrem großen Begleiter zu und begrüßte sie mit einer stummen, kleinen Verneigung.
    “Ich habe euch bereits erwartet.“
    Inhapy aber lächelte ganz leicht, als sie sich ebenfalls verneigte. “Ánthimos, das ist Neferabu. Ein wirklicher Heiler von großer Kunst.“

    Penelope war mit ihrem Brot auch fertig und wusch sich also ebenfalls kurz in dem Wassereimer die Hände. Ihre waren zwar nicht klebrig, aber das gehörte sich einfach so.
    “Magst du dir auch die Hände waschen? Sonst schimpft er uns noch, wenn wir das Bild aus versehen verkleben.“
    Freundlich lächelte sie dem Mädchen zu, damit es sich auch traute und den Scherz erkannte. Die Kleine war einfach nur goldig anzusehen und in Penelope regte sich jeder Mutterinstinkt, den sie hatte, allein bei dem Anblick. Wenn sie daran dachte, dass so ein wundervolles Wesen auch in ihr heranwuchs, wurde ihr ganz warm ums Herz. Sie konnte es fast kaum erwarten.
    “Wie heißt du eigentlich?“ fragte sie dann noch neugierig. Sie konnte sie ja nicht immer nur „das Mädchen“ in Gedanken nennen, und es war immer gut, wenn man Namen kannte. Penelope legte da viel Wert eigentlich darauf.

    Inhapy hob allein beim Namen von Hippokrates leicht die Augenbraue. Für sie war er jemand, der das Wissen bei den Ägyptern geklaut hatte und als sein eigenes verkaufte, und dazu noch ein bisschen was dazugedichtet hatte. Von daher war sie von ihm nicht so überzeugt wie so manch andere, aber sie wollte jetzt nicht schon wieder einen Streit anfangen mit Ánthimos.
    “Natürlich sind da giftige Schlangen. Die meisten Schlangen hierzulande sind giftig. Wenn du dich fürchtest, gehen wir nicht hinein. Normalerweise sind die Schlangen dort in den Räumen, wo normale Besucher nicht hinkommen, aber manchmal sind auch welche dort. Ich werde dich nicht verurteilen, wenn du dich nicht traust. Ich kenne viele Leute, die Angst vor Schlangen haben. Es sind sehr mächtige Wesen.“
    Inhapy hatte nicht vor, ihm da etwas vorzumachen oder ihn zu überreden. Natürlich war das auch ein Test, um zu sehen, wie ruhig er auch in gefährlichen Situationen bleiben konnte. Wirklich gefährlich waren die Schlangen dort nicht. Zum einen waren Menschen zu groß, um für sie Beute zu sein, und zum anderen gab es dort auch nur ein paar, die dazu noch gefüttert wurden. Aber dennoch gehörte die Überwindung der eigenen Angst auch ein Stückweit dazu, was es hieß, Heiler zu sein. Da musste man sich öfter die Hände schmutzig machen und bekam Dinge zu sehen, vor denen sich jeder normale Mensch ekelte oder fürchtete.

    Auch mal löblich, jemand der nicht immer gleich nach einem Heiler krähte, wenn er sich mal piekste. Wobei Inhapy ja auch sagte, lieber einmal zu oft nachgefragt als einmal zu wenig.
    “Nun, dann weißt du wenigstens schon einmal, wie sich so etwas anfühlt. Es ist immer gut, zu wissen, wie sich eine Krankheit auch anfühlt, wenn man sie behandeln will. Dann weiß man aus eigener Erfahrung, welche Teile des Körpers betroffen sind. Und eine robuste Gesundheit ist auch gut, denn einiges ist ansteckend, und als Heiler sollte man nicht gleich mit krank sein. Vor allem wenn du bald ein kleines Kind dann im Haus hast, musst du besonders darauf achten. Dann solltest du dich auch waschen und umziehen, bevor du es in den Arm nimmst, denn manche Dinge haften in der Kleidung. Ich glaube, es kommt durch den Atem der kranken Personen, aber ich bin mir da nicht so sicher. Aber waschen hilft auf jeden Fall.“
    Sie lief mit ihm weiter, immer in Richtung Serapeion, aber nicht direkt dorthin. Sie führte ihn durch das dichte Straßengewirr zielsicher, bis sie ein paar Querstraßen vom Tempel entfernt schließlich vor einem recht bunt bemalten Haus Halt machten, auf dem erstaunlich viele Schlangen abgebildet waren.
    “So, da wären wir.“

    “Ach, schon vergessen. Du solltest mal hören, was einem schwangere Frauen bei der Geburt so alles an den Kopf werfen, vor allem in den ersten paar Stunden.“
    Inhapy winkte mit einer lässigen Handbewegung ab, als wäre sonst nichts weiter. Dass er aber noch nie in einem Haus des Lebens war, verwunderte sie doch ein wenig.
    “Wirklich noch nicht? Penelope meinte, du würdest dich im Gymnasion mit einem anderen Kerl prügeln und das als Sport betreiben. Noch nie dabei verletzt worden, oder nur noch nie ins Haus des Lebens deswegen gegangen?“
    Dort konnte man natürlich auch das „handwerkliche“ wie Knochen einrenken und all solche Dinge. Aber das konnten die Griechen auch sehr gut, musste Inhapy auch mal zugeben.

    Sein Gebet war gut, fand Penelope. Einfach, klar und gerade heraus, ohne lang herumzureden. Und es war ehrlich, so gut kannte sie ihren Mann. Und wenn Poseidon ihn auch kannte, würde er das auch sehen, da war sie sich sicher.
    Penelope stand einfach still im Hintergrund und wartete auf ihren Mann. Manchmal konnte man die Anwesenheit des großen Gottes spüren, hieß es, also achtete Penelope auf ihre Gefühle, ob sie etwas fühlen konnte. Aber sie sagte selbst nichts, denn es war Ánthimos’ Opfer und sein Gebet.

    “Nun, ja und nein. Natürlich kann man dort hingehen, und wenn man ein Anliegen hat, wird man normalerweise auch eingelassen. Es ist ein Ort der Heilung, ähnlich dem Haus des Lebens. Das kennst du, oder?“
    Das musste Inhapy kurz abklären, ehe sie weiter erklärte. Aber sie konnte sich nicht vorstellen, das jemand nicht das Haus des Lebens kannte, immerhin hatte er Isis geopfert. Da würde er das Haus, in dem ihre Priester heilten, doch sicherlich auch kennen. Meistens war das ja sogar direkt in der Tempelanlage, wobei in den eher griechischen Poleis diese auch anders aufgebaut waren als in den Städten, die ihren ägyptischen Kern noch hatten.
    “Aber normalerweise wird dort nicht gelehrt. Ich kenne nur einen Heiler von dort, ich habe seiner Tochter bei der Geburt geholfen. Und ich habe ihn gebeten, dass er dich heute ein wenig unter seine Fittiche nimmt.“

    Inhapy war normalerweise immer viel zu beschäftigt, um nachtragend zu sein. Und zu hören, was einem Frauen während der Geburt alles an den Kopf warfen in ihrem Schmerz, härtete doch ziemlich ab und ließ einen kleine Beleidigungen doch schnell vergessen. Und das hier war weniger als eine Beleidigung gewesen, also war es für Inhapy auch schon gleich vergessen.
    “Ich kann dich nicht so viel lehren. Zumindest nichts, was du als Mann lernen darfst, denn ich kenne fast nur die Geburt. Aber deshalb wollen wir uns beeilen, damit wir zum Haus der Schlangen kommen, denn dort gibt es das Wissen, das du suchst. Also lass uns gehen, es ist noch ein ganzes Stückchen.“
    Inhapy hatte kein Problem damit, zuzugeben, dass sie in der Allgemeinmedizin nicht besonders bewandert war. Natürlich konnte sie Ánthimos einige Rezepte beibringen und ihm noch ein paar Dinge erklären, aber sie war Hebamme und kein Heiler. Dafür gab es ja auch Heiler und Priester. Und zu genau so einem würde sie den Griechen nun auch bringen, damit er wirkliche Heiler einmal bei der Arbeit sehen konnte.

    Ach, darum ging es also. Er sah sich in seinem Volksstolz gekränkt, weil Inhapy nun einmal sagte, wie es allgemeinhin war. Aber so verrauchte zumindest der gröbste Zorn, und sie konnte die schneidende Schärfe aus ihrer Stimme nehmen.
    “Dass ihr zuhört, auch wenn ich Ägypterin bin. Die meisten deiner Landsleute tun das nicht, und wenn du ehrlich bist, dann weißt du das. Für die meisten Griechen sind Ägypter das, was ihr für die Römer seid. Das mag weder dir noch mir gefallen, dass es so ist, aber so ist es. Bestimmt gibt es auch irgendwo Römer, die zuhören und einen gleichberechtigt behandeln. Auch wenn ich noch keinen getroffen habe, aber ausschließen kann ich es nicht.“
    Ihre ganze Gestik und Mimik war nun auch ihrer Stimme angepasst wieder ruhig und sachlich. Dieser große Mann war schon ein großer Idealist, kam es ihr vor. Aber auch solche Menschen musste es geben, denn nur so bestand die Chance, dass sich an den Ungerechtigkeiten auch einmal etwas änderte. Von daher war sie weniger böse auf ihn, vielmehr beneidete und bemitleidete sie ihn in gleichem Maße um diese naive Art. Als sie jung war, hatte sie sie auch einmal besessen, aber nun war sie älter und hatte sich irgendwann einmal mit der Welt, wie sie war, abgefunden. So war es leichter, in ihr zu leben.
    "Ich habe das für mich schon lange akzeptiert, dass es so ist. Die Frage ist nun, ob du es auch akzeptieren kannst, oder nicht. Aber weder du noch ich können hier und jetzt etwas daran ändern. Ich will dir nicht den Stolz auf dein Volk nehmen, aber lass mir auch den auf meines."