Beiträge von Penelope Bantotakis

    Der Weg von Rhakotis bis hierher war eigentlich ziemlich weit, und doch kam er Penelope so unendlich kurz vor, als sie hier plötzlich schon angekommen waren. Sie hatte sich bei ihrem Großvater eingehakt, so konnte sie ihm die Richtung dezent anweisen, ohne dass irgendjemand etwas bemerken würde. Es sah einfach nicht nach dem Führen eines blinden Mannes aus, und das war Philolaos sehr wichtig. Immerhin war er jemand! Zumindest vor langer Zeit.


    Beim Haus angekommen schien ihr Großvater neben ihr ein wenig zu wachsen. Auch wenn er nur noch hell und dunkel unterscheiden konnte, er kannte dieses Haus. Zielsicher schritt er durch den geöffneten Eingang. Penelope sah die ganzen Sklaven, die vorne bei Xenocles gelassen wurden. Der arme, kleine Maler sah zwischen diesen ganzen Muskelbergen völlig verloren aus. Sie schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln.
    “Sind alle Gäste schon da?“ fragte sie den Sklaven, und nachdem er ihr gesagt hatte, wer alles gekommen war, zog sie ihr Großvater auch schon mit in Richtung Garten. Hier herinnen brauchte er niemanden, der ihn führte, hier war sein Reich, das er kannte. Auch wenn es fünf Jahre lang jemand anderem gehört hatte.

    Es dauerte noch eine ganze Weile, bis Penelope schließlich herunter kam. Ihre engste Freundin und ihr Großvater hatten sich richtig herausgeputzt. Inhapy trug sogar eine Perücke, was sie sonst eigentlich nie tat. Sogar eine richtig kostbare mit Perlen aus Türkis darin. Sicher hatte sie sich die extra hierfür geliehen, denn leisten konnte sie sich die sicher nicht.
    Penelope schritt die schmale Treppe herunter und stellte sich nervös vor die beiden hin.
    “Du bist wunderschön“, sagte Philolaos plötzlich.
    Ganz unvorbereitet auf diese Worte wurde Penelope ganz verlegen und schaute verwirrt. “Siehst du mich?“ Er war schon so lange blind, eigentlich dürfte er doch gar nicht wissen, wie sie ausschaute?
    Philolaos lächelte nur kurz. “Für manche Dinge braucht man keine Augen.“ Und dann wurde er wieder gewohnt etwas ruppiger und nicht mehr so rührselig. “Können wir dann los? Du hast ja ewig gebraucht, wenn wir noch lange warten, essen die ohne uns. Und eigentlich gebe ich ja das Essen, da sollte ich da sein.“
    Penelope tauschte einen kurzen Blick mit Inhapy, sagte aber dazu nichts weiter. Natürlich wäre es gegen den Stolz ihres Großvaters gegangen, wenn er nicht als Brautvater – oder Brautgroßvater – seine Enkelin anständig verheiratete, wie es sich gehörte. Dazu zählte eben auch, dass er das Essen zahlte. Auch wenn das hier nicht so wirklich stimmte, denn Anthi und Penelope hatten dafür zusammengelegt. Aber das musste ja kein Mensch jemals erfahren. Auch nicht ihr Großvater.
    “Ja, wir können los. Ich bin soweit. Inhapy, der Wagen…?“
    “Ist alles geregelt. Hay und Bay bringen ihn in gebührendem Abstand hinter uns her, damit es nicht so sehr nach Brautzug ausschaut. Er wird dann vor dem Haus stehen, wenn der richtige Brautzug losgeht. Keine Sorge, Pelo. Wir müssen nur noch hingehen, alles andere ist geregelt.“
    Penelope überlegte, ob sie denn auch wirklich los konnten. Ihr war so, als hätten sie etwas Wichtiges vergessen. Sie konnte noch nicht losgehen, da fehlte doch bestimmt noch etwas? Jetzt loszugehen erschien ihr irgendwie so übereilt und verfrüht. Bestimmt waren die Gäste noch nicht einmal da, oder Anthi noch nicht fertig, oder… irgendwas war bestimmt.
    “Hmm. Also, fehlt auch wirklich nichts? Ich meine, wenn wir was vergessen, dann…“
    “Jetzt zier dich nicht so, wir gehen zu deiner Hochzeit, nicht zu deiner Hinrichtung. Also mach schon, ich hab Hunger.“
    Penelope nahm noch das rote Himation von Inhapy entgegen, das sie heute als Schleier tragen würde. Die Farbe war ihr eigentlich egal, aber Römerinnen trugen zu ihren Hochzeiten eine rote Palla, hatte sie sich sagen lassen. Da fand sie, das war eine kleine Geste in Richtung der römischen Gäste, damit sie auch gleich die Braut erkannten. Immerhin kannte sie viele von Anthis römischen Freunden gar nicht. Und das Himation würde sie ohnehin eigentlich nur jetzt auf dem Weg und beim Brautzug tragen, so wichtig war ihr da die Farbe nicht. Und es passte auch zum Kleid.
    Bevor ihr Großvater also noch gänzlich unleidlich wurde, machte sie sich mit ihm auf dem Weg zu ihrem neuen und alten Zuhause.

    Am letzten Abend vor der Hochzeit war Penelope wieder zurück in dieses Haus gekommen. Sie war seit Monaten nicht mehr hier gewesen, und daher hatte sie Angst, als sie eintrat. Inhapy hatte sich um Philolaos gekümmert, aber dennoch hatte Penelope riesige Angst. Vor allem das erste Zusammentreffen mit ihrem Großvater hatte ihr furchtbare Angst gemacht.
    Aber als sie dann in die Türe getreten war und sich dem alten Mann zu erkennen gab, war nichts von seiner gewalttätigen Art zu spüren gewesen. Nein, er hatte geweint. Penelope hatte ihren Großvater noch nie weinen sehen, zumindest nicht so. Er hatte sie umarmt und gehalten, er hatte sie vermisst. Gut, dass Inhapy auch da war, denn Penelope wusste gar nicht, wie sie damit umgehen sollte, und wäre allein völlig überfordert gewesen.
    Philolaos sah anders aus. Irgendwie älter. Es waren drei Monate gewesen, aber er sah aus, als wären es drei Jahre gewesen, oder noch mehr. Sie hatte ihren Großvater nie so kraftlos gesehen, so mager und schwach. So… alt. Aber scheinbar war er klar, und das war mehr, als Penelope von früher sagen konnte. Den ganzen Abend hatten sie geredet, lange und viel geredet. Zwar hatten sie tunlichst Themen vermieden, die die Vergangenheit zu sehr berührten, aber sie hatten geredet.


    Eigentlich hätte das Fest in diesem Haus stattfinden müssen. Normalerweise hätte dann der Brautzug von hier aus in das Haus im Brucheion gehen müssen, nachdem das Fest soweit gediegen war. Aber das wollte Penelope auf keinen Fall. Sie wollte ihrem Großvater das nicht antun, dass die Hälfte aller Pyrtanen der Stadt sehen musste, wie er nun lebte. Außerdem zog er ja auch gleich mit wieder in sein altes Haus, und es hatte ihm ja auch einmal gehört. Also war es wohl nicht so schlimm, wenn sie gleich dort auch feierten und der Brautzug eher rituell einfach einmal um den Block ging. Penelope glaubte nicht, dass das irgendwelche negativen Auswirkungen hatte. Musste ja nicht jeder wissen, wie sie die letzten Jahre gelebt hatte, ehe sie Anthi getroffen hatte.
    Ànthimos… wie sie so am Morgen dastand und sich vorstellte, ihn gleich zu heiraten, wurde ihr ganz schummerig. Sie hatte nicht wirklich Angst, sie freute sich wahnsinnig. Aber vor den ganzen Gästen, vor dem fest und dem ganzen drumherum, davor hatte Penelope ganz gehörig Angst.
    Inhapy hatte sie noch am Vorabend in ein Bad aus Eselsmilch gesteckt. Damit sie heute besonders schön sei, hatte sie gemeint. Penelope hatte versucht, ihr zu erklären, dass sie heute auch noch mal ein rituelles Bad nehmen würde, aber davon ließ die Ägypterin sich nicht abhalten. Sie murmelte dabei beständig irgendwas vor sich her, und Penelope hatte einfach aufgegeben, sich zu widersetzen und ließ es über sich ergehen.
    Und nun stand sie da, am nächsten Tag, in einem neuen Chiton, in ihrem Zimmer, und war schon ganz nervös. Hatte sie auch nichts vergessen? War ihre Kleidung denn einer Braut angemessen? Sie hatte einen reinweißen Chiton an, der mit roten Fäden abgesetzt war. Ein Blumenmuster, das sich am Hals und an ihren Seiten hinab nach unten schlängelte, war das aufwendigste daran. Sie hoffte, es war gut genug. Sie hatte gehört, Römerinnen webten sich dafür eigens eine eigene Tunika. Ihre Haare hatte Inhapy hochgesteckt, sie selbst hatte dafür zu zittrige Finger gehabt. Die Frisur sah so ungewohnt aus, wenn sie sich im Wasser ihrer Waschschüssel so betrachtete. Sonst flocht sie ihre Haare nicht so kunstvoll.
    “Oh, ihr Götter, lasst mich diesen Tag heute nur gut überstehen“, betete sie still vor sich hin. Unten wartete schon ihr Großvater mit Inhapy, ihrem Mann und den Kindern, dass sie herunterkäme. Aber noch war sie nicht ganz soweit.

    Das ganze Haus war geschmückt, wie es sich für eine Hochzeit gehörte. Penelope hatte alle Freundinnen gerufen, um ihr dabei zu helfen, so dass das Haus in altem Glanz erstrahlte. Überall waren schöne Blumengebinde angebracht. Hauptsächlich weiße, ägyptische Lotosblüten waren kunstvoll verflockten worden, ebenso wie wilde Rosen. Inhapy hatte Maulbeerfeigen aufgetrieben und kunstvoll verteilt, die ihren verführerisch süßen Duft nun im gesamten Garten und dem Andron verteilten. Als Zeichen der Liebesgöttin Hathor, die bei den Griechen Aphrodite hieß.
    Klinen waren kunstvoll verteilt worden, so dass alle Gäste einen Platz hatten und sich gut unterhalten konnten, ohne dass es gedrückt wirkte. Auch gab es einige Stühle, falls jemand lieber sitzen wollte. Bei den Klinen standen kleine Tischchen, so dass man Getränke und Teller überall abstellen konnte.


    Die Küche arbeitete schon auf Hochtouren. Penelope hatte sich von den Nachbarn einige Sklaven geliehen, damit diese helfen konnten. Einen ganzen Ochsen zu braten benötigte viele Hände, ebenso wie die Bewirtung der Gäste.
    Eben jene werden direkt ins Haus hineingebeten, so dass sie sich schon mit den anderen unterhalten können. Dort werden sie schon von herbeieilenden Sklaven mit Getränken versorgt und von einigen Flöten- und Lyraspielern unterhalten.

    Heute kam er aber auch gar nicht heim! Die erste Zeit des Abends hatte Penelope auf ihn gewartet. Dass Timos abends auch mal nicht nach Hause kam, daran hatte sie sich gewöhnt, aber auf Anthi war normalerweise Verlass. Sie hatte mit dem Essen über eine Stunde gewartet, und dann war sie wütend geworden. Er war doch Agoranomos, da sollte man meinen, dass er auch einen Boten schicken könnte. Aber nein, offenbar konnte der Herr das nicht, wenn er sich von seiner Arbeit schon nicht lösen konnte. Dann sollte er eben kalt essen.
    Als sie dann gegessen hatte und den Rest auf den Ofen zurückgestellt hatte, war er immer noch nicht da. Eine ganze Weile war sie noch wütend gewesen, doch irgendwann hatte sie begonnen, sich Sorgen zu machen. Wo steckte er bloß? War etwas passiert? Sie fing an, auf und ab zu gehen und immer wieder aus den verschiedenen, kleinen Fenstern der Diamerisma zu schauen. Aber weit und breit kein Anthi zu sehen. Sie war schon drauf und dran, loszugehen und ihn zu suchen, aber es war schon dunkel draußen und da war es allein als Frau wohl zu gefährlich. Also ließ sie das lieber bleiben.
    Sie wurde müde und ging auch zu ihrem Bett, aber schlafen konnte sie nicht. Die ganze Zeit horchte sie, ob er nicht doch heimkam. Aber er kam nicht.
    Irgendwann war sie dann halb eingenickt, als ein Poltern sie weckte. Sofort war Penelope wach und horchte auf die tapsigen Schritte. Selbst ein Tauber hätte hören können, dass ihr Mann betrunken war. Penelope machte ein säuerliches Gesicht und stand auf. Angezogen war sie ja noch, also kam sie gerade rechtzeitig zum Finale von Anthis Darbietung, als der Tisch unter ihm zusammenklappte. Und der Kerl schlief fröhlich weiter.
    Penelope stand einen Moment einfach nur ungläubig da und schaute ihren Mann an. Dann schließlich siegte der Ärger, der aus der ganzen Sorge geboren war, und sie stapfte zu ihm rüber.
    “Anthimos Bantotakis! Schäm dich, dich so zu betrinken wie ein Raufbold auf der Straße! Ich hab mir unendliche Sorgen gemacht, dass du irgendwo halb tot im Straßengraben liegst, und du riechst wie eine ganze Taverne!“
    Ihre schöne, zornige kleine Ansprache verpuffte aber im Nichts, denn das Ziel ihres Ärgers gab als Erwiderung nur ein Schnarchen von sich. Penelope holte einmal sehr tief Luft und sah sich um. Die Wohnung lag im Dunkeln, aber ihre Augen hatten sich an das fahle Licht des Mondes schon einigermaßen gewöhnt. Und sie wusste ja, was sie suchte.
    Der Eimer mit dem Brunnenwasser war auch schnell gefunden. Sie nahm ihn – er war noch etwa halbvoll – ging zu Ánthimos hinüber und goss den Inhalt über ihm aus. Hier betrunken auf dem Boden schlafen würde er definitiv nicht. Oder zumindest nicht, ohne sich vorher anhören zu dürfen, wie viel Sorgen sie sich gemacht hatte.

    “Ich dir zeigen? Nichts da, Übung macht den Meister. Und ein guter Lehrer sollte seine Schüler doch immer Üben lassen.“
    Manchmal war Anthi schon ein fauler Kerl, aber Penelope würde ihn da schon erziehen. Schließlich war der Dienst an den Göttern eigentlich auch eher Männersache, da durfte er schon in vorderster Front stehen und selbst sein Gebet sprechen. Auch wenn sie wusste, dass er sie bei solchen Dingen gerne vorschickte.
    “Wo wir gerade bei den Musen sind. Kennst du alle neun?“
    Nicht, dass man ihr noch unterstellte, sie würde ihm nichts beibringen. Konnte ja sein, dass sein Prüfer ihn nach den Namen und den Aufgaben der neun Musen fragte.

    Penelope hatte von Medizin keine Ahnung, aber was er da so sagte, klang durchaus sehr modern und vernünftig. Bestimmt würde er damit Erfolg haben und auch als Arzt Anerkennung finden. Also nickte sie freudig bei seinen Worten.
    “Ganz bestimmt sogar. Das wäre ja eine völlig neue Heilmethode. Wenn das funktioniert, müssen sie dich ja fast schon als Iatros anerkennen. Ich bin wohl wirklich eine gute Priesterin der Musen, wenn ich dich mit einem Satz auf diesen Musa bringe. Ich glaube, ein kleines Dankesopfer sollten wir uns da schon erlauben.“

    Mit seinem Herumhampeln sah Anthi eher aus wie ein aufgeregtes Kind denn wie ein angehender Arzt, und Penelope musste unwillkürlich Grinsen, als sie ihm so zuhörte. Er war ja ganz außer sich! Aber so verstand sie wenigstens, was er gemeint hatte – auch wenn ihr der Teil mit den Schlangen und dass er mal Gift auf der Hand hatte so gar nicht gefallen wollte. Aber sein letzter Satz schließlich machte alles davor Gesagte zu einer wahren Offenbarung.
    “Meinst du das wirklich? Kein Opium? Auch kein Mohntee?“
    Das wäre dann wirklich eine sehr gute Sache. Penelope hatte eine tiefe Abneigung gegen Opium, wusste sie doch nur zu gut, was das aus Menschen machen konnte. Und der Tee aus Mohn, der manchmal stattdessen genommen wurde, war auch nicht viel besser. Penelope hatte generell etwas gegen die vielen Betäubungsmittel, die es so gab. Natürlich verurteilte sie deswegen niemanden, aber nüchterne Menschen waren ihr eindeutig lieber als berauschte.

    Sie eine Muse? Antonius Musa? Penelope verstand nur Pferdewechselstation. Sollte ihr das irgendwas sagen? Vielleicht war das ein lateinischer Begriff, und sie hatte es nur falsch verstanden? Aber sie kannte auch keine Muse von Antonius, und sie bildete sich ein, viel über die Göttinnen der schönen Künste zu wissen. Also sah sie Ánthimos nur vollkommen verdattert an und versuchte, einen Sinn zu finden.
    “Ich versteh nicht… Was hab ich denn gesagt? Und diese Musa…?“
    Irgendwie fehlte da eine grundlegende Information.

    Penelope wagte nicht, darüber zu befinden, ob das nun für den verstorbenen schlimm oder weniger schlimm war. Wie sie gehört hatte, hatten die Ägypter vor hundert Jahren ihren Toten noch die Eingeweide entnommen und in extra Amphoren gepackt, sogar bei ihren Königen, weil sie glaubten, das müsse man so machen. Vielleicht war es bei Ägyptern dann wirklich nicht so schlimm? Und wenn die Toten dann ordentlich bestattet wurden, war der Geist, der zum entsprechenden Körper gehörte, vielleicht auch besänftigt.
    Aber natürlich hörte Penelope, wie das Anthi bedrückte. Und da galt nun nicht, was sie dachte, da war er wichtiger. Und ihre Pflicht – die sie auch gerne ihm zu liebe erfüllte – war es, ihn zu unterstützen und aufzubauen, egal was sie dachte. Sie rückte etwas näher zu ihm und nahm seine Hand.
    “Ich bin mir sicher, hier würde man nichts machen, was den Zorn eines Geistes nach sich zieht. Immerhin ist das hier der Tempel eines der höchsten Götter. Diejenigen, die beschlossen haben, das zu untersuchen, werden schon wissen, was sie tun. Es ist mir nur einfach unheimlich, wenn ich mir vorstelle… nein, das will ich mir lieber gar nicht vorstellen.“
    Sie bekam sofort ein beklemmendes Gefühl in der Brust, wenn sie daran dachte, jemand könne ihr den Bauch aufschneiden. Egal, ob sie da schon tot wäre oder nicht, da kribbelte gleich ihr ganzer Körper unheilvoll. Sie schüttelte sich kurz, um das Gefühl loszuwerden.
    “Wenn du dann Arzt bist, kannst du ja vielleicht etwas mehr das andere machen. Brüche schienen und Kräutermedizin und derlei.“

    Das konnte Penelope nur allzu gut nachvollziehen. Sie wäre da vermutlich zudem noch aus dem Raum geflüchtet.
    “Ich weiß ohnehin nicht, was ich davon halten soll. Musst du denn Menschen wirklich aufschneiden wie ein Tier? Ich meine… sollte man sie nicht lieber anständig verbrennen mit zwei Münzen für den Fährmann, wie es sich gehört?“
    Es war ja allgemein bekannt, dass Tote, denen man die Augen ausstach, blind durch die Unterwelt gehen mussten. Sie wollte sich nicht vorstellen, was mit aufgeschnittenen Personen wohl passieren würde. Nungut, das waren soweit sie hörte keine Griechen, aber dennoch hatte sie kein gutes Gefühl bei der ganzen Sache. Es gab ja auch nicht viele Ärzte, die sich damit wirklich beschäftigten. Aber hier am Museion war der Wissensdurst und Wissensdrang wohl einfach größer als irgendwelche Skrupel.

    “Erzähl das mit dem Aberglauben lieber niemals Inhapy, die macht dich sofort einen Kopf kürzer“, lachte Penelope. Sie glaubte zwar auch nicht an die ganzen ägyptischen Gestalten, aber andererseits hatten sie auch eine Katze geholt, um diese ägyptische Gottheit auch auf ihre Seite zu ziehen. Sie wagte also nicht, zu sagen, was davon nun wirklich Aberglaube war und was vielleicht doch wirklich. Dazu hatte sie auch viel zuviel Respekt vor Inhapy.
    “Deinen Magen? Wieso, hab ich dich etwa angesteckt mit meiner Übelkeit?“ Ihr war ja in letzter Zeit fast durchgehend irgendwie schlecht. Keine Ahnung, warum man das Morgenübelkeit nannte, ihr war auch Abends schlecht, und mittags, und zwischendurch so zur Abwechslung. Aber wenigstens das wirkliche Übergeben beschränkte sich meist auf morgens.
    “Das klingt beides sehr gefährlich. Nicht, dass dich eine Schlange noch beißt. Ich weiß, das machen sie nicht, wenn man vorsichtig ist, aber… ich mag sie nicht. Aber die heilige Krankheit…
    Naja, ich bin froh, dass ich kein Arzt werden möchte. Ich glaube, ich hätte vor den meisten Dingen zuviel Angst.“

    “Ich mag aber deine große Nase, sehr sogar“, neckte sie ihn ein wenig. Sie versuchte zwar, ernst zu bleiben, aber so ganz konnte sie das doch nicht. Dennoch sollte sie etwas mehr aufpassen, beschloss Penelope, und setzte sich etwas gerader hin.
    “Dann kommst du mit dem Lernen gut voran? Das ist gut. Ich meine, die letzten Wochen warst du ja auch immer viel bei Inhapy und… diesem ägyptischen Arzt….wie war sein Name doch gleich? Irgendwas mit Nefer am Anfang. Da hast du ja auch schon viel immer gelernt. Meinst du, du kannst dich dann bald prüfen lassen?“
    Wenn er wieder mehr Zeit übrig hätte und abends auch nicht müde und erschöpft fast ins Bett fallen würde, hätte Pelo sicher nichts dagegen. Sie hatte dann schon fast immer Mitleid mit ihm. Denn sie war abends noch ziemlich energiegeladen und wirbelte herum und erzählte und erzählte. Aber zu Musizieren war eben auf andere Art und Weise anstrengend, da hatte sie am Abend noch die Kraft, viel mit ihm zu reden.

    “Nun, du wolltest ja noch Arzt werden, neben dem Agoranomos und dem Sport und dem Malen.“ Penelope neckte ihn ein wenig. Sie fand es ja durchaus sehr schön, einen so fleißigen und vielinteressierten Mann zu haben. Aber seine Zeit wurde dadurch wirklich langsam sehr knapp. Und wenn das Kind kommen würde, würde sie ihn auch noch ein wenig brauchen in der Anfangszeit.
    “Du musst ja nicht unbedingt noch Philosoph werden. Aber für den Fall, dass du einmal nicht weißt, was du tun sollst, würde es dem Gott wahrscheinlich gefallen, wenn du deine große Nase in eines seiner Bücher in der Bibliothek steckst. Das heißt, wenn ich dich dann nicht sofort in Beschlag nehme.“

    Da musste Penelope kurz überlegen. An und für sich klang die Frage ja recht einfahc, aber was unterschied den Dienst an Apollo gegenüber einem Dienst an einem anderen Gott? Eigentlich nichts, zumindest hätte Penelope da keine großen Unterschiede in ihrer Verehrung gemacht. Allerdings hatte sie schon immer den Herrn des silbernen Bogens verehrt.
    “Nun… Apollo ist ja auch Gott der Heilkunst. Daher solltest du natürlich seiner Gedenken, wenn du deine Arbeit verrichtest. Und als Gott der schönen Künste musst du natürlich dich auch entsprechend verhalten. Aber da hab ich bei dir keine Sorge, du wirst schon nicht dich wie ein Barbar auf der Straße prügeln.“
    Sie schenkte ihm ein schelmisches Lächeln. Fürs Prügeln ging er ja ins Gymnasion. Auch wenn er es Training nannte. Und sie hatte sein blaues Auge noch nicht vergessen.
    “Und da er ja auch das Wissen und die schönen Künste liebt, solltest du versuchen, dich dahingehend zu engagieren. Aber du hast ja auch die Zografia und malst, ich denke also, dass das dem Gott gefällt. Und Philosophie kannst du ja auch, da kannst du dich vielleicht noch ein wenig fortbilden. Aber du kennst ja vieles schon.
    Man darf nur nicht hochmütig werden. Wie sagte Sokrates so schön? Ich weiß, dass ich nichts weiß. Daher musst du immer versuchen, dein Wissen zu mehren, denn im Grunde wissen wir alle nichts.“

    Jetzt sah Penelope noch einmal über den Rosengarten hinweg. Was gab es denn noch?
    “Wie man ihm opfert und was er mag, weißt du?“ Es war mehr eine rhetorische Frage, aber was sollte sie ihm sonst noch erzählen?

    Lange musste Ánthimos nicht warten. Penelope fand es schade, dass sich so wenig Leute für Musik wirklich interessierten, und hatte daher eine Menge Zeit, anderes zu tun. Natürlich unterhielt sie sich auch mit Kollegen über Musiktheorie und die perfekten Zusammenklänge der verschiedenen Tetrachorde. Aber im groben und ganzen hatte sie doch viel Zeit.
    Daher kam sie schon freudig über die Ablenkung zu Anthi hinübergeschlendert. Hier im Rosengarten war es wirklich hübsch, und solange das Wetter hielt, konnte man sich hier gut aufhalten. Im Winter gab es manchmal plötzliche Gewitter und heftige Niederschläge, aber dazwischen war es fast so warm wie sonst auch immer. Und momentan war es noch sonnig.
    Penelope verzichtete auf den Begrüßungskuss und lächelte Ánthimos nur strahlend an. Er wusste ja so gut wie sie selbst, dass man hier im Museion nie so wirklich allein war, und sie wollte keinen Tratsch unter den Kollegen. Ein wenig sittsame Zurückhaltung war im Haus des Gottes der schönen Künste und der Heilkraft durchaus angebracht. Und ihr Mann war ja kein Tölpel und würde das sicher verstehen.
    Sie setzte sich also neben ihm auf die Bank und strahlte ihn freudig an. Wie von selbst ging ihre Hand dabei kurz zu ihrem Bauch. Sie wusste, sie musste sich diese Geste abgewöhnen, aber wann immer sie sich setzte, berührte sie dabei kurz mit der Hand ihren Bauch, der langsam begann, eine ganz kleine Wölbung zu bilden. Aber noch war dies von ihrer Kleidung gut verdeckt.
    “Ich soll dir also etwas über Apollo und die Musen beibringen? Hast du denn Fragen?“
    Penelope hatte wirklich keine Ahnung, wo sie da anfangen sollte. Immerhin war Anthi ja auch Grieche und Apollo nicht gerade ein unbekannter Gott. Sie hatte keine Ahnung, was sie ihm da überhaupt noch beibringen konnte.

    “Ich sollte dich verhauen.“ Und gespielt bekam er auch einen kleinen Boxer vor die Brust. “Sowas vor mir zu verheimlichen. Und dann auch noch mehrere Tage lang! Ich sollte dir ja fast schon böse sein.“
    Ihr Kuss verriet aber deutlich, dass sie es nicht war. Aber zunächst einmal wollte sie sich mit ihm alles ansehen. Und das hieß wirklich, dass Anthimos in jedes einzelne Zimmer geschleift wurde und Penelope jeden einzelnen Raum genauestens begutachtete, was sich alles geändert hatte. Und natürlich alles Ánthimos erzählte. Vermutlich würde er sein Amt als Agoranomos die nächste Zeit als sehr erholsam empfinden, denn sich soviel anhören und dabei soviel laufen würde er selbst dort nicht müssen.

    Jetzt zitterte Penelope richtig. Sie drehte sich zu Ánthimos um und umarmte ihn, drückte ihn ganz fest an sich. Sie freute sich so sehr. So lange hatte sie darauf gehofft, wieder hier zu wohnen, und jetzt war es wirklich wahr. Sie weinte vor Freude, und küsste ihren Mann immer wieder.
    Es dauerte eine ganze Weile – und einen ordentlich lauten Freudenschrei - bis sie sich wieder gefangen hatte. Sie löste sich ganz leicht von Anthi, wischte sich die Tränen von den Augen, und sah sich um. Teile sahen anders aus, aber es war immer noch das Haus.
    “Hier hat Großvater früher manchmal gespielt. Aber nur vor Leuten, die ihm egal waren, weil hier ist der klang nicht so gut. Da hinten geht es zum Musikzimmer. Wenn er da gespielt hat, dann war es, als ob Orpheus spielt. Ich… ist es noch da? Und der Garten? Und früher standen hier überall kleine Statuen von Schwänen.“
    Kurzerhand wurde Anthi einfach gezogen, als Penelope anfing, zu erzählen, und zu zeigen.
    “Und da hinten geht es nach oben. Da war auch mein Kinderzimmer, mit Sternen an der Decke. Und… oh, Anthi, das ist so wundervoll.“
    Kurzerhand fiel sie ihm noch einmal um den Hals

    “Aber wie…“, fing Penelope an. Damals hatte ihr Großvater gewaltige Schulden gehabt, und das Haus hatte verkauft werden müssen, um sie zu bezahlen. Daher wusste Penelope, auch wenn sie damals noch jung gewesen war, dass es viel Geld wert war. Und sie war sich ziemlich sicher, dass sie zwar, obwohl sie sparsam waren, soviel Geld bestimmt nicht hatten.
    “Ich meine… das ist doch… ich meine, das Geld… und…“ Noch immer war Penelope viel zu perplex, als dass die Freude wirklich nach außen treten konnte. Sie hatte so lange davon geträumt, wieder hier in diesem Haus zu sein. So lange hatte sie es sich gewünscht und gehofft, aber nie in der Ahnung, dass es wirklich wahr werden könnte. Das war so viel! Sie merkte, dass sie vor lauter Anspannung und aufkeimender Freude zitterte.

    Inzwischen kannte Penelope ja schon Ànthimos und seine Überraschungen, also ließ sie sich auch gerne von ihm entführen. Doch der Weg, den sie einschlugen, erschien ihr doch etwas seltsam. Zwar hatte sie die Augen verbunden, aber dennoch merkte sie von den Geräuschen und den Pflastersteinen unter ihren Füßen, dass es in Richtung des Museions ging und nicht in Richtung Hafen wie bei der letzten Überraschung.
    Dann Bogen sie ab, und Penelope versuchte, sich irgendwie vorzustellen, wo sie waren. Es kam ihr so vertraut vor auf seltsame Art und Weise, aber doch war sie sich nicht bewusst, wo es hin ging. Schließlich gingen sie in ein Haus. Sie hörte die Türe und das hallen ihrer Sandalen auf dem Fußboden. Ihr Herz schlug schneller. Dieser Ort war ihr vertraut. Auch wenn sie ihn nicht sah, sie kannte diesen Platz.
    Sie stand einfach nur da und bekam eine Gänsehaut. Sie traute sich gar nicht, die Binde um ihre Augen abzunehmen. Was, wenn sie sich irrte und dann enttäuscht war? Oder schlimmer: Was, wenn sie recht hatte?
    Sie stand also eine ganze Weile einfach da und hörte nur ihren Atem und Anthis. Erst dann nahm sie ganz vorsichtig und langsam ihre Hände zu der Binde und schob sie sich von den Augen. Sie blinzelte wegen der Helligkeit, die hier im Andron herrschte. Sie zitterte ein wenig, als sie leicht den Kopf wandte und sich umsah. Es sah ein wenig anders aus. Nein, es sah sogar ziemlich anders aus. Und doch war alles noch immer so vertraut und so bekannt.
    Penelope wollte etwas sagen, aber es kam nichts heraus. Nur ein Stoß zitternden Atems kam hervor, fast ein Keuchen, als sie sich umsah. Das war das Haus ihres Großvaters, da war sie ganz sicher. Aber warum hatte Anthi sie hierher gebracht? Sie ahnte die Antwort, aber das konnte nicht stimmen. So reich waren sie nicht.
    “Das… ist Großvaters altes Haus?“ Fragend sah sie zu ihrem Geliebten hinüber. Überrascht war nicht mal annähernd das passende Wort für Pelos Empfindungen.