Callista kämpfte unter dem Schleier mit den Freudentränen, die ihr am liebsten über die Wangen gerollt wären. Doch sie wollte nicht riskieren, dass er in ein verheultes Gesicht blickte, wenn der Schleier endlich gelüftet wurde und biss sich daher fest auf die Lippe, kein Mucks kam unter dem Schleier hervor. Dennoch geschah eine Menge in Callista, deren Herz immer schneller schlug je mehr Versprechen Marsus machte. Und sie galten ihr! Nicht den Göttern, nicht den Familien, die ihr ganz eigenes Interesse an dieser Verbindung hatten, nein, ihr persönlich. Ihr ganz allein! Am Anfang, als sie ihn kennenlernte, hatte sie Zweifel gehabt, ob er ebenso zu dieser Ehe gezwungen wurde wie sie. Sie hatte sich viele Gedanken darüber gemacht, ob er sie wirklich heiraten wollte. Ob er sie mochte, ob er sie hübsch fand, ob er sich darauf freute mit ihr den Rest seines Lebens zu verbringen. Alle diese Gedanken und Zweifel wurden nun aber nebensächlich, so sehr beeindruckte der Germane den prudentischen Rotschopf. Sie war solche Liebesbekundungen nicht gewöhnt und war froh, dass der Schleier noch etwas Schutz bot. Ihre Hände wechselten von kalt nach heiß nach kalt, von klamm nach schwitzig und wieder zurück und sie drückte jedesmal seine Hände, wenn er die ihren drückte. Ganz unwillkürlich trat sie einen kleinen Schritt näher zu ihm und sah in seine wachen, braunen Augen. Er liebte sie! Ja, das tat er. Callistas Herz setzte aus, sie fühlte das genau, und schlug dann mit doppelter Geschwindigkeit weiter, während ein heiss-kalter Schauer durch ihren Körper rieselte. Wie Gänsehaut. Nur schlimmer. Er liebte sie!
Und dann war es plötzlich an ihr etwas zu sagen. Er blickte sie erwartungsvoll an und auch etwas besorgt, hatte er denn Angst, sie würde nicht so empfinden? Sie hatte in der vergangenen Nacht noch lange überlegt, hatte sich Notizen gemacht, hatte versucht ihre kleine Rede auswendig zu lernen. Und nun erinnerte sie sich an gar nichts. Kein Wort! Kein Versprechen! Keine germanischen Floskeln, mit denen sie ihn und seine Familie beeindrucken wollte. Langsam ließ sie ihre Lippe los, in der das Blut schnell die weiße Druckstelle überdeckte und räusperte sich leise. Jetzt würde sie improvisieren müssen…
"Hier und jetzt stehe ich vor dir, Witjon Evaxson, aus dem Geschlecht der Duccier. Ein Mann von Ehre, Kraft und Weisheit, der mir zum Mann gegeben wird. Ich bin Prudentia Callista, einzige Tochter von Marcus Prudentius Felix und Patuleia Pulchra."
Das war der erste Teil, sozusagen die Einleitung. Wo man kurz sagte, wer man war und woher man kam. Obwohl das ja eigentlich eh alle wußten. Callista hoffte er würde bemerken, dass sie seinen germanischen Namen und nicht seinen römischen benutzt hatte. Erst auf Landos und Elfledas Hochzeit hatte ihr Arbjon, Duccius Eburnus, erklärt, dass sie alle noch einen germanischen Namen hatten und diesen auch viel mehr verwendeten als den römischen. Und diese Sitte wollte sie nun auch übernehmen.
"Hier und jetzt willige ich in diese Ehe mit Freuden ein, nicht nur als Symbol der Eintracht unserer Familien, als Unterpfand der Freundschaft zwischen ihnen. Ich willige mit Freuden ein in die Ehe mit dir, Witjon, dessen aufrichtige Liebe mich ehrt und glücklich macht. Eine gute Ehefrau werde ich sein, dich lieben und unterstützen, die Mutter deiner Kinder sein, die Frau an deiner Seite. Ich schwöre hier vor allen und vor dir, dir auf ewig die Treue zu halten. Weder Krankheit, noch Armut, noch Schmerz oder ein anderer Mann werden mich weichen lassen und ich will dir unablässig eine starke Frau sein, dir helfen, dich unterstützen, dich umsorgen und pflegen, dein Leben mit dir teilen."
Callista machte eine kurze Pause und stockte. Sie hatte alles Wichtige gesagt. Hatte sie doch, oder? Ja, hatte sie. Obwohl es viel kürzer war als das, was Marsus gesagt hatte. Sie drückte seine warmen Hände und dachte daran, wie sie nach diesen gegriffen hatte um ihn zu trösten. Damals, bei ihrem ersten Treffen, als er ihr von Aquilia berichtet hatte. Es kam ihr vor, als läge diese Begegnung schon Jahrzehnte zurück. Soviel war passiert, soviel hatte sie gesehen und gelernt. Und sie glaubte nicht, dass die nächste Zeit ruhiger werden würde.
Bedenken hatte die junge Römerin keine, auch keine Angst vor den kleinen und großen Kulturunterschieden, von denen sie mit der Zeit wohl noch mehr kennenlernen würde. Auch dachte sie nicht an ihr Junggesellenleben, trauerte nicht einer Freiheit nach, die sie eh nicht gehabt hatte. Nur kurz, ganz kurz, dachte sie daran wie traurig sie war, dass ihre Eltern nicht hier waren.
"Das schwöre ich, Prudentia Callista, unter Zeugnis der Götter, der Ahnen und der um uns versammelten Menschen, ich liebe Dich und es gibt auf der ganzen Welt keinen Mann, den ich lieber heiraten würde, Witjon."
Mochte das von ihr gesagte für germanische Verhältnisse vielleicht kurz sein oder schnörkellos, vielleicht sogar einfallslos, sie selbst empfand es als weltbewegend. Als groß und wahr und rein und wichtig. Sie mochte Marsus, hatte ihn vom ersten Augenblick an gerne um sich gehabt und wollte ihn wirklich gerne heiraten. Und das sollten auch alle wissen. Vor allem er sollte es wissen.