Wo ist der Meroer? Als Lycidas von der Anmeldung zurückkehrt, kann er die grosse schwarze Gestalt nicht mehr ausmachen. Erschrocken sieht Lycidas sich um. Mit einem Schlag wandelt sich die Szene. Alles gewinnt eine bedrohliche Dimension. Der Obsthändler, der lauthals seine Waren anpreist, kommt auf ihn zu. Aufdringlich. Immer näher. Fast scheint er Lycidas etwas tun zu wollen. Oder möchte er ihm nur Melonen verkaufen? Lycidas flieht vor den grellen Worten, den wirbenden Händen. Festgäste streben dem Stadion zu. Eine breite Schulter stösst den sublimen Jüngling achtlos zur Seite. Lycidas taumelt. Seine Knie sind weich als er rasch weitergeht. Auf der Suche nach seinem Beschützer.
Schließlich erblickt er ihn. Weit weg. Am Ende der Straße. Lycidas rennt ihm nach. Fasst ihn am Ärmel. Der Meroer bleibt stehen. Dreht sich um. Ärger blitzt in den schwarzen Augen. Menschen umdrängen die beiden. Menschen allenthalben. Ein Meer von Menschen. Gewächse der See. Schimmernde Tentakel wiegen sich im Wellengang. Träumerische Tiefe.
Verstört zeigt Lycidas in Richtung des Odeions. Der Meroer schüttelt den Kopf. Lycidas versteht nicht. Er lässt sich beiseite nehmen, von den großen schwarzen Händen. In dem Eingang zu einem Hof, im Schatten kühler Ziegelmauern, sagt der Meroer:
„Ich komme nicht mit.“
Er spricht Koine. Ein kehliger Akzent. Eine tiefe ruhige Stimme. Sonst hat er selten einen Laut von sich gegeben. Lycidas wusste nicht, das der Schwarze diese Sprache beherrscht. Niemand wusste davon.
„Ich gehe fort.“
Die Furcht wächst. Beherrscht Lycidas als er heftig den Kopf schüttelt. Weitet die dämmerblauen Augen zu starrem Schrecken.
„Das solltest du auch tun.“
Niemals. Niemals! Lycidas will nicht enden wie Sabef.
„Gestern hörte ich, wie Claudius mit einem späten Besucher sprach. Einem Iatros.“
Was ist dabei? Seit der Krankheit des Herrn wimmelt die Villa von Ärzten. Auch gestern war einer bei ihm. Lycidas hörte davon. Hat ihn aber nicht gesehen. Seit der Entdeckung des Makels hat der Herr Lycidas nicht mehr zu rufen lassen.
„Kalte Augen. Dieser Mann hat den Bösen Blick. Sie besprachen, wem von uns er die Stimme nehmen soll. Ich stand dabei. Brachte Wein. Sie sprachen offen. Ahnten nicht, dass ich verstand. Bis auf den Verwalter und zwei andere wollen sie alle neuen Sklaven verstummen lassen. Wie Saiten. Im…“
Der Meroer fasst sich an den Hals. Oberhalb des eisernen Rings. An den Kehlkopf fasst er. Lycidas ist blass geworden. Er kennt diesen Iatros.
“Hier. Wie Saiten, die schwingen, sagte der Iatros. Wie bei deiner Lyra. Er wird sie zerschneiden. Ist es das, was sie auch mit dir gemacht haben?“
Ein abgehacktes Senken des Kopfes. Ja, das ist es was sie mit Lycidas gemacht haben. Der Iatros und der Herr, der ihm den Auftrag gab. Lycidas hasst diese beiden von ganzem Herzen. Ein reines Gefühl. Klar und schneidend. Zudem hat er ein wenig Mitleid mit dem Meroer. Und mit den beiden schönen Ägypterfrauen. Doch Lycidas weiß dass er nichts ändern kann. Sie werden es überstehen. Der Iatros versteht sein Handwerk. Er kam früher regelmässig auf die Insel. Nur sehr wenige starben bei oder in Folge der verstümmelnden Prozedur.
Der Meroer scheint zur Flucht entschlossen. Das ist Wahnsinn. Er wird sterben wie Sabef. Und der Herr wird wütend auf Lycidas sein, der die Flucht nicht vereiteln konnte. Aus den Augenwinkeln späht Lycidas nach Hilfe. Nach Stadtwächtern, die den Meroer festhalten können.
„Sie sprachen auch von dir, Lycidas. Der Iatros soll verhindern, dass Deine Schönheit vergeht. Indem er verhindert, dass du zum Mann reifst. Mit dem Messer. Ein Eunuch soll aus dir werden.“
Kein Arg ist in der Stimme des Meroers. Kein Trug. Lycidas wird von einem Schwindel erfasst. Ringt nach Atem. Ihm wird schwarz vor Augen. Er findet sich auf den staubigen Boden niedergesunken.
Der Meroer hockt vor ihm. Er hat ihm die Geldbörse abgenommen und teilt die Münzen in zwei gleichgroße Anteile. Zwei kleine Türme.
„Für dich. Und für mich. Nutze die Gelegenheit, Lycidas, und tue es mir gleich.“
Verzweifelt fasst Lycidas die Hand des Meroers. Klammert sich fest. Zeigt auf sich, auf den Meroer, dann gen Süden. Nimm mich mit! Der Schwarze schüttelt den Kopf.
„Nein. Alleine komme ich schneller vorwärts.“
Fassungslos sieht Lycidas einen der Münztürme in dem Gewand des Meroers verschwinden. Der Schwarze legt sich den Überwurf um die Schultern, dergestalt dass er den Sklavenring verdeckt. Erhebt sich.
Sein „Viel Glück.“ scheint noch in der Luft zu schweben, als Lycidas langsam wieder auf die Füße kommt. Der Meroer ist fort. Im wogenden Gedränge spurlos verschwunden.