Beiträge von Lycidas

    Ein warmes Bad. Mit gespreizten Fingern streicht Lycidas durch das klare Wasser hindurch. Er legt seinen Chiton ab und steigt in das Becken. Lehnt den Kopf zurück und genießt die Wärme, die ihn durchflutet. Die ungeheure Anspannung der letzten Tage. Sie löst sich ein wenig. Noch immer liegt die Zukunft wie ein hungriges Raubtier vor ihm. Lauernd. Doch diese schöne Villa ist eine Zuflucht. Lycidas weiß zwar nicht wie ihm geschieht. Doch zweifellos hat ein hilfreicher Gott seine Finger im Spiel gehabt, als er Lycidas auf den großmütigen jungen Herrn treffen ließ. Am Strand. Lycidas kennt noch nicht mal dessen Namen. Der beleibte Handlanger stellt allerdings eine Gefahr da. Eine von zahlreichen. Lycidas ist froh, dass der junge Herr den Mann fortgeschickt hat. Übers Meer.


    Feiner Dampf steigt von der Wasseroberfläche auf. Mit beiden Händen schöpft Lycidas Wasser. Lässt es über sein Gesicht fließen. Sieht scheu auf, als die Haushälterin eintritt. Sie wirkt freundlich. Gütig. Nimmt Lycidas' Chiton und legt ihm dafür ein Handtuch bereit. Dazu eine weiße Tunika. Bietet ihm ausserdem eine Masssage an. Schnell schüttelt Lycidas den Kopf. Er lehnt sich fester zurück. Drückt den Rücken gegen die glatte Wand des Beckens. Bis die Frau ihm seinen Willen lässt. Erneut ist er alleine im Balneum. Lycidas wäscht sich gründlich. Auch das Haar. Sorgenvoll betastet er seine Wange. Am Haaransatz. Der Makel. Er ist noch immer da. Der Ursprung seiner Verzweiflung.


    Die Unruhe lässt den jungen Sklaven nicht lange verweilen. Er erhebt sich, trocknet sich mit dem weichen Tuch. Rubbelt sein Haar. Strähnt es mit einem Kamm. Legt die frische Tunika an. Weiß und rein. Gleichwohl mutet sie ihn etwas schmucklos an.
    Den eigenen, zweifelhaften Schmuck möchte Lycidas gerne ablegen. Er greift nach dem Reif um seinen Hals. Eng schmiegt sich Gold und Aquamarin an die helle Haut. Dezent ist das claudische Wappen eingraviert. Im Nacken befindet sich ein kleines Schloss. Lycidas' Finger umfassen den Reif, graben sich dabei in seinen Hals. Er versucht ihn aufzubiegen. Das Gold verbirgt jedoch einen viel härteren Kern. Verbissen zieht und zerrt Lycidas an dem Reif herum. Doch er schnürt sich nur selbst die Luft ab.

    Eines ist es, sein Vertrauen dem freundlichen Fremden zu schenken. Etwas ganz anderes, mit dessen Begleitern zusammenzutreffen. Lycidas zuckt zusammen, als das harte Wort fällt: davongelaufen.
    Seinem Herr davongelaufen.
    Er errötet bis unter die Haarwurzeln. Schämt sich. Nur die dummen, die undankbaren, die schlechten Sklaven laufen ihren Herren davon. Lycidas will sich nicht zu diesem Pack zählen. Möchte es lieber so sehen, dass er... etwas länger ausbleibt. Sich noch immer bloß... verspätet hat. Auch wenn diese feinen Nuancen niemanden sonst interessieren werden.


    Äußerst unangenehm ist Lycidas der beleibte Mann. Mit dem spärlichen Haar. Leontichos. Zu forsch für einen Sklaven. Doch unterwürfig dem jungen Herrn gegenüber. Er mutmasst über Lycidas' Beweggründe. Hier bleibt der Sklave unbeteiligt. Reagiert nicht, als der schmierige Kerl ihn anspricht. Er blickt an ihm vorüber. Die Strandpromenade entlang. Als wäre er nicht nur stumm, sondern auch taub. Es ist zwar nicht schön für einen Lustsklaven gehalten zu werden. Aber auch nicht besonders ehrenrührig. Es ist ja keine Schande, den Herrschaften zu Willen zu sein.


    Der Wortwechsel spitzt sich zu. Sklavenhändler? Zuhälter?! In welche Gesellschaft ist Lycidas da geraten?!! Zu Tode erschrocken weicht er zurück, vor den groben Worten des Leontichos. Dessen Mißgunst und Geldgier umgibt ihn wie eine übelriechende Wolke. Einen weiteren Schritt tut Lycidas, um Abstand von dem jungen Herrn zu gewinnen. Als dieser so zornig wird. Nicht, dass es aus Versehen noch ihn trifft. Das Gewitter.
    Es entlädt sich auf Leontichos. Der kuscht. Scheinbar. Lycidas traut dem nicht. Er wird sich sehr vor dem Mann in acht nehmen müssen. Am besten wäre es wohl, sich bei nächster Gelegenheit wieder aus dem Staub zu machen. Aber was dann? Ganz alleine. In dieser fremden Welt. Was dann?! Mit einer Hand hält Lycidas den Riemen seines Lyrakastens. Er hält ihn so fest, dass die Knöchel ganz weiß sind.


    Achillas. Er soll Lycidas zur Villa bringen. Nur ungern verlässt Lycidas die Umgebung des mutigen jungen Herrn. Er fürchtet, Leontichos könnte ihn doch noch von seinen niedrigen Erwägungen überzeugen... Lycidas hofft inständig, dass der Edelmut dieses Herrn stärker ist. Sein Sinn für große Gesten. Für das Epische. Und Schöne. Diesen Sinn gilt es anzusprechen.
    Ehrfurchtsvoll verneigt Lycidas sich zum Abschied. Scheu greift er nun seinerseits nach der Hand des Aristoxenus. Neigt das güldene Haupt noch tiefer, und drückt mit weichen Lippen einen Kuss auf dessen Finger. Dankbar. Ergeben. Federleicht streift sein Haar das Handgelenk des anderen.
    Sogleich lässt der Sklave die Hand wieder los. Ein Lächeln von herzzerreißender Traurigkeit und zugleich zaghafter Hoffnung huscht über seine Züge. Bevor er sich abwendet und sich an des Achillas Fersen heftet.

    Die Worte sind niedergeschrieben. Sichtbar, lesbar, offen unter dem freien Himmel. Ungehörig erscheint es Lycidas, sich derart zu offenbaren. Einem Fremden sein Leid anzuvertrauen. Gefährlich zudem. Bang beobachtet er jede Regung des anderen. Ist gefasst darauf, die Sympathie augenblicklich schwinden zu sehen. Vielleicht wird der andere nun die Stadtwache rufen.
    Nichts dergleichen geschieht. Eine Hand streckt sich Lycidas entgegen. Der Jüngling glaubt zu träumen. Unversehens muss er eine Grenze überschritten haben... Lycidas wähnt sich in einem Märchen. In dem den Unschuldigen Hilfe zuteil wird. Edle Retter zur rechten Zeit kommen. Die Tyrannen an ihrer eigenen Grausamkeit verenden. Und alles am Ende gut ausgeht! Lycidas streckt eine schlanke Hand aus. Legt sie in die kraftvolle des Fremden. In einer fließenden Bewegung erhebt er sich.


    Einen neuen Herrn suchen? Dieser Gedanke ist Lycidas niemals in den Sinn gekommen. Er ist perplex. Seine Brauen wölben sich, in seinen Zügen steht die Konfusion. Die Herrschaft des Claudiers über seinen Besitz, und damit auch über Lycidas, schien dem Sklaven stets wie ein Naturgesetz. Wer sich dem entzieht, kann natürlicherweise nicht bestehen. Wie Sabef.
    Aber ist so etwas möglich...? Es ist ein brandneuer Gedanke. Blasphemisch. Aufregend. Und so leichthin ausgesprochen. Bewundernd blickt Lycidas dem Fremden ins Gesicht. Nun auf Augenhöhe. Dass er es wagt, solche Dinge zu äußern! Laut und freimütig. Ohne Zaudern und Zagen. Lycidas ist ein nachgiebiges Naturell. Der Fremde beeindruckt ihn ungemein. Nichts liegt näher, als sich seiner Führung zu überlassen. Lycidas nickt eifrig. Gerne will er etwas für ihn spielen.
    Lycidas bindet seine Sandalen. Nimmt den Lyrakasten auf. Mit einem Zipfel seines Chitons streicht er sachte den Sand ab, der noch daran haftet. Legt sich den Riemen über die Schulter. Sodann löscht er mit der Fußspitze die Worte aus, die er in den Sand geschrieben hat. Verwischt die Spur. Und folgt hoffnungsvoll dem Fremden.

    Blütenweiß ist das Tüchlein, mit dem Lycidas sich die Tränen fort - nicht etwa wischt, nein: - tupft. Verlegen wendet er das Gesicht ab und putzt sich die Nase. Doch der Fremde geht nicht weiter. Kniet sich sogar in den Sand. Spricht Lycidas an.
    Eine schöne Stimme. Warm. Wohlklingend. Melodisch. Eine Stimme, die man um sich haben, in die man sich einhüllen möchte. Friedsam dringt sie an Lycidas Ohren. Zuerst nur der Klang. Dann der Inhalt der Worte. Er wagt es – blickt wieder auf und sieht dem anderen ins Gesicht. Der Fremde ist schön. Edel das Antlitz. Ideal die Glieder. Gewiss ist er viel im Gymnasion. Durchdrungen von Leben. So wirkt er auf den jungen Lyder. Nun weiß Lycidas, dass Schönheit nicht immer Lauterkeit in sich birgt. Die schönste Frau, die er je gesehen hat, ist zugleich auch die grausamste. Die Schwester des Herrn. Blutgierig und geschmeidig. Wie ein Panther.


    Der Sklave zögert. Scheu. Verwundert über diese Fragen, über das – scheinbar – aufrichtige Interesse an seinem Wohl, das da hindurchscheint. Er blickt dem Fremden in die Augen. Wie die Stimme: warm. Kein Arg liegt darin. Vielleicht hat ein Gott ihn gesandt...? Eine leise Hoffnung keimt bei diesem Gedanken in Lycidas auf. Hermes – zum Dank für die Lobpreisung im Odeion! Oder Apollon – er wird es nicht zulassen, dass mit Lycidas auch all die Werke, die jener noch nicht geschaffen hat, dahinschwinden!
    Der Fremde fragt, ob er in Not sei. Ganz zaghaft senkt sich da Lycidas Kinn. Er deutet ein Nicken an. Not ist kein Ausdruck. Und als ihm gar Hilfe angeboten wird, werden seine Augen sofort wieder feucht. Dieses Mitgefühl lässt den Damm sofort wieder brechen. Erneut kullern dicke Tränen über die alabasternen Wangen des Flüchtigen.


    Neben den beiden Jünglingen, halbvergraben im Sand, liegt ein Stock. Treibholz, ausgebleicht, weiß wie Knochen. Still weinend nimmt Lycidas diesen Stock und beginnt, Buchstaben in den Sand zu ritzen. Am Rande des Ufersaumes, dort wo eine hohe Welle ihn benetzt hat, die kleineren jedoch nicht hinreichen. Ob der Erschütterung ist Lycidas' Handschrift heute bei weitem nicht so makellos wie sonst. Schnell schreibt er, mit großen Buchstaben, wie ein Schrei, auch neigen sich die Linien stark nach vorne, als wären auch sie Fliehende.


    Ich bin ein Sklave
    schreibt Lycidas in den Sand
    und mein Herr ist nicht gut zu mir.

    Es rauscht die Brandung. Lycidas wird vom Schluchzen geschüttelt. Seine Schultern zucken. Er presst die Hände aufs Gesicht. Tränen quellen seitlich hervor. Von Haus aus ist es ihm verboten zu weinen. Sein Herr liebt nicht die entstellten Gesichter. Die verquollenen Masken, die die Trauer hervorbringt. Heitere Gleichmut, anmutige Gelassenheit, das ist es was Lycidas zur Schau zu stellen hat. Stumm lächelnd. Stets schön. Eine Labsal. Inkarnation apollinischen Wirkens. Lichtblick in einer schmutzigen Welt. Das ist seine Bestimmung.


    Wie ein Krampf krümmt die Verzweiflung den Jüngling zusammen. Keine Spur von Harmonie. Kathartisch der Schmerz, der ihn übermannt hat. Roh und abgehackt quellen die Laute aus seiner verstümmelten Kehle. Der Wind von der See trägt sie mit sich fort. Desgleichen das Knirschen der Schritte, die sich nähern. Erst als der Reederssohn den Verzweifelten beinahe erreicht hat, schreckt Lycidas auf. Er wähnte sich alleine, nun starrt er wie ertappt, aus seiner kauernden Position, auf zu dem Fremden. Zielstrebig ist dessen Schritt.
    Vielleicht ist es sein Strand, und er will Lycidas vertreiben. Oder es ist ein Krimineller. Von denen es unzählige geben soll, in dieser Stadt. Einer, der ihn ausrauben will. Ihn dann an einen fetten Sklavenhändler verkaufen wird. Noch viel schlimmer: es könnte auch ein Handlanger des Herrn sein. Ein Sklavenjäger, der ihn auf die Insel zurückbringen soll.


    Lycidas bleibt das Schluchzen im Halse stecken. Furcht und Tränen verschleiern des Lyders dämmerblauen Blick. Er erwägt es, aufzuspringen und davonzulaufen – doch der Lyrakasten würde ihn verlangsamen. Und beim genaueren Hinsehen macht der Fremde auch nicht den Eindruck eines Räubers. Im Gegenteil, er scheint zu vornehmen Gesellschaft zu gehören. Viel älter als Lycidas scheint er auch nicht zu sein. Seine gepflegte Erscheinung macht Lycidas bewusst, dass er selbst nun schon seit zwei Tagen den selben Chiton trägt. Der silberbestickte Stoff des Festgewandes ist mittlerweile ganz zerknittert. Überhaupt, wie entsetzlich muß Lycidas in jenem Moment aussehen! Beschämt schlägt der Sklave die Augen nieder. Hofft, dass der Fremde beschließt ihn zu ignorieren. Mit einem leisen Schniefen greift Lycidas nach seinem Beutel. Nestelt daran. Kramt fahrig nach einem Taschentuch.

    Meerwärts verlangt es mich, ja zum Meere,
    Das fern dort ruhsam rollet in Hoheit.
    Nebelgebirge, lastende, tragend,
    Wandert es ewig sich selbst entgegen.
    ...
    Zum Meere verlangt mich, ja zum Meere,
    Das fern dort erhebet die kalte Stirne.
    Siehe, die Welt wirft darauf ihren Schatten
    Und spiegelt flüsternd hinab ihren Jammer.
    - B. Björnson



    Kieselsteine, glänzend von Feuchtigkeit. Weicher Sand. Bläulich blass das Morgenlicht. Mit blossen Füssen watet Lycidas durch das Wasser. Bis zum Knöchel reicht es ihm. Kühl. Er beugt sich hinab, hebt eine Muschel auf. Seine Fingerkuppen streichen über die makellose Glätte der Innenseite. Folgen den feinen Rillen auf der Wölbung des Gehäuses. Gischt netzt seine Waden. Endlos rollen die Wellen an das Ufer. Kraftvoller als an den Gestaden des Lacus Mareotis. Lycidas richtet sich auf. Der Wind fährt im ins Haar. Lässt es flattern. Die Muschel entgleitet seinen Händen. Er sieht auf das Meer. Wolken verschleiern den Horizont. Ein opalener Glanz im Osten zeigt die aufgehende Sonne an. Fischerbote. Möwen. Irgendwo jenseits des Meeres liegt Lydien.


    Es ist nur ein schmaler Streifen Strand. Bedrängt auf einer Seite vom Hafen. Auf der anderen von Häusern. Ein leckes Fischerboot liegt kieloben auf dem Sand. Ein Steifen verworrenen Seetanges säumt das Ufer. Langsam geht der Jüngling am Rande des Wassers entlang. Sein Herz ist schwer. Er weiß nicht weiter. Ungerührt fluten die Wellen an den Strand. Treiben die Wolken über den Himmel. Kreischen die Möwen, und balgen sich um einen toten Fisch. Die Sonne steigt höher. Die Welt nimmt keine Notiz von Lycidas Verhängnis. Es überwältigt ihn. Eiskalt die Furcht um sein Leben. Brennend der Hass auf alle, die ihm Böses getan haben! Vor allen anderen: der Claudier! Doch auch die Sprechenden. Die ihre Worte geistlos verschwenden. Nicht achtend der Kostbarkeit, die ihnen gegeben ist.
    Lycidas schluchzt auf. Häßliche, rohe Laute dringen aus seiner Kehle. Er sinkt auf den Sand, neben seinen Lyrakasten, und schlägt die Hände vors Gesicht. Weint bitterlich. Sein Jammer ist unendlich.



    Maßloses Erstaunen zeichnet sich auf Lycidas Zügen ab. Der Herr des Gasthauses nennt ihn beim Namen! Die Überraschung weicht dem Ansturm einer großen Freude. Man hat lobend von ihm gesprochen. Zum ersten Mal an diesem langen Tag lächelt der junge Musiker von Herzen – nicht nur weil ihm die Worte schmeicheln. Es ist der Gedanke, bisweilen mit der Lyra die Kluft überbrücken zu können, die ihn von der Welt der Sprechenden trennt, der Lycidas glücklich macht.
    Nur während eines kurzen Augenblickes tritt diese Freude offen zutage. Dann verschließt Lycidas sie in seinem Inneren wie einen geheimen Schatz.


    Er nickt. Ja, er ist hungring. Mit einem weiteren Neigen des Kopfes sucht er seinen Dank gegenüber dem Gastgeber auszudrücken. Folgt ihm still zum gewiesenen Platz, und hofft, dass der Schwarzbärtige ihn nicht für unhöflich hält. Zuerst löst Lycidas den Riemen des Lyrakastens, nimmt diesen vom Rücken und stellt ihn sacht neben sich auf der Bank ab. Sodann legt er sein Himation ab, und lässt sich nieder.
    Die Ehre, die der Herr ihm erweist, macht ihn beklommen. Was wenn der Mann Konversation betreiben will? Was wenn er erkennt, dass sein Gast ein Sklave ist? Der geschlossene Reif, den Lycidas um den Hals trägt, ist von funkelndem Gold und Aquamarin, und kann gut als Schmuck gelten, doch man weiß nie. Gerade die vermeintliche Jovialität des Mannes macht Lycidas nervös. Er hat die Erfahrung gemacht, dass dies allzuschnell ins Gegenteil umschlagen kann. Lycidas versichert sich selbst, dass er, was seinen Stand angeht, nicht gelogen hat. Es hat ihn nur niemand danach gefragt! Doch er fühlt sich als Hochstapler. Lieber als dieser Ehrenplatz wäre ihm ein Schemel in der Ecke. Fernab der Blicke und des Interesses.


    Verlegen streicht er sich das Haar hinters Ohr. Sitzt mit kerzengeradem Rücken. Die Hände gefaltet. Kurz huscht sein Blick zum Gastgeber, dann über die Gäste hinweg. Haftet auf einem ungeschlachten Athleten, welcher Lycidas überaus abstossend dünkt. Muskelbepackt ist der Torso. Platt die Nase. Verquollen die Ohren. Wie Kohl. Der Mann trinkt Wein und brüstet sich gegenüber seinen Gefährten mit seiner Leistung beim Pankration. So häßlich! So grob. Lycidas schaudert. Auf der Insel befand er sich nahezu ausschließlich in Gesellschaft schöner Menschen. Und lediglich die Grausamkeiten seines Herrn störten die ästhetische Ausgewogenheit der Umgebung. Einen Moment lang sehnt der verzärtelte Jüngling sich schmerzlich zurück. Hier in der Außenwelt gibt es so viel Unschönes. Selbst in diesem noblen Gästehaus. Pikiert sieht er wie der Athlet sich beim Trinken mit Wein befleckt. Als der Mann den Kopf in seine Richtung wendet, schlägt Lycidas schnell die Augen nieder.
    Eine Dienerin stellt eine Platte mit exquisiten Vorspeisen auf den Tisch. Der Duft ist verführerisch. Lycidas läuft das Wasser im Mund zusammen. Doch er wagt es nicht zuzugreifen.

    Zitat

    Original von Cleonymus
    Während Lycos den hof durchschreitet hört er ein Klopfen vom Haupttor und späht irritiert hinüber, eigenartig eigentlich sollte es offen sein, der Herr hatte verlangt das es zu den Spielen Tag und Nacht offen stand damit die Athlethen nicht plötzlich dachten sie seien nicht länger willkommen.
    Also überquert der junge Grieche in der schweren Hoplitenrüstung schnell den Hof und öffnet die Tür. Vor ihm ein junger hagerer Mann, er wirkt etwas ängstlich doch die Tafel in seiner Hand sagt: "Willkommener Gast" ...


    "Chaire, herzlich willkommen im Kapeleion Archaon, mein Name ist Lycos ich bin hier der Nachtwächter sei also unbesorgt! Mein Herr empfängt dich sicherlich in der Haupthalle, so wie die anderen Athleten und Künstler!"


    weiterhin freundlich lächelnd tritt der junge Grieche zur Seite und macht den Weg frei für den Künstler der irgendwie etwas eigenartig zu sein scheint, wenn gleich das auch nicht ungewöhnlich ist für die meisten Künstler ...



    Welch ein Schreck. Lycidas weicht zurück. Reißt die Augen auf. Schnappt nach Luft. Etwas schummrig wird ihm ausserdem. Blass sein Gesicht. Er sucht nach etwas um sich daran fest zu halten, stützt sich am Torbogen. Starrt voll Furcht auf den Krieger, der direkt der Sage entsprungen scheint. Gefährlich sieht er aus. Die freundlichen Worte dringen nur langsam zu Lycidas vor. Sein Herz pocht heftig.
    Doch es ist nur der Nachtwächter. Lycidas ärgert sich über seine eigene Schreckhaftigkeit!
    Noch immer misstrauisch setzt der junge Lyder einen Fuß über die Schwelle. Lycos? So ähnlich dem Klang des eigenen Namen. Das nimmt Lycidas als gutes Omen. Der andere Fuß folgt. Höflich neigt Lycidas den Kopf vor dem Wächter. Als Dank. Erwidert angespannt das Lächeln.


    Leichten Schrittes überquert er den Hof. Betritt das Hauptgebäude. Helle Lichter. Viele Stimmen. Durchschwirren den Raum. Eine verwirrende Vielfalt von Akzenten dringt an Lycidas Ohren. Einige der Gäste erkennt er wieder. Vom Wettstreit. Zögerlich macht Lycidas drei Schritte in den Raum hinein. Verharrt, das linke Bein als Standbein, das Spielbein in anmutiger Verschämtheit nur leicht angehoben. Eine Frau mit Wein und Bechern eilt an ihn vorüber. Köstlich ist der Duft der Speisen. Lässt Lycidas Magen knurren. Ein disharmonisches Geräusch.
    Mit den Augen sucht der Jüngling auszumachen, wer hier das Sagen hat. Als erfahrener Sklave fällt es ihm nicht schwer, die feinen Signale der Hierarchie zu erkennen und zu deuten. Der große Schwarzbärtige scheint der Herr dieses Gasthauses zu sein.
    Unaufdringlich tritt Lycidas näher. Das Steintäfelchen noch immer in den Händen. Er will nicht stören. Wartet einen Augenblick ab, in dem der Herr disponiert erscheint. Sodann tritt er vor ihn, und verneigt sich respektvoll. Erweist dem Gastgeber anmutig seine Referenz.

    Dämmerung hat sich über die Stadt gelegt. Ihr Antlitz verfremdet. Dunkle Schatten. Seltsame Geräusche. Bedrohliche Schemen. Lycidas zieht das Himation eng um die Schultern. Es ist ein heller Fleck im diffusen Abendlicht. Lycidas weiß nicht wohin. Er ist müde. Hat sich tagsüber beim Musikerwettstreit verausgabt. Hungrig. Durstig. Er wagt es nicht, auf die Insel zurückzukehren. In den Händen hält er das Steintäfelchen, welches man ihm bei der Anmeldung zum Wettkampf gab. Er hält es wie einen Talisman. Fest.


    Die Fenster des Gasthauses sind erleuchtet. Drinnen wird es hell und behaglich sein. Lycidas war noch niemals alleine in einem Gasthaus. Er kennt nicht die dort üblichen Gebräuche. Kann man einfach so eintreten? Muss man reden? Treibt sich Gesindel dort herum? Aber draussen ist es sicherlich noch gefährlicher. Nachts in den Strassen von Alexandria. Alleine.


    Furchtsam wirft er einen Blick über die Schulter. Rückt den Riemen des Lyrakastens zurecht. Darauf nähert er sich zaghaft dem Eingangstor des Kapeleion. Pocht mit den Fingerknöcheln gegen das Holz. Harrt angespannt der Dinge, die da kommen. Fluchtbereit.

    Die Augenblicke sind verstrichen. In welchen die Augen auf Lycidas gerichtet waren. Langsam geht der junge Sklave einen der Gänge des Odeion entlang, der zu den oberen Sitzreihen führt. Verharrt an einer Fensteröffnung. Durch die man hinaus auf die Stadt blicken kann. Die schnurgeraden Strassen des Broucheion. Der Hafen. Unzählige Schiffe. Blitzblau das Meer.
    Lycidas weiß nicht, auf welche Weise dieser Wettkampf abläuft. Ob noch weitere Vorträge folgen.
    Wann wohl die Preisrichter ihre Entscheidung fällen werden?


    Mit seinem Auftritt ist Lycidas nicht zufrieden. Er ist es nie. Das grausame Rätsel um die Schönheit, welches er einfangen wollte, welches er in Klänge gefasst dem Publikum ausliefern wollte, es ist zu schwer zu greifen… Und womöglich hat er den komischen Aspekt der Schildkröte etwas übertrieben... Die großen Künstler der hellenischen Welt zu hören, es war beflügelnd. Ein großes Privileg. Und es hat Lycidas aufgezeigt, was er alles noch zu lernen hat. Falls ihm die Zeit bleibt.
    Ein leeres Gefühl ist zurückgeblieben. Nach dem Auftritt. Wie ausgehöhlt. Immer ist es ein: sich preisgeben. Die anderen teilhaben lassen am selbst. Zu viele Menschen. Sanft setzt Lycidas den Lyrakasten neben sich ab. Stützt die Ellenbogen auf den breiten Rahmen des Fensters. Sein Blick geht nach Norden. Verloren. Im Süden liegt der Lacus Marotis. Dort wartet noch immer der Claudier. Wartet der Iatros. Mit seinen Messern. Eine kalte Hand liegt Lycidas im Nacken.

    „Die Musik drückt das aus, was nicht gesagt werden kann
    und worüber zu schweigen unmöglich ist.“
    -Victor Hugo


    Die Wange an die geschlossene Hand geschmiegt. Einen Fuß in der weißen Sandale vor den anderen gestellt. Lycidas lauscht den Darbietungen der anderen Künstler. Lässt sich von ihren Hymnen in die ferne Vorzeit entführen. In fremde Länder mitnehmen. Auf den Olymp erheben.
    Getreu seines Auftrages achtet er besonders darauf, welcher Stil seinem Herrn zusagen würde. Vermerkt in seinem Geist die Namen und Eigenheiten der Sänger. Obgleich Lycidas nicht weiß ob er zu dem Claudier zurückkehren wird.
    Zuletzt führt die Reise bis in den Hades. Lycidas hebt den Kopf und heftet den Blick auf die Philolaos-Enkelin, die den Hermes Psychopompos preist. Betrachtet sie ehrerbietig. Und melancholisch. Unmerklich atmet er tiefer. Zieht die warme Luft des Sommertages durch seine Nasenflügel. Als würde er die Musik in sich hineintrinken. Die schöne Dame erinnert ihn ein wenig an seine Mutter. Die ihm zum ersten Mal eine Lyra in die Hand gab. Der Hymnos trifft auf ein bewegtes Herz. Wer wird sich einst - oder bald - an Lycidas erinnern? Wer wird seinem Schatten ein Opfer bringen? Die dämmerblauen Augen werden wässrig. Tränen ziehen schimmernde Spuren auf den elfenbeinernen Wangen. Als die Kitharödin geendet hat, muss der Jüngling sich besinnen. Rasch fahren die Fingerspitzen über das Gesicht. Tilgen die Spur der Tränen. Sodann applaudiert er lange und ergriffen.


    Die Reihe kommt an Lycidas. Leichten Schrittes tritt er in die Orchestra. Die Haltung, die Bewegung der Knie, das Aufsetzen der schmalen Füße sind von Grazie und einer noch kindlichen Verschämtheit zugleich. Im Gehen schlägt er die Augen nieder. Mit einer Kopfwendung zu den Rängen. Öffnet sie wieder und umfängt die Menge der Menschen mit weichem, vollem Blick. Hohe Herren. Edle Damen. Fern und fremd wie die bunten Fische, die in einem Zierteich ihre Runden ziehen. Sie berühren ihn nicht. Doch ihr Urteil ist wichtig. Vielleicht könnte es ihn retten! Dies ist der Moment, in dem die Nervosität den jungen Lyder ergreift. Ein Beben huscht über die klaren Züge. An den schlanken Händen zeichnen sich Knöchel und Sehnen ab. Mit einem Mal scheint der verborgene Makel Lycidas unübersehbar. Obgleich die Zuschauer viel zu weit entfernt sind, um diesen konstatieren zu können. Lycidas neigt den Kopf ein wenig zur Seite. Sein halblanges Haar schwingt, legt sich weich über Schläfe und Wange. Verdeckt den Makel. Schimmert gülden, im Farbspiel mit dem Aquamarin seines Halsreifs, mit den feinsilbernen Akzenten des Chiton. Den goldenen Intarsien der Lyra.


    Einer der Preisrichter verkündet: “Lykidas von Sardis. Er spielt: Hermes und die Schildkröte!“


    Inmitten des Rundes verharrt Lycidas. Auf einem Bein ruhend, den anderen Fuß auf die Zehenspitzen gestellt, wendet er sich anmutig spannungsvoll den Ehrenplätzen zu. Verneigt sich. Ohne sie zu sehen. Der Blick verschleiert. Die Züge erfüllt von holdem Ernst. Zärtlich umfasst er die geschwungenen Arme seiner Lyra. Und stimmt ein eigentümliches Lied an. Ganz leise zuerst. Leicht wie die Flügel eines Schmetterlings liebkosen seine Finger die Seiten. Entlocken ihnen eine verspielte Melodie. Wandelbar, quecksilbrig entströmen die Töne unter seinen Händen, verbinden sich, fügen sich zu einem kapriziösen Thema – der junge Hermes. Das göttliche Kind. Neugierde. Das Forschende. Virtuos beschreibt die Lyra das Staunen des Gottes, als er sich zum ersten Mal aus der Höhle wagt, in der seine Mutter ihn zur Welt brachte. Ein kurzes Zaudern, Zurückweichen. Die Verlockung der Ferne. Der Übermut entwischt zu sein.
    Ein jeder kennt den Mythos. Die Lyra wird Stimme, Lycidas‘ Körper Teil des Instrumentes. Auf seine Weise betet er zu Hermes, dem Beredsamen, dem Vielgestaltigen, dem die Zungen der Opfertiere gebühren.


    Ein anderes Thema klingt an. Dieses ist bedächtig und schwer. Weise und bisweilen drollig. Die Schildkröte. Hermes begegnet der Schildkröte. Die Melodien nähern sich an, umweben sich. Dann schlägt das Staunen um, wandelt sich mit einem Mal zur Drohung. Eine gedankenlose Grausamkeit. Schmerzlich. Roh. Wie ein Schrei erklingt es von den Saiten, als der junge Gott das weise Tier mit einem spitzen Stein erschlägt. Den Panzer entfleischt.
    Ein Schweißtropfen rinnt über Lycidas klare Stirn. Eine Strähne klebt, sich krausend, an der feinen Schläfe. Er hat viel darüber nachgesonnen. Dass Schönheit aus Zerstörung entspringt. Dass die Musik mit einem Mord begann. Ein Geheimnis in der allbekannten Fabel. Ein Rätsel, welches er mit jugendlicher Unbedingtheit aufzeigt.


    Der Panzer der Schildkröte wird zum Resonanzkörper der Lyra, welche Hermes mit sieben Saiten bespannt, und der kleine Sklave Lycidas wird zu Hermes, der den Klangkörper entdeckt, die Töne zusammenfügt, spielerisch und mit der unschuldigen Freude des Entdeckers. Es wandelt sich das kapriziöse Hermes-Thema, schwillt an und wird zu dem ersten Lied des Gottes: dem Hymnos auf die Liebe seines Vaters Zeus und seiner Mutter Maia. Immer höher schwingen sich die Klänge. Empor. Streben zu den Sternen, umkreisen sich wie Himmelskörper, umwerben und verweben sich zu einem lichten Klanggewölbe. Ekstatische Lobpreisung des zeugenden Eros.
    Ein Sehnen brennt in Lycidas‘ Brust. Die Ahnung von etwas Unsagbarem. Schön wäre es, aufzugehen in dieser Musik. Zu vergehen mit den Tönen, die er nun sanft verklingen lässt. Doch er steht noch immer in der Orchestra. Wieder irdisch. Und erschöpft. Der Jüngling streicht sich eine feuchtgeschwitzte Strähne zurück. Tief verneigt er sich vor den Zuhörern. Und verlässt die Orchestra.

    Was nun? Lycidas klopft sich den Staub der Straße ab. Gründlich. Bindet die Börse wieder an seinem Gürtel fest. Vergewissert sich, dass er das Steintäfelchen, welches er zuvor erhalten hat, noch bei sich trägt. Bringt die kleinen Dinge in Ordnung. Wie gut, dass seine Lyra gepolstert in ihrem Kasten liegt. Ihr ist nichts passiert.
    Was tun? Er ist allein inmitten unzähliger Menschen. Und was er niemals in Betracht zu ziehen wagte, scheint mit einem Mal unvermeidbar. Flucht. Nein. Fliehen ist Irrsinn. Lycidas Kopf ist wie leergefegt. Er weiß nur noch eines, doch das sehr genau: Nie wieder wird er sich jenem Iatros ausliefern. Dessen Messer an sich herum schneiden lassen. Nimmermehr.


    Doch Fliehen?


    Wahnwitz. Ausgeschlossen. Die Welt ist zu gefährlich. Der Herr zu grausam. Lycidas zu ängstlich.


    Und wenn der Meroer gelogen hat?!


    Doch warum sollte er?


    Und wenn er sich verhört hat?


    Doch was er erzählte, klingt ganz typisch für den Herrn.


    Und wenn es Lycidas gelänge, den Claudier umzustimmen?


    Doch wie?


    Und wenn Lycidas einen Fürsprecher fände? Besser: eine Fürsprecherin. Noch viel besser: eine schöne Fürsprecherin.


    Doch wo? Die Parzen haben ihm ein böses Schicksal gesponnen. Lycidas ist ratlos. Weiß nicht weiter. Will dies alles nicht wahrhaben. Er legt die Arme um den Lyrakasten. Trostsuchend. Und schlägt, in Ermangelung eines Auswegs, einen bekannten Weg ein. Den zum Odeion. Bald wird der musische Wettstreit beginnen.

    Dumpfbrausend wie des Meeres Wogen;
    Von Menschen wimmelnd, wächst der Bau
    In weiter stets geschweiftem Bogen
    Hinauf bis in des Himmels Blau.
    - Schiller, Kraniche des Ibykus


    Bescheiden hält der Jüngling sich am Rande der Szene. Verneigt sich ehrerbietig vor der edlen Philolaos-Enkelin. Penelope.
    Darauf lässt er sich auf einem kleinen Mauervorsprung nieder. Wirft unter halbgesenkten Wimpern einen Blick in die Runde. Viele Eindrücke bestürmen ihn. Zu viele. Es scheint vermessen, hier anzutreten. Doch ein viel größerer Schrecken überschattet diesen Tag. So gewaltig, dass das Lampenfieber dagegen kaum ins Gewicht fällt. Im Besitz der claudischen Geschwister hat Lycidas gelernt, in Angesicht entsetzlicher Dinge heiteren Gleichmut zur Schau zu stellen. Milde Gelassenheit. Ein anmutiges beinahe-Lächeln liegt auf den zarten Zügen des Jünglings, als er den Kasten öffnet, in dem er seine Lyra verwahrt.
    Licht fällt auf den mattschimmernden Corpus, die geschwungenen Arme. Helles Zedernholz mit feingoldenen Intarsien. Orpheus ist dort zu sehen. In Miniatur. Szenen der Sage. Die Lyra war ein Geschenk seines Herrn. Ist eine Erinnerung an die Zeit, als Lycidas noch hoch in seiner Gunst stand.
    Sonnenstrahlen tanzen über die sieben Saiten, als Lycidas das Instrument auf seine Knie hebt. Zärtlich schlägt er eine Saite an. Neigt den Kopf zur Seite. Lauscht. Beginnt seine Lyra zu stimmen. Feinste Klangnuancen zu justieren.

    Wo ist der Meroer? Als Lycidas von der Anmeldung zurückkehrt, kann er die grosse schwarze Gestalt nicht mehr ausmachen. Erschrocken sieht Lycidas sich um. Mit einem Schlag wandelt sich die Szene. Alles gewinnt eine bedrohliche Dimension. Der Obsthändler, der lauthals seine Waren anpreist, kommt auf ihn zu. Aufdringlich. Immer näher. Fast scheint er Lycidas etwas tun zu wollen. Oder möchte er ihm nur Melonen verkaufen? Lycidas flieht vor den grellen Worten, den wirbenden Händen. Festgäste streben dem Stadion zu. Eine breite Schulter stösst den sublimen Jüngling achtlos zur Seite. Lycidas taumelt. Seine Knie sind weich als er rasch weitergeht. Auf der Suche nach seinem Beschützer.


    Schließlich erblickt er ihn. Weit weg. Am Ende der Straße. Lycidas rennt ihm nach. Fasst ihn am Ärmel. Der Meroer bleibt stehen. Dreht sich um. Ärger blitzt in den schwarzen Augen. Menschen umdrängen die beiden. Menschen allenthalben. Ein Meer von Menschen. Gewächse der See. Schimmernde Tentakel wiegen sich im Wellengang. Träumerische Tiefe.
    Verstört zeigt Lycidas in Richtung des Odeions. Der Meroer schüttelt den Kopf. Lycidas versteht nicht. Er lässt sich beiseite nehmen, von den großen schwarzen Händen. In dem Eingang zu einem Hof, im Schatten kühler Ziegelmauern, sagt der Meroer:


    „Ich komme nicht mit.“


    Er spricht Koine. Ein kehliger Akzent. Eine tiefe ruhige Stimme. Sonst hat er selten einen Laut von sich gegeben. Lycidas wusste nicht, das der Schwarze diese Sprache beherrscht. Niemand wusste davon.


    „Ich gehe fort.“


    Die Furcht wächst. Beherrscht Lycidas als er heftig den Kopf schüttelt. Weitet die dämmerblauen Augen zu starrem Schrecken.


    „Das solltest du auch tun.“


    Niemals. Niemals! Lycidas will nicht enden wie Sabef.


    „Gestern hörte ich, wie Claudius mit einem späten Besucher sprach. Einem Iatros.“


    Was ist dabei? Seit der Krankheit des Herrn wimmelt die Villa von Ärzten. Auch gestern war einer bei ihm. Lycidas hörte davon. Hat ihn aber nicht gesehen. Seit der Entdeckung des Makels hat der Herr Lycidas nicht mehr zu rufen lassen.


    „Kalte Augen. Dieser Mann hat den Bösen Blick. Sie besprachen, wem von uns er die Stimme nehmen soll. Ich stand dabei. Brachte Wein. Sie sprachen offen. Ahnten nicht, dass ich verstand. Bis auf den Verwalter und zwei andere wollen sie alle neuen Sklaven verstummen lassen. Wie Saiten. Im…“


    Der Meroer fasst sich an den Hals. Oberhalb des eisernen Rings. An den Kehlkopf fasst er. Lycidas ist blass geworden. Er kennt diesen Iatros.


    “Hier. Wie Saiten, die schwingen, sagte der Iatros. Wie bei deiner Lyra. Er wird sie zerschneiden. Ist es das, was sie auch mit dir gemacht haben?“


    Ein abgehacktes Senken des Kopfes. Ja, das ist es was sie mit Lycidas gemacht haben. Der Iatros und der Herr, der ihm den Auftrag gab. Lycidas hasst diese beiden von ganzem Herzen. Ein reines Gefühl. Klar und schneidend. Zudem hat er ein wenig Mitleid mit dem Meroer. Und mit den beiden schönen Ägypterfrauen. Doch Lycidas weiß dass er nichts ändern kann. Sie werden es überstehen. Der Iatros versteht sein Handwerk. Er kam früher regelmässig auf die Insel. Nur sehr wenige starben bei oder in Folge der verstümmelnden Prozedur.
    Der Meroer scheint zur Flucht entschlossen. Das ist Wahnsinn. Er wird sterben wie Sabef. Und der Herr wird wütend auf Lycidas sein, der die Flucht nicht vereiteln konnte. Aus den Augenwinkeln späht Lycidas nach Hilfe. Nach Stadtwächtern, die den Meroer festhalten können.


    „Sie sprachen auch von dir, Lycidas. Der Iatros soll verhindern, dass Deine Schönheit vergeht. Indem er verhindert, dass du zum Mann reifst. Mit dem Messer. Ein Eunuch soll aus dir werden.“


    Kein Arg ist in der Stimme des Meroers. Kein Trug. Lycidas wird von einem Schwindel erfasst. Ringt nach Atem. Ihm wird schwarz vor Augen. Er findet sich auf den staubigen Boden niedergesunken.
    Der Meroer hockt vor ihm. Er hat ihm die Geldbörse abgenommen und teilt die Münzen in zwei gleichgroße Anteile. Zwei kleine Türme.


    „Für dich. Und für mich. Nutze die Gelegenheit, Lycidas, und tue es mir gleich.“


    Verzweifelt fasst Lycidas die Hand des Meroers. Klammert sich fest. Zeigt auf sich, auf den Meroer, dann gen Süden. Nimm mich mit! Der Schwarze schüttelt den Kopf.


    „Nein. Alleine komme ich schneller vorwärts.“


    Fassungslos sieht Lycidas einen der Münztürme in dem Gewand des Meroers verschwinden. Der Schwarze legt sich den Überwurf um die Schultern, dergestalt dass er den Sklavenring verdeckt. Erhebt sich.


    Sein „Viel Glück.“ scheint noch in der Luft zu schweben, als Lycidas langsam wieder auf die Füße kommt. Der Meroer ist fort. Im wogenden Gedränge spurlos verschwunden.

    Eine jede Entscheidung zieht eine weitere nach sich. So viel Verantwortung - so viel falsch zu machen. Zaghaft blickt Lycidas den Grammateus an, wird ermutigt durch dessen freundliches Lächeln. Lycidas ist für seinen Auftrag reichlich mit Geld ausgestattet worden. Aber wenn er die Drachmen für Essen und Unterkunft sparen könnte… könnte er sie für sich behalten… heimlich!
    Der junge Sklave dünkt sich sehr kühn, als er nickt, und seine Antwort in schöngeschwungenen Lettern in das Wachs der Tabula ritzt:
    Besten Dank. Ich nehme dieses Angebot gerne an.

    Die Festivitäten sind nicht zu verfehlen. Auf den letzten Stadien des Weges lässt sich Lycidas nur mehr im Strom der Menge treiben. Ein buntes Menschengemisch. Reiche, die ihre Leiber in kostbare Stoffe gehüllt haben. Satte Bürger. Hohläugige Arme. Sie riechen sauer. Widerliche Ausdünstungen gehen von ihnen aus. Lycidas hält den Atem an als er ihnen begegnet. Alle wollen zum Fest. So viele Menschen. Zu viele Menschen. Lycidas wäre verloren ohne den Meroer.


    Sie sind ein seltsames Paar. Hell und geschmeidig die Glieder des Jünglings, gülden sein Haar. An seiner Seite, ihn um zwei Köpfe überragend der massige Schatten, schwarz wie Ebenholz. Lycidas ist in fliessende Elfenbein- und Silberfarben gewandet. An seinem Hals schimmert das Halsband von Gold und Aquamarin. Der Meroer in schlichtem Dunkelblau. Grobe Fäuste. Der Ring um seinen Hals ist aus Eisen. Er lässt sich nicht als Schmuck missdeuten.


    Schweigend begleitet der Schwarze den Jungen, bahnt ihm wenn nötig den Weg. Vom Rande des Platzes aus verfolgen sie die ferne Opferhandlung. Distanziert ist Lycidas. All diese Menschen sind ihm vollkommen fremd. Er nimmt nicht mehr Anteil an ihrem Schicksal als wenn sie alle Seeanemonen wären. Sie sind fremdartig. Er kann sie beobachten aber nicht anfassen. Keine Worte mit ihnen austauschen. Real ist ihm nur das Raunen, welches sich erhebt als das Opfer sein Ende gefunden hat… die Erleichterung der Masse, das Klatschen welches den Platz überrollt. Da verspürt Lycidas eine Gänsehaut auf seinen Unterarmen. Es ergreift ihn und zögerlich klatscht er mit den anderen.


    Die Masse ist wieder in Bewegung geraten. Als würden Ströme von Treibsand ineinanderfließen, wechseln sie ihre Positionen. Lycidas findet sich auf der Straße vor der Palästra wieder. Und sieht sich einer Versuchung ausgesetzt. Eine Schlange. Von Menschen, die sich vor einem Tisch aufgereiht haben. Dahinter sitzt ein Mann von offiziellem Äußeren. Manche der Wartenden tragen Musikinstrumente. Andere Masken. Laut wird verkündet: hier muss man sich anmelden, um seine Kunst mit anderen zu messen.


    Lycidas bleibt stehen. Sieht länger hin. Sieht wieder weg. Sieht auf zu dem Meroer. Dessen Miene wirkt stumpf. Undurchschaubar. Hilft ihm keineswegs bei der schweren Entscheidung. Gedankenvoll berührt Lycidas den Lyrakasten. Er trägt ihn an einem Riemen über der Schulter.
    Der Herr hat es nicht verboten. Schüchtern tut Lycidas einen Schritt auf die Schlange zu. Aber er hat es auch nicht befohlen. Lycidas verharrt erneut. Er kann nicht mehr singen und wird es niemals wieder können. Die Sänger werden über ihn spotten. Aber seine Lyra kann ihm Stimme sein.
    Und die Freien werden sich nicht mit einem Sklaven messen wollen. Lycidas weicht wieder zurück. Entsinnt sich jedoch, dass der Sklave eines Claudiers weit mehr wert ist als ein dahergelaufener Freier. Aber was wenn es den Herrn erzürnt?


    Die freie Entscheidung, die hier zu treffen ist überfordert den jungen Lyder bei weitem.
    Zaghaft legen sich die schlanken Finger an die Wange. Die rechte Wange. Die mit dem Makel. Sachkundig hat Lycidas Kosmetika aufgetragen um das Übel zu vertuschen. Man sieht kaum etwas. Aber Lycidas weiß dass es noch immer da ist. Dass es in der Tiefe brodelt. Talgig hervorbrechen will aus seiner zarten Haut. Hässlich. Dass es nur darauf lauert, ihn zu entstellen. Ihn endgültig seiner Position zu berauben.


    Vielleicht ist dies hier ein Weg, die Gunst des Herrn zurückzugewinnen. Durch ein gutes Abschneiden. Tief holt Lycidas Atem. Und trifft eine seiner allermutigsten Entscheidungen! Mit einer Geste bedeutet er dem Meroer zu warten. Sodann tritt er auf den Tisch des Grammateos zu. Um sich anzumelden.

    Ein heftiger Kampf liegt hinter Lycidas. Den er allein in seinem Inneren ausgefochten hat. Nun tritt er zaghaft vor den Grammateos. Er lächelt schüchtern und deutet auf seine Lyra. Auf der Wachstafel, die man ihm aushändigt vermerkt er in bildschöner Handschrift:


    ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
    Anmeldeformular Künstler
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    Name: Lykidas aus Sardis


    Regio: Aegyptus


    Polis: Alexandria


    Disziplinen: Lyraspiel


    Unterkunft: /


    Verpflegung: /

    Die rosenfingrige Eos gab der Villa den Namen. Zu Recht. Dem Morgen zugewandt bieten die vorderen Terrassen einen splendiden Ausblick auf den Sonnenaufgang. Der erste Tag des Neujahrsagon rötet den Horizont. Schräge Strahlen überhauchen die Säulen. Liebkosen die Statuen mit ihrem klaren Glanz.


    Lycidas schlägt den Weg zum Bootssteg ein. Angetan mit einem elfenbeinfarbenen Chiton und einem silberbestickten Himation welches er eng um die Schultern gezogen hat. Schweren Schrittes folgt ihm sein Leibwächter. Wieder ist es der große dunkle Meroer.
    Der Sand knirscht leise. Hohl hallen die Bohlen des Steges. Wellen klatschen gegen die muschelbewachsenen Balken. Die Sklaven steigen in einen kleinen Nachen. Der Meroer löst das Tau. Ergreift die Ruder. Stößt sich vom Steg ab und steuert das Boot mit kräftigen Zügen auf den See hinaus.


    Lycidas sitzt am Bug. Den Kasten mit der Lyra auf den Knien. Schwer zu fassen, welche Farbe das Wasser zu dieser Stunde hat. Die Töne changieren je nach dem Blickwinkel. Der Tiefe. Der Bewegung der Wellen. Weindunkel. Rosé. Perlmuttfarben.
    Er sieht zurück zur Insel. Die Palmen am Ufersaum zeichnen sich scharf gegen den Himmel ab. Schön und stolz thront das Anwesen inmitten der Gärten. Der Mamor glüht im Morgenlicht. Märchenhaft. Verführerisch. Ein Paradies. Scheint dort zu liegen. Immer kleiner wird die Insel. Entschwindet im gleißenden Spiel des Lichts auf dem Spiegel des Sees.


    Der Nachen nähert sich Alexandria. Dem lärmenden Treiben des Portus Mareotis. Dort legt der Meroer an. Vertäut das Boot. Hilft Lycidas an Land. Der junge Lyder ordnet den Fall seines Chiton. Sieht misstrauisch zu den rauen Gestalten der Hafenarbeiter. Sodann begibt er sich zaudernd in sein Abenteuer. Schlägt mit klopfendem Herzen den Weg gen Broucheion ein.

    "Ach wie bald, ach, wie bald,
    schwindet Schönheit und Gestalt."
    - Wilhelm Hauff, Reiters Morgengesang


    Lycidas Idyll währt nicht mehr lange. Das Befinden des Herrn hat sich gebessert. Er lässt den Sklaven zu sich rufen. In seinem Schlafgemach ruht der Claudier auf einem opulenten Himmelbett. Weiche Kissen stützen den Kranken in eine halbsitzende Position. Sattrote Seide. Sie lässt das fahle Gesicht noch farbloser erscheinen. Durch die Lamellen der Fensterläden fallen schmale Lichtstrahlen.
    Zwei Frauen sind um den Herrn. Ranke Ägypterinnen. Neu erworbene Schmuckstücke. Sie pflegen den Herrn, und sie tragen dabei sehr wenig Stoff am Leib. Goldglanz auf der samtigen Haut. Die Brüste bloß, um die Hüften halbdurchscheinende Tücher geschlungen. Lycidas hat ein seltsames Gefühl wenn er sie ansieht. Seit neuestem verwirren ihn solche Aussichten. Schnell schlägt er die Augen nieder. Um den Claudier nicht zu reizen. Cethegus‘ Stimme ist trocken. Unduldsam.


    “Servus, mir ist zu Ohren gekommen, dass sie in einigen Tagen in der Stadt das Neujahrsagon feiern. Mit einem Wettstreit der Sänger und Kitharöden. Du wirst dir das anhören, und mir danach genau berichten. Ich muss wissen, wer der größte… muss wissen wer nach dem Niedergang des Philolaos der allergrößte Künstler von Alexandria ist.“


    Nach Alexandria. Das erschreckt den jungen Sklaven erst einmal. Doch ein Wettstreit der Sänger könnte ihm gefallen. Ihm neue Inspiration verschaffen. Unterwürfig neigt er das Haupt. Cethegus winkt ihn näher.


    “Spiel für mich.“


    Anmutig sinkt der Lyder auf einen Schemel zu Seiten des Bettes. Umfasst zärtlich die Lyra und beginnt eines der Lieder zu spielen, die er in den letzten Monaten erdacht hat. Es spricht vom Wind, der aus der Ferne kommt. Über den See streicht. Im Schilf raschelt. Welke Blätter mit sich fort trägt. Vorsichtig späht Lycidas nach dem Ausdruck im Gesicht des Herrn. Der hat sich zurückgelehnt, scheint die Klänge zu genießen. Eine der Frauen fächert ihm mit einem Pfauenwedel Luft zu. Die andere massiert ihm die Schläfen mit einem duftenden Öl. Beruhigt spielt der Sklave weiter. Versinkt selbst in seiner Musik. Träumt.


    Bis eine magere Hand hart sein Kinn umfasst. Erschrocken vergreift er sich. Ein Missklang. Die Melodie bricht ab. Ohne sich zu regen sieht Lycidas zum Herrn auf. Hält still wie ein Kaninchen. Schrecken in den weitgeöffneten Augen. Er ist sich keiner Schuld bewusst.


    “Was ist das?!“


    Abscheu liegt in diesen Worten. Bestürzung. Die entfleischten Finger bohren sich schmerzhaft in Lycidas Gesicht. Drehen seinen Kopf hin und her. Der Herr zieht ihn näher heran. Begutachtet ihn wie ein Insekt. Dann verzieht sich seine Miene. Erschüttert. Die Lippen zucken angewidert. Und noch ein weiterer Ausdruck mischt sich hinein. Lycidas meint, dass es Furcht ist, die ihren Schatten auf das Antlitz des Herrn wirft.


    Das beleidigt mein Auge. Geh!“


    Ein Befehl wie ein Peitschenschlag. Der Sklave zuckt zusammen. Schmerzlich greift der Claudier sich an die Schläfen. Wendet sich ab. Sinkt erschöpft in die Kissen.
    Lycidas springt auf, die Lyra an sich gepresst, und stürzt aus dem Schlafgemach. Aufgewühlt flieht er in seine eigene Kammer. Was ist es, was den Unmut des Herrn geweckt hat?


    Ein Handspiegel hält die Antwort bereit. Lycidas tritt ans Fenster. Betrachtet forschend sein Spiegelbild. Und erblickt auf seiner rechten Wange eine Unreinheit. Einen Makel. Nahe dem Haaransatz hat sich die sonst so feine, glatte Haut gerötet. Winzige Pusteln sind dort erblüht. Die ersten Anzeichen des Verhängnisses: Akne.


    Mit namenlosem Schrecken muss Lycidas erkennen: nicht länger ist seine Schönheit vollkommen. Die Metamorphose des Älterwerdens hat ihn erfasst. Der schöne Knabe wandelt sich zum ungelenken Adoleszent. Befleckt ist die Perfektion. Verhöhnt die Vollkommenheit. Das wird der Herr niemals hinnehmen.
    Verzweifelt lässt der Sklave den Spiegel sinken. Seine Schultern beginnen zu zucken. Raue Laute dringen aus seiner verstümmelten Kehle. Lycidas weint bittere Tränen.