"So erklär ich euch im Angesicht der Götter und Sippen eurer Väter und Vätersväter zu Mann und Frau...", dröhnte die Stimme des Goden, der so nahe bei Alrik und dem Mädchen stehend schon seit geraumer Zeit beiden die Ohren klingeln ließ. Seit ebenso langer Zeit ließ Alrik das Prozedere mehr Schreckstarr als diszipliniert-gehorsam über sich ergehen, hörte nicht richtig zu und wünschte sich eigentlich einfach nur an einen ganz entfernten Ort. Weg von diesem Mädchen, die ebenso schreckstarr wie er neben ihm stand und das ihn bisher kein einziges Mal auch nur angesehen hatte! Nicht, dass Alrik sie bisher maßgeblich öfter angeblickt hatte... zwei mal hatte er bisher nur rübergeschielt um das blonde Geschöpft neben ihm verstohlen zu mustern, und was er sah mochte er nicht. 1. Sie war ein Mädchen 2. Sie war kein Junge 3. Sie war vom anderen Geschlecht. Das versprach höchst anstrengend zu werden, mal ganz davon abgesehen, dass Alrik immer noch nicht im geringsten verstand was hier überhaupt vor sich ging. Als er er sich während der Zeremonie hilfesuchend zu seinem Vater umgedreht hatte (dessen Zeugenschwur eine neue Höchstmarke an Lustlosigkeit gesetzt hatte), drehte dieser den Kopf seines Sohnes einfach wieder nach vorne.
Das, die vielen Worte und die Tatsache, dass ihm immernoch niemand wirklich erklärt hatte was er hier überhaupt sollte (die Erklärungen Lintrads warteten seit Monaten auf Verizifierung durch seinen Vater, welche nie kam) ließ seinen Kopf gehörig schwirren... und er musste gehörig an sich halten, um nicht loszuweinen. Seine Mutter hatte es ihm nicht nur einmal eingeprägt, und ihm zur Übung mehrere Ohrfeigen verpasst, bis er seinen Drang loszuheulen selbst niederkämpfen konnte. Auch von ihr.. keine Hilfe.
Umringt von den Menschen die er liebte fühlte er sich einfach nur verloren und allein.
Plötzlich war Stille, und als Alrik deshalb aus seinen Gedanken aufschreckte, bemerkte er, dass der dicke Gode mit dem schwarzen langen Bart ihn herausforderungsvoll anblickte. Alrik verstand nicht, auch die beiden Godeshilven blickten ihn an... aber immernoch ging ihm nicht auf, was er jetzt tun sollte. Zögerlich wandte er den Kopf zu seinem Vater, der im Festornat eines seit Jahren heruntergekommenen Helden den Eindruck längst vergangener Tage zu erhalten versuchte, aber auch dieser blickte ihn nur stumm und herausfordernd an. Ebenso seine Mutter, und alle um ihn herum... vor allem aber Heriman, Rich der Sippe des Mädchens und sein künftiger Schwiegervater.
"Du darfst die Braut nun küssen, Junge...", flüsterte irgendjemand ihm zu, aber wer genau war nicht auszumachen in dem menschlichen Wald aus starren Körpern und unfreundlichen Gesichtern um ihn herum. "Küss sie... das Mädchen, Junge", wiederholte jemand, und jetzt zum ersten Mal wandte Alrik seinen Kopf langsam zu dem Geschöpf, das dort die ganze Zeit neben ihm ausgeharrt hatte: mit für germanische Verhältnisse edlen Stoffen, Silber an Handgelenken und Hals und einem aus Frühlingsblumen geflochtenen Haarkranz machte sie im Vergleich zu Alrik einen absolut pompösen Eindruck... aber unter all dem Ornat blickte er auf ein ebenso eingeschüchtertes Gesicht wie er selbst wohl eins zur Schau trug. Godlindi, erinnerte er sich just in diesem Moment an ihrem Namen, war ein Pi mal Daumen ein bis drei Jahre älter als er selbst, und sie hatten sich bisher kein einziges Mal gesehen. Gelegenheit genug hatten sie gehabt, immerhin lagen die kleinen Siedlungen der Sippe nahe genug beieinander um innert eines Tages von einer zur anderen zu gelangen... aber sie hatten wohl beide die Pläne ihrer Väter so weit wie möglich von sich fortgeschoben und sich um Dinge gekümmert die ihnen eher lagen. Ihm fiel zum ersten Mal auf, dass sie strohblond war... und wohl das, was man als hässlich bezeichnete. Ihre Lippen waren klein und schmal, ihre Nase dafür groß und ihre Nasenlöcher noch größer.. und ihre Augen erinnerten ihn an die eines toten Fischs. Nein, Alrik mochte sie nicht. Ganz und gar nicht. Und er wollte sie auch nicht küssen.. da küsste er lieber das Maultier, das Gundraban einem römischen Händler abgenommen hatte.
Unweigerlich machte er einen Schritt nach hinten, was sogleich ein ungläubiges Raunen und Tuscheln durch die nicht unbeträchtliche Menschenmenge fahren ließ, und als er noch einen Schritt zurückmachen wollte, weil sich der Widerwille dieses Geschöpf zu küssen sich immer mehr in einer Art Ekel in ihm niedergeschlug, packte sein Vater ihn sogleich grob bei den Schultern und schob ihn unnachgiebig auf Godlindi zu... die ebenso wenig begeistert schien wie er selbst. Kurz vor ihr blockierten dann seine Beine mit den ledernen Schuhen die schon zum siebten Mal ausgebessert worden waren, und mit aller Macht stemmte er sich gegen diesen Kuss: "Ich will nicht... Vater, lass mich. Ich will sie nicht küssen... ich will das nicht." Dieser Protest sorgte für zweierlei Dinge: einerseits wandte Godlindi sich ebenfalls um und versuchte sich in der Flucht, andererseits wurde Alrik von irgendwem umgerissen und so unvermittelt geschlagen, dass er nicht einmal sah von wem jetzt seine linke Gesichtshälfte in eine brennende Hölle verwandelt wurde.
"KÜSS. DAS. MÄDCHEN.", zischte irgendeine Frau, und jetzt wo er sie hörte wusste Alrik auch, dass es eine Frau war die ihn geschlagen hatte. Wenn sein Vater ihn schlug, spürte Alrik eine ganze Weile erst einmal gar nichts mehr. Unvermittelt wurde er wieder umgerissen und in Richtung des Mädchens geschoben, das ebenso einfühlsam 'überzeugt' mit geröteten Augen und Schnott unter der Nase auf sein Kommen wartete.
Natürlich war Alrik in einer Gesellschaft aufgewachsen, die das eigene Aussuchen von Heiratspartnern als vollkommenen Unsinn betrachtete... aber in seiner kindlichen Vorstellung (und von den verklärenden Erzählungen seiner Eltern aus einem längst vergangenen Leben jenseits des Rhenus) hatte es doch etwas anders ausgesehen.
Als sein Vater ihm noch einmal möglichst unauffällig zwischen die Schulterblätter stieß, fiel sein Widerstand in sich zusammen und er bewegte seinen Kopf endlich in Richtung des Mädchens... die sich ein zaghaftes und sehr unechtes Lächeln abzwang.. sie hatte schiefe Zähne. Er schloss die Augen, warum wusste er auch nicht... wohl weil die Erwachsenen es auch ständig taten. Und um nicht zu sehen was er dort küsste, auch wenn Hässlichkeit ein Attribut war das in seinem Alter auf so ziemlich jedes Mädchen zutraf.
Der letztendliche Kuss dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, aber für Alrik war es lange genug um sich danach ausgiebig den Mund abzuwischen... was seiner Braut wohl genauso ging. Den Erwachsenen war es egal: hörbar machte sich Erleichterung breit, es war als würden einige deutlich aufatmen. Was folgte war der Austausch von Geschenken zur gegenseitigen Gunst, und Alrik überreichte Godlindi eine in Haselholz geschnitzte Version einer Frigg, während seine Braut ihm einen schweren Speer aus Eibe mit metallener Spitze aus Bronze und einen ebenfalls mit Bronzeapplikationen umfassten Schild überreichte, der Alrik noch bis zur Brust ging. Der Witz von irgendjemandem, dass Alrik dort noch hineinwachsen würde, zündete nicht... zu angespannt war die Situation noch. Erst als Alrik die Hand seiner Frau nahm und über ein eigens errichtetes Feuer sprang entlud sich die Anspannung in lautem Jubel.
Die Festlichkeiten danach zeigten Alrik, wie armselig er bisher gelebt hatte: es wurde mehr Essen aufgetischt als ihre gesamte Gruppe in einem Jahr zur Verfügung gehabt hatte. Man hatte sogar eigens ein Schwein geschlachtet! Sowieso: der Kontrast zwischen der Sippe Herimans und den Leuten die sein Vater anführte war überall erkennbar: an der ärmlichen Kleidung seiner Freunde und seiner Familie und der für seine Verhältnisse pompösen der Sippe seiner Frau. Die Geschenke die er und seine Leute der Sippe seines Schwiegervaters machen konnten, war ebenso wie sein Geschenk an seine Frau eher symbolischer Natur, während die Gegengeschenke klarmachten mit was für einer wohlhabenden und mächtigen Sippe sie sich hier eingelassen hatten.
Fast den ganzen Abend über ging das Feiern vollkommen am Brautpaar vorbei, das am Ende einer herrschaftlich hergerichteten Tafel still nebeneinander saß und sich den Abend vorüber wünschte, während um sie herum die Leute ausgelassen und fröhlich feierten. Die Sippe Herimans, weil man eine tragfähige Bande zu einer römischen Sippe geschlossen hatte, die Leute unter Leif, weil sie die Jahre des Elends vorüber und an eine Zukunft ohne Modorok glaubten. Alrik verstand von all dem nichts.. und ließ das meiste der Festspeise und Tränke daher unberührt, genauso wie seine Frau.
Da sie beide noch Kinder waren, legte niemand wirklich großen Wert darauf dem ersten Beischlaf der Brautleute beizuwohnen, und so waren es nur die Eltern die die Kinder in ihr gemeinsames Bett in einem nicht einmal symbolisch abgetrennten Bett im Haupthaus der Siedlung Herimans brachten, sie dort zum schlafen betteten und sich alsbald wieder zum Feiern verzogen. Nicht einmal dies konnte Leifs Gruppe sicher stellen: da seine Leute nichts besaßen, konnte Godlindi auch nicht in Alriks Bett überführt werden.. und so musste er unter dem Dach der Sippe seines Schwiegervaters schlafen.
Dies ging ihm erst auf, als seine Eltern ihn verließen... es würde das erste Mal sein, dass er nicht bei seinen Eltern schlief.. nicht einmal unter dem selben Dach. Der Gedanke wirkte erst unwirklich, dann machte er ihm einfach nur noch Angst. Seine Frau hatte direkt nach dem Verschwinden der Eltern angefangen wimmernd zu weinen, und Alrik verstand wieder einmal nicht warum... erst als ihm die Angst über die Nacht alleine unter fremdem Dach in die Magengrube kroch, begriff er, dass seine Frau nicht die einzige war, die sich in den Schlaf weinen würde.