Calvena war in ihrer Erzählung, anders als es Romana vermutet hätte, noch gar nicht fertig. Sie fuhr fort, zu erzählen, was ihr geschehen war, und Romana hörte zu, andächtig, aufmerksam, man konnte sehen, sie legte wirklich wert darauf, zu hören, was Calvena zu sagen hatte. Und abermals schaffte Calvena es, die junge Patrizierin zu erschüttern. Erst einmal war sie komplett still, sie hielt nur die Hände ihrer Freundin fest, während sie in die Luft starrte und versuchte, sich zu überlegen, was sie jetzt sagen sollte. Doch es kam nichts besseres raus als: „Oh, Calvena... es tut mir so Leid... so Leid...“ Sie wusste, dass auch eine Ziehfamilie für Menschen wie eine normale Familie waren. Sie stellte sich vor, wie es wäre, sähe sie ihren Vater, ihre Geschwister, ihre Cousins und Cousinen, geschlächtert am Boden. Es war schon so schwer gewesen, als damals ihre Mutter starb... Calvena hatte auf einen Schlag alles verloren. Es musste das Schrecklichste sein, was einem Menschen jemals passieren könnte. Vorsichtig hob Romana ihre rechte Hand und wischte die einzelne Träne, die Calvena über die Wange lief, behutsam weg. Sie entgegnete das tapfere Lächeln, welches ihr Calvena gab, mit einem warmen solchen.
Calvenas Stimme war so elend und heiser geworden, dass es Romana reute, dass sie keine Wasserflasche bei sich hatte. Doch, da half nichts. Immerhin beruhigte sich Calvena wieder. Und Romana beschloss, die arme Freundin zu umarmen, fest und herzlich. „Ach, Calvena! Ich danke den Göttern, dass sie mir nicht die selbe schwere Last auferlegt haben wie dir. Ich hätte dies nie überstanden. Ich bewundere dich dafür, dass du dies getan hast.“ Sie sprach die Wahrheit, sie wusste nicht, ob sie etwas Ähnliches überstanden hätte. Vielleicht schon. Oder aber auch nicht. Es war müßig, darüber nachzudenken. So konzentrierte sich Romana lieber aufs Jetzt. Und arauf, wie sie Calvena erzählen konnte, was geschehen ist, damals, in Clusium.
„Gut, wenn du es wissen willst, ich erzähle es dir. Ich habe bis vor Kurzem bei meinen Großeltern gelebt, in Clusium, das habe ich dir schon erzählt. Aber nicht, was der echte Grund war, wieso ich nach Rom gegangen bin.“ Sie holte tief Luft. „Meine Entscheidung, Vestalin zu werden, kam nicht von ungefähr. Nein. Vesta ist mir erschienen.“ Sie blickte sich unwillkürlich um, und fuhr dann fort. „Ich hatte eine Erscheinung ihrer selbst auf einem Feld nahe Clusium. Sie erschien mir, und sagte mir, ich müsse Vestalin werden. Es gäbe keinen anderen Weg für mich. Sie wolle, dass ich Vestalin werde, und ihr diene.“ Eindringlich blickte sie Calvena an. „Du glaubst mir doch, dass ich die Göttin gesehen habe? Du denkst doch nicht etwa, ich wäre verrückt und habe Halluzinationen gehabt?“ Es war ihr wichtig, Calvenas echte Meinung zu wissen.